Werden im Funktionsmodell auch die Bewertungs-Punkte (0–8), die sogenannten Qualifier vergeben?
Man kann, aber man muss keine Punkte verteilen. Die Codes halte ich in Bezug auf Stillschwierigkeiten tatsächlich erst einmal für nachrangig, denn letztere haben ja sehr unterschiedliche Ursachen. Die ICD-Diagnose selbst ist manchmal wenig aussagekräftig für das weitere Vorgehen. Es ist oft ein Mix aus Schwierigkeiten im körperfunktionellen und -strukturellen Bereich und im Kontext, in dem sich die Mutter und das Kind befinden. Diese Wechselwirkungen können im ICF-basierten Funktionsmodell besser beschrieben werden. In Bezug auf Stillen kommt hier ja auch hinzu, dass wir es als Fachleute mit mindestens zwei Personen zu tun haben, der Mutter und dem Kind. Sie bilden zwar eine Einheit, Stillprobleme können aber aus beiden Perspektiven betrachtet und beschrieben werden.
Wie kann eine Hebamme entscheiden, ob sie nun den Code mit Bewertungspunkt benutzt oder alles im Funktionsprofil eingibt?
Noch gibt es dazu keine weiteren Vorgaben. Oft helfen die umfassende Betrachtung und Bewertung in der Praxis wesentlich besser als die Kodierung.
Fällt dann nicht die angestrebte Vergleichbarkeit von Daten raus?
Das Funktionsprofil haben wir entwickelt, um die Nutzung der ICF zu erleichtern. Es ist nur ein Vorschlag. Im Funktionsprofil können Sie an den entsprechenden Stellen eintragen, was gerade bei der Frau oder dem Kind wichtig ist, beispielsweise unter Teilhabe: »Es gibt eine Babygruppe, in der sich die Frau sehr wohl fühlt.« Oder unter Körperfunkton: »Das Kind hat Schwierigkeiten mit dem Saugen«. Dazu benötigen Sie weder Codes noch Qualifier.
Wird der ICF-Katalog samt dem Funktionsmodell heute an den Hochschulen unterrichtet, so dass Studierende im Gesundheitssektor und auch im Hebammenwesen lernen, damit umzugehen?
Die Verbreitung der ICF an Hochschulen und Fachhochschulen steigt stetig an, das entwickelt sich, ist aber meines Wissens noch nicht überall etabliert.
Sie organisieren für Anwender:innen Konferenzen, es gibt auch Fortbildungen. Wo finden Hebammen geeignete Weiterbildungsangebote? Es wirkt wie eine große zusätzliche Arbeitsbelastung, sich mit diesen vielen Ziffern zu befassen.
Es gibt deutschlandweit Workshops, die interdisziplinär ausgerichtet sind, und solche, die berufsgruppenspezifisch organisiert sind. Das kann individuell stattfinden in Praxen, Vereinen, Instituten. Wir bieten auch Schulungen im Iris-Institut vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM). Dieses ist ein WHO-Kooperationszentrum und hat viele verschiedene Forschungsprojekte, in denen sich interdisziplinäre Teams mit einzelnen Aspekten der übergeordneten Themen Bildung und Gesundheit beschäftigen. Zahlreiche neue Codes begeistern erst einmal niemanden, aber die umfassendere Sicht auf die Gesundheit von Menschen schon. Und auch der Einbezug der Menschen, um deren Gesundheit es geht, und ihrer individuellen Lebenssituation, die interdisziplinäre Zusammenarbeit, die gleichberechtigte Bedeutung des Wissens der einzelnen Professionen. Auch Hebammen haben schon an Workshops teilgenommen.
Und wie viele Hebammen nutzen dies bereits? Haben Sie einen Überblick über die Einträge?
Nein, das weiß ich nicht.
Ich habe gelesen, dass es das Projekt ICF Train (> www.icf-training.eu) gibt, woran sechs EU-Länder beteiligt sind. Bis 2014 sollte ein unkompliziertes und benutzerfreundliches Online-Werkzeug entwickelt werden. Es sollte Fachleute sowie Eltern beim Verständnis der ICF-CY unterstützen und eine Übertragung in den Arbeitsalltag erleichtern. Was ist daraus geworden?
Das ist ein Forschungsprojekt von meinem Kollegen Manfred Pretis, das 2014 beendet wurde. Ich vermute, dass die Seite nicht weiterbearbeitet wird. Internetquellen sind manchmal veraltet und diese ist es. Leider bin ich als Ansprechpartnerin immer noch auf der Seite zu finden. Ich selbst habe keinen Zugriff darauf.
Ich dachte, Sie unterstützen auch Anwenderinnen bei der Nutzung der ICF? Wo gibt es denn Ersatz im Internet für Anwenderinnen, denn sonst ist es wirklich schwierig, das alles zu verstehen.
Das sehe ich anders. Ich persönlich halte es eigentlich für ein recht einfaches Modell, wenn man die Codes außenvorlässt und sich mit den Frauen, die man als Hebamme betreut, sowie den anderen betreuenden Fachkräften zusammensetzt und die besondere Situation sowie die Bedürfnisse der jeweiligen Familie mithilfe des Funktionsprofils gemeinsam bespricht.
Werden die Daten anschließend von der WHO zusammengeführt?
Noch werden sie nicht zusammengeführt. Es geht der WHO darum, besser zu verstehen, wie individuelle Umweltfaktoren Gesundheit beeinflussen, um daraus Schlüsse zu ziehen, wie Gesundheit weltweit verbessert werden kann.
Sie organisieren die jährlich stattfindende ICF-Anwenderkonferenz. Ich war 2018 in Hamburg dabei, als sich dort auch die Hamburger Baby-Lotsen »See-You« mit einem Projekt vorstellten. Sind auch dieses Jahr am 22. und 23. September relevante Themen für Hebammen dabei?
Die diesjährige Konferenz findet in Klagenfurt statt (> www.icf-anwendertage.at/). Themen können jederzeit vorgeschlagen werden. Mir selbst ist es immer ein Anliegen, den interdisziplinären Austausch zu fördern und die gemeinsame Sprache auch gemeinsam zu nutzen. Deshalb irritiert mich diese sehr häufig von verschiedenen Professionen gestellte Frage immer ein wenig. Das sehe ich als Hinweis, dass es noch wenig verbreitet ist, sich interdisziplinär auszutauschen und weiterzubilden. Die ICF sollte nicht lediglich professionsintern genutzt werden. Ich empfehle diese Internetseiten, um sich weiter bei der ICF zu beschäftigen: > https://icfeducation.org und > www.icf-praxis. com/webapp.