Die Interviewte: Prof. Dr. phil. Liane Simon ist Professorin für Transdisziplinäre Frühförderung, Dekanin der Fakultät Art, Health and Social Science am Campus Arts and Social Change der Medical School Hamburg. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Nutzung und Implementierung der ICF im Bereich frühe Kindheit. Sie ist außerdem seit 2016 berufenes Mitglied im Beirat des Nationalen Zentrums Frühe Hilfen (NZFH). Foto: © privat

Ein Forschungsschwerpunkt von Prof. Liane Simon ist die internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit der WHO, die sich ICF nennt. Diese Klassifikation dient fach- und länderübergreifend als standardisierte Sprache dazu, den Gesundheitszustand eines Menschen mittels verschiedener Codes zu beschreiben. Auch Stillschwierigkeiten können damit beschrieben werden. Ist das für Hebammen nützlich?

Birgit Heimbach: In Ihrem Institut an der Medical School Hamburg ist das ICF Research Institute untergebracht. Es soll die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Gesundheit und Behinderung (International Classification and Functioning, Disability and Health) – speziell die ICF-CY-Version Kinder (Children and Youth Version) – in Deutschland verbreiten, damit Kinder frühestmöglich einheitlich erfasst und gefördert werden können, etwa nach einer problematischen Geburt oder angeborenen Fehlbildungen. Wie kam es zu dieser Forschungseinrichtung?

Liane Simon: Das Deutsche Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) lud mich 2014 ein, als beratendes Mitglied an den Treffen der Weltgesundheitsorganisation teilzunehmen, wenn es um die »Familie der Klassifikationen« ging: ICD, ICF und ICHI (siehe Glossar). In diesem Zusammenhang hat die Medical School Hamburg in den Jahren 2014–2020 verschiedene Zuarbeiten übernommen. Ich war hauptsächlich an der Implementierung der ICF und den Updates beteiligt, in denen die Codes überarbeitet wurden.

Glossar
  • ICD: International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems
  • ICHI: International Classification of Health Interventions (für Statistik und Entgeltsysteme im Gesundheitswesen)
  • ICF-CY: International Classification of Functioning, Disability and Health for Children and Youth

Rubriken

  1. b steht für Körperfunktionen (body functions)
  2. d steht für Aktivität und Teilhabe (domains)
  3. e steht für Umwelt (environment)
  4. s steht für Körperstrukturen (body structures)
  5. Personenbezogene Faktoren (wie etwa der Charakter) werden nicht codiert, spielen aber eine wichtige Rolle im Umgang mit der mütterlichen Gesundheit.
  6. ICD-10 bzw. ICD-11

Im ICF-Katalog gibt es für die verschiedenen Klassifikationen vier verschiedene zu codierende Bereiche (b, d, e, s, siehe Glossar). Dazu kommen alphanumerische Bewertungspunkte (0–8), sogenannte Qualifier (s. Glossar). Sie werden benutzt wie beim 10-Punkte-System der Schmerzskala. Die personenbezogenen Daten werden nicht codiert. Dann gibt es noch als sechste Rubrik im ICF-Katalog den ICD-Katalog. Bisher scheint mir dies alles wenig etabliert zu sein. Wird die Nutzung der ICF in den kommenden Jahren in vielen Bereichen des Sozial- und Gesundheitswesens verpflichtend sein?

Die Nutzung der ICF ist im Bundesteilhabegesetz von 2018 (SGB IX) verankert, aber ich kann nicht sagen, ob sie im Gesundheitsbereich verpflichtend wird. Es ist jedenfalls eine umfassendere Sicht auf Gesundheit, die über die ICF gefördert wird. Es ist das bio-psycho-soziale Modell.

ICF: Klassifikation per Code
Die International Classification of Functioning, Disability and Health for Children and Youth (ICF) dient fach- und länderübergreifend als einheitliche und standardisierte Sprache zur Beschreibung des funktionalen Gesundheitszustandes, der Behinderung, der sozialen Beeinträchtigung und der relevanten Umgebungsfaktoren, entwickelt von der WHO und 2001 verabschiedet. Darin werden auch Aspekte beschrieben, die für Hebammen eine besondere Rolle spielen, wie Stillen, Saugen, Familienbeziehungen, persönliche Eigenschaften und individuelle Umweltbedingungen. Die ICF bietet eine gemeinsame Sprache in Form von Codes, um die Gesundheit von Menschen zu beschreiben und die Wechselwirkungen zwischen Körperfunktionen und -strukturen und Umwelt auf Aktivitäten oder Partizipationsmöglichkeiten eines Menschen.

Die Nutzung der ICF ist auch für Bereich der Geburtshilfe entwickelt worden. Sollten sich Hebammen generell damit mehr befassen?

Ja unbedingt. Ich kann nur empfehlen, sich damit auseinanderzusetzen.

Im ICF-Katalog geht es an verschiedenen Stellen um das Stillen, es gibt wohl auch Ziffern für Stillschwierigkeiten?

Die ICF ergänzt die Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD), insofern müssen keine spezifischen Schwierigkeiten wie Autismus, Bronchitis oder Stillschwierigkeiten als Codes in die ICF aufgenommen werden. Wenn man ganz genau liest, dann wird deutlich: Es gibt in der ICF keine defizitär beschriebenen Codes. Dafür ist die ICD zuständig, Krankheiten zu erkennen und zu benennen. Bio-psycho-soziale Aspekte und ihre Wechselwirkungen machen spezifische Codes für einzelne Professionen unnötig. Es geht um die Beschreibung individueller Lebenssituationen und darum, dass die Professionen ihr Wissen gleichberechtigt und auf Augenhöhe untereinander und mit den Patientinnen beziehungsweise Frauen teilen.

Aber im ICF-Katalog, wo es vier verschiedene zu codierende Bereiche gibt, ist ja als sechste Rubrik der ICD-Katalog genannt. Und unter dem zu codierenden Bereich b gibt es auch Codes für Stillschwierigkeiten.

Ja. Es wurde zunächst auf mehreren Konferenzen diskutiert, in welchem Bereich Stillen einzuordnen ist. Stillen ist ja im Grunde eine Tätigkeit für jemanden anders, nämlich für das Kind. Jemand anderem zu helfen, gehört eigentlich in die d-Kategorie für Aktivität und Teilhabe. Die verschiedenen Aspekte, die mit dem Stillen verbunden sind, sind in unterschiedlichen Bereichen zu finden.

Könnten Sie Beispiele für Codes zum Thema Stillen nennen?

b 5100 Saugen, b 5105 Schlucken, b 6603 Laktation.

Gibt es noch mehr Codes, die noch andere Probleme um das Stillen herum erfassen könnten?

Weitere aus meiner Sicht zum Thema Stillen passende Codes sind zum Beispiel d 2401 mit Stress umgehen, d 760 Familienbeziehungen, e 355 Unterstützung durch Fachleute der Gesundheitsberufe, e 360 Unterstützung durch andere, e 850 Zugang zur Gesundheitsversorgung, b 134 Funktion des Schlafs, b 510 Nahrungsaufnahme, b 515 Verdauungsfunktionen, b 530 Funktion der Gewichtserhaltung, b 7 bewegungsbezogene Funktionen, d 331 Kommunizieren mit Lauten, d 415 Körperposition halten, d 560 Trinken, einschließlich des Trinkens an der Brust. Es gibt wahrscheinlich noch viele mehr, die in verschiedenen Situationen passen können, die das Stillen betreffen.

Waren an der Entwicklung der Punkte Hebammen oder Laktationsberaterinnen beteiligt? Oder wie kam diese Auswahl zustande?

Es waren verschiedene Berufsverbände aus allen Ländern beteiligt, auch Fachleute zum Thema Breastfeeding. Ob auch Hebammen dabei waren, kann ich aber nicht sagen.

ICF Research Institut
Forschung zur bio-psycho-sozialen Gesundheit
Medizin, Psychologie, Pädagogik und Soziale Arbeit – traditionell forschen diese Disziplinen weitgehend unabhängig voneinander und nutzen dafür verschiedene Auffassungen von Gesundheit. In der Praxis passen eine an Störungsbildern und Defiziten ausgerichtete Versorgung und eine eher humanistisch-ressourcenorientierte Herangehensweise häufig nicht zusammen. Dies erschwert auch den Dialog zwischen Berufsgruppen wie Mediziner:innen, Sozialarbeiter:innen und Psycholog:innen.

Die Herausforderungen im Gesundheits- und Bildungswesen fordern eine disziplinübergreifende Herangehensweise in der Wissenschaft und die Bereitschaft zur engen Zusammenarbeit verschiedener Berufsgruppen in der Praxis. International setzt sich daher seit einigen Jahren zunehmend ein umfassenderes und integrativeres Bild von Gesundheit und Bildung durch: die bio-psycho-soziale Perspektive. Sie bietet das Potenzial, unterschiedliche Herangehensweisen zu integrieren.

Das bio-psycho-soziale Modell umfasst drei zentrale Komponenten menschlicher Funktionsfähigkeit und Lebensgestaltung, die in Beziehung zueinander gesetzt werden: Körperfunktionen und -strukturen, Aktivitäten und Partizipation aus individueller und gesellschaftlicher Sicht sowie Kontextfaktoren, das heißt personelle Einflüsse und Umwelteinflüsse. Dieses Modells wird in der von der WHO entwickelten Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) verankert. Es soll auch in Deutschland flächendeckend genutzt werden – so will es unter anderem das Bundesteilhabegesetz von 2018 und auch die 2022 erscheinende Klassifikation ICD-11. Diese Orientierung ermöglicht und fördert die interdisziplinäre und interprofessionelle Zusammenarbeit. Sie steht daher auch im Zentrum des ICF Research Instituts, an dem Wissenschaftler:innen aus verschiedenen Disziplinen vernetzt sind.

Könnten Hebammen oder Laktationsberaterinnen für den ICF-Katalog noch nachträglich Vorschläge einbringen? Also für Stillbesonderheiten entsprechend Funktionsfähigkeit, Gesundheit und Behinderung (functioning disability and health), sowie zur psychosozialen Gesundheit?

Vorschläge können jederzeit eingereicht werden. Die Einreichung erfolgt über das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM): https:// www.dimdi.de/dynamic/de/das- dimdi/kontakt/. Aber bisher hat mir in Gesprächen noch keine Hebamme mitgeteilt, dass etwas fehlt.

Wenn man WHO und ICF googelt, stößt man auf diese Seite: www.who.int/standards/classifications/ international-classification-of- functioning-disability-and-health. Wie werden Hebammen hier für ihre Belange fündig? Oder lädt man den ganzen Katalog bei der BfArM herunter? Wie sollen Hebammen sich orientieren können?

Jüngere Kolleg:innen laden sich den Katalog oft über die Seite des BfArM herunter – bis vor kurzem von der Internetseite des DIMD. Für mich war es allerdings hilfreich, mit dem Katalog als gedrucktem Buch zu arbeiten. Im ICF-Buch finden Sie die Codes auch zum Stillen beziehungsweise Saugen problemlos. Diese und weitere Aspekte, die damit eng verbunden sind, sind in verschiedenen Kapiteln zu finden. Es gibt einige digitale Angebote, die allerdings nicht über die WHO entwickelt wurden.

ICD-Katalog
Der ICD-Code ist ein weltweit anerkanntes System zur Klassifikation von medizinischen Diagnosen. ICD steht für »International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems«.

Mit dieser Morbiditätskodierung können international vergleichbare Gesundheits- und Todesursachenstatistiken erstellt werden. In der Forschung liefern die Daten Erkenntnisse zur Ausbreitung und für die Vorbeugung von Krankheiten. Die einzelnen Punkte im ICD-Katalog sind eine Grundlage für die Abrechnung von medizinischen Leistungen, die Erstellung von Statistiken und Qualitätsberichten der Krankenhäuser. An der Pflege und Weiterentwicklung dieser und anderer Klassifikationen arbeitet die WHO, beteiligt ist das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM).

Die WHO gibt den ICD-Katalog erst seit der sechsten Version heraus. Die erste Version des ICD wurde 1900 von der französischen Regierung herausgegeben, später vom Völkerbund.

Neben der Version ICD-10 ist im Januar 2022 die ICD-11 in Kraft getreten und für eine Übergangsfrist von fünf Jahren sind beide Versionen verwendbar. Die Einführung der ICD-11 in Deutschland ist sehr komplex und wird noch mehrere Jahre in Anspruch nehmen. Die neue Klassifizierung ist inhaltlich und technisch den heutigen Gegebenheiten besser angepasst. Es wurden nicht nur neue Kapitel geschaffen, um Krankheiten besser einordnen zu können, sondern auch die Möglichkeit, mehrere Codes zu kombinieren, so dass Diagnosen genauer beschrieben werden können. ICD-11-Codes haben mindestens vier und höchstens sechs Zeichen, wobei an zweiter Stelle immer ein Buchstabe steht.

Wie viele Codes gibt es insgesamt?

Da die ICF ständig weiterentwickelt wird, kann ich nur sagen, dass es etwa 1.600 Codes gibt.

Benötigen denn Hebammen überhaupt alle Codes? Oder könnten sie sich auf einige beschränken? Das ist ja enorm umfangreich.

Eine Beschränkung auf einzelne Codes wäre aus meiner Sicht eine Beschränkung für die einzelnen Professionen. Als Hebamme sollten Sie zu allen Bereichen etwas sagen und nicht nur einzelne Codes nutzen dürfen. Wenn Sie diese reduzieren sollten, dann sollte das systematisch und validiert erfolgen. Ich persönlich würde nicht gern auf einzelne Aspekte beschränkt werden. So ist die ICF nicht gedacht: Sie ist eine gemeinsame Sprache, in der alle miteinander sprechen und Wissen austauschen beziehungsweise teilen.

Was bezahlen denn Kliniken, Geburtshäuser und freiberufliche Hebammen, wenn sie den ganzen Katalog in Buchform kaufen?

Die deutschen Übersetzungen der Klassifikation kosten 32 Euro.

Und wie arbeiten Hebammen zum Beispiel bei Stillschwierigkeiten mit den Codes, wenn es diese dann schon mal gibt?

Der Zugang über die Codes wird oftmals als schwierig und sperrig empfunden. Ich persönlich habe mich den Codes über die Erfahrung aus der Praxis genähert. Am besten nehmen Sie zunächst das ICF-basierte Funktionsmodell. Anhand dessen besprechen Sie mit der Frau, die Sie betreuen, an welchen Punkten – Körperfunktionen, Körperstrukturen, Aktivitäten und Partizipation und Umweltfaktoren, sowie personenbezogenen Faktoren – sie Fragen zu Stillschwierigkeiten hat, die besprochen werden sollten. Zur Übersicht habe ich mit meinen Kollegen Olaf Kraus de Camargo, Peter Rosenbaum und Gabriel Ronen das ICF-basierte Funktionsmodell entwickelt (siehe Abbildung 2: Funktionsprofil) Das Funktionsmodell wurde in der zweiten Auflage des Buchs »ICF in der Praxis« veröffentlicht. Wir halten es für eine gute Möglichkeit, um die ICF-Systematik und die multiperspektivische Sicht auf Gesundheit besser zu verstehen. Für einige kann dies in der Anwendung hilfreich sein. Hier wird zunächst einmal ohne Codes eingetragen, was alles zur Entscheidung über das weitere Vorgehen in Erwägung gezogen wird.

Trainingsmaterial für die Praxis
Die Medical School Hamburg war ab 2019 auch Partner in einem rund zweijährigen Europäischen Projekt (Erasmus+ strategische Partnerschaft zum Thema »ICF in den ersten 1000 Lebenstagen« (www.thefirst1000days.net). Koordiniert wurde das Projekt von der NGO »Education for ALL« aus Nord Mazedonien.

Das Projekt hatte zum Ziel, das Wissen und die Fähigkeiten von Fachkräften, die mit Säuglingen und Kleinkindern mit Entwicklungsschwierigkeiten arbeiten, in Bezug auf die ICF zu verbessern. ICF-Trainingsmaterialien wurden dabei auf Deutsch, Mazedonisch und Türkisch für die Fachkräfte angepasst (Kinderkrankenpflegepersonal, Familienhebammen, Frühe Hilfe und Frühförderung, Krippenerzieher:innen). Die Kooperation mit Familien und im Team um die Familie sollte dadurch verbessert werden.

Es gibt auf der Internetseite weiterhin ICF-Trainingsmaterialien für Fachkräfte, die mit Säuglingen und Kleinkindern mit Entwicklungsschwierigkeiten arbeiten sowie einen Kurzguide »ICF«, der einen Überblick über die Komponenten der ICF bietet und die wichtigsten Codes für Säuglinge und Kleinkinder in familienfreundlicher Sprache umfasst.

ICF in den ersten 1.000 Tagen: > www.thefirst1000days.net

Werden im Funktionsmodell auch die Bewertungs-Punkte (0–8), die sogenannten Qualifier vergeben?

Man kann, aber man muss keine Punkte verteilen. Die Codes halte ich in Bezug auf Stillschwierigkeiten tatsächlich erst einmal für nachrangig, denn letztere haben ja sehr unterschiedliche Ursachen. Die ICD-Diagnose selbst ist manchmal wenig aussagekräftig für das weitere Vorgehen. Es ist oft ein Mix aus Schwierigkeiten im körperfunktionellen und -strukturellen Bereich und im Kontext, in dem sich die Mutter und das Kind befinden. Diese Wechselwirkungen können im ICF-basierten Funktionsmodell besser beschrieben werden. In Bezug auf Stillen kommt hier ja auch hinzu, dass wir es als Fachleute mit mindestens zwei Personen zu tun haben, der Mutter und dem Kind. Sie bilden zwar eine Einheit, Stillprobleme können aber aus beiden Perspektiven betrachtet und beschrieben werden.

Wie kann eine Hebamme entscheiden, ob sie nun den Code mit Bewertungspunkt benutzt oder alles im Funktionsprofil eingibt?

Noch gibt es dazu keine weiteren Vorgaben. Oft helfen die umfassende Betrachtung und Bewertung in der Praxis wesentlich besser als die Kodierung.

Fällt dann nicht die angestrebte Vergleichbarkeit von Daten raus?

Das Funktionsprofil haben wir entwickelt, um die Nutzung der ICF zu erleichtern. Es ist nur ein Vorschlag. Im Funktionsprofil können Sie an den entsprechenden Stellen eintragen, was gerade bei der Frau oder dem Kind wichtig ist, beispielsweise unter Teilhabe: »Es gibt eine Babygruppe, in der sich die Frau sehr wohl fühlt.« Oder unter Körperfunkton: »Das Kind hat Schwierigkeiten mit dem Saugen«. Dazu benötigen Sie weder Codes noch Qualifier.

Wird der ICF-Katalog samt dem Funktionsmodell heute an den Hochschulen unterrichtet, so dass Studierende im Gesundheitssektor und auch im Hebammenwesen lernen, damit umzugehen?

Die Verbreitung der ICF an Hochschulen und Fachhochschulen steigt stetig an, das entwickelt sich, ist aber meines Wissens noch nicht überall etabliert.

Sie organisieren für Anwender:innen Konferenzen, es gibt auch Fortbildungen. Wo finden Hebammen geeignete Weiterbildungsangebote? Es wirkt wie eine große zusätzliche Arbeitsbelastung, sich mit diesen vielen Ziffern zu befassen.

Es gibt deutschlandweit Workshops, die interdisziplinär ausgerichtet sind, und solche, die berufsgruppenspezifisch organisiert sind. Das kann individuell stattfinden in Praxen, Vereinen, Instituten. Wir bieten auch Schulungen im Iris-Institut vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM). Dieses ist ein WHO-Kooperations­zentrum und hat viele verschiedene Forschungsprojekte, in denen sich interdisziplinäre Teams mit einzelnen Aspekten der übergeordneten Themen Bildung und Gesundheit beschäftigen. Zahlreiche neue Codes begeistern erst einmal niemanden, aber die umfassendere Sicht auf die Gesundheit von Menschen schon. Und auch der Einbezug der Menschen, um deren Gesundheit es geht, und ihrer individuellen Lebenssituation, die interdisziplinäre Zusammenarbeit, die gleichberechtigte Bedeutung des Wissens der einzelnen Professionen. Auch Hebammen haben schon an Workshops teilgenommen.

Und wie viele Hebammen nutzen dies bereits? Haben Sie einen Überblick über die Einträge?

Nein, das weiß ich nicht.

Ich habe gelesen, dass es das Projekt ICF Train (> www.icf-training.eu) gibt, woran sechs EU-Länder beteiligt sind. Bis 2014 sollte ein unkompliziertes und benutzerfreundliches Online-Werkzeug entwickelt werden. Es sollte Fachleute sowie Eltern beim Verständnis der ICF-CY unterstützen und eine Übertragung in den Arbeitsalltag erleichtern. Was ist daraus geworden?

Das ist ein Forschungsprojekt von meinem Kollegen Manfred Pretis, das 2014 beendet wurde. Ich vermute, dass die Seite nicht weiterbearbeitet wird. Internetquellen sind manchmal veraltet und diese ist es. Leider bin ich als Ansprechpartnerin immer noch auf der Seite zu finden. Ich selbst habe keinen Zugriff darauf.

Ich dachte, Sie unterstützen auch Anwenderinnen bei der Nutzung der ICF? Wo gibt es denn Ersatz im Internet für Anwenderinnen, denn sonst ist es wirklich schwierig, das alles zu verstehen.

Das sehe ich anders. Ich persönlich halte es eigentlich für ein recht einfaches Modell, wenn man die Codes außenvorlässt und sich mit den Frauen, die man als Hebamme betreut, sowie den anderen betreuenden Fachkräften zusammensetzt und die besondere Situation sowie die Bedürfnisse der jeweiligen Familie mithilfe des Funktionsprofils gemeinsam bespricht.

Werden die Daten anschließend von der WHO zusammengeführt?

Noch werden sie nicht zusammengeführt. Es geht der WHO darum, besser zu verstehen, wie individuelle Umweltfaktoren Gesundheit beeinflussen, um daraus Schlüsse zu ziehen, wie Gesundheit weltweit verbessert werden kann.

Sie organisieren die jährlich stattfindende ICF-Anwenderkonferenz. Ich war 2018 in Hamburg dabei, als sich dort auch die Hamburger Baby-Lotsen »See-You« mit einem Projekt vorstellten. Sind auch dieses Jahr am 22. und 23. September relevante Themen für Hebammen dabei?

Die diesjährige Konferenz findet in Klagenfurt statt (> www.icf-anwendertage.at/). Themen können jederzeit vorgeschlagen werden. Mir selbst ist es immer ein Anliegen, den interdisziplinären Austausch zu fördern und die gemeinsame Sprache auch gemeinsam zu nutzen. Deshalb irritiert mich diese sehr häufig von verschiedenen Professionen gestellte Frage immer ein wenig. Das sehe ich als Hinweis, dass es noch wenig verbreitet ist, sich interdisziplinär auszutauschen und weiterzubilden. Die ICF sollte nicht lediglich professionsintern genutzt werden. Ich empfehle diese Internetseiten, um sich weiter bei der ICF zu beschäftigen: > https://icfeducation.org und > www.icf-praxis. com/webapp.

Links
Kontaktseite des BfArM für Vorschläge: https://www.dimdi.de/dynamic/de/das-dimdi/kontakt/

Informationen der WHO: https://www.who.int/standards/classifications/international-classification-of-functioning-disability-and-health

ICF-Downloads: www.bfarm.de/DE/Kodiersysteme/Klassifikationen/ICF/_node.html6

ICF in den ersten 1.000 Tagen: www.thefirst1000days.net

Zitiervorlage
Heimbach, B. (2022). Interview mit Prof. Liane Simon: Stillschwierigkeiten treffend beschreiben. Deutsche Hebammen Zeitschrift, 74 (10), 50–55.
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