Prof. Dr. Inga D. Neu­mann gilt als Wegbereiterin der deutschen Verhaltensbiologie. Foto: privat

Wie Oxytocin wirkt, wird seit über 30 Jahren untersucht, erste Forschungen galten dem Tierreich. Zwei ExpertInnen schildern den aktuellen Forschungsstand.

Birgit Heimbach: Frau Prof. Neumann, Sie waren eine der ersten in der Tierforschung, die sich überhaupt mit dem Hormon Oxytocin befasst haben. Dieses Neuropeptid begann Sie bereits 1989 zu interessieren, als Ihre Untersuchungen an Ratten ergaben, das Oxytocin nicht nur ins Blut als Hormon freigesetzt wird, sondern auch direkt im Gehirn wirkt. Ihre Arbeiten haben maßgeblich dazu beigetragen, dass Oxytocin seit 2003 auch Gegenstand in der humanen Forschung und heute in aller Munde ist. Wie kamen Sie auf das Oxytocin als Forschungsobjekt?

Inga D. Neumann: Als Biologin wusste ich, dass eine Substanzklasse von Eiweißmolekülen mit nur neun Aminosäuren (Nonapeptiden) eine besondere Rolle in der Evolution spielt. Oxytocin und das verwandte Vasopressin kommen in fast allen Tierklassen und Tierstämmen in leichten chemischen Abwandlungen vor. Sie sind beispielsweise bei Ringelwürmern, Schnecken, Fischen, Vögeln und eben auch beim Säuger vorhanden. Faszinierend ist dabei nicht nur, dass sie chemisch die Evolution überlebt haben, sondern sich auch die Funktionen bei den unterschiedlichen Tieren ähneln. Immer spielt Oxytocin eine Rolle bei der Fortpflanzung und beim Sozialverhalten. Ich wollte mir genauer anschauen, wann es im Gehirn freigesetzt wird und was es in verschiedenen Hirnregionen macht. Dies kann man beim Menschen nicht so unmittelbar untersuchen, und so untersuchten wir diese Freisetzung im Gehirn an Versuchstieren. Da tauchten dann tolle Wirkungen auf, die wir und viele andere ForscherInnen aufklären konnten: mütterliches Verhalten und Bindung zu den Jungtieren, soziale Interaktionen, soziales Gedächtnis, Stressreduktion und Regulation von aggressivem Verhalten.

Die Psychologin Prof. Dr. Beate Ditzen, heute Direktorin des Instituts für Medizinische Psychologie in Heidelberg, untersuchte in ihrer Doktorarbeit das Streitverhalten von Paaren. Vor der Diskussion wurde ihnen entweder ein Placebo oder Oxytocin als Nasenspray verabreicht. Das Ergebnis: Die Paare, die Oxytocin erhalten hatten, diskutierten konstruktiver, und bei ihnen waren niedrigere Werte des Stresshormons Cortisol zu finden. Manche denken daher, dass sie mit dem Hormon ein gewünschtes Verhalten manipulieren könnten. Ein Sprühstoß mit dem hormonhaltigen Spray und schon lasse sich quasi die Liebe herzaubern.

Wir haben ja gesehen, dass körpereigenes Oxytocin durch verschiedene Stimuli tatsächlich aktiviert und im Gehirn freigesetzt wird. Dazu gehören soziale Interaktionen, sportliche Aktivität, Saugen eines Säuglings an der Brust und Sex. Wir haben also eine eigene Droge. Wenn wir Oxytocin auf Dauer intranasal geben, verändern und desensitivieren wir das körpereigene Oxytocin-System. Ein romantischer Rahmen für ein vertrautes Gespräch, am besten nach großer Intimität, wären hier sicherlich geeigneter, um den Liebeszauber zu fördern.

Wäre eine künstliche intranasale Oxytocin-Gabe zumindest ein Türöffner für Paar- oder Verhaltenstherapien, um in der Therapiestunde besser Kontakt zu seinem Gegenüber aufnehmen zu können?

Markus Heinrichs: Bereits seit 18 Jahren gibt es Versprechungen durch Medien in Bezug auf eine Behandlung mit diesem Hormon bei Autismus, Borderline-Persönlichkeitsstörungen und sozialen Ängsten. Nach den Pionierarbeiten meines Labors zu Effekten von Oxytocin auf das Sozialverhalten beim Menschen vor inzwischen über 20 Jahren können wir sagen: Natürlich gibt es hoffnungsvolle Pilotstudien bei Autismus, sozialer Angststörung, Sexualstörungen oder Borderline-Persönlichkeitsstörung, abschließende Ergebnisse liegen jedoch noch nicht vor. Es bedarf weiterhin weltweit klinischer Forschung in großen Studien. Es wird noch viel Zeit, Geld und Geduld nötig sein, bis für solch komplexe Störungen therapeutisch spezifische Empfehlungen zum Einsatz von Oxytocin gegeben werden können.

In einer Studie im Jahr 2018 erklärten Sie, Frau Prof. Neumann, dass man wohl noch immer nicht wisse, wie intranasal verabreichtes Oxytocin von der Nase in das Gehirn gelangt.

Inga D. Neumann: Nein, noch immer wird darüber spekuliert, wie es das Gehirn erreicht. Aber sicher ist, dass es nach intranasaler Gabe nur ins Gehirn gelangt, wenn es in sehr großen Mengen gegeben wird, die so normalerweise nicht im Körper vorkommen.

Ein Sprühstoß reicht schon, dass die Milch läuft. Wie fand man zu der Dosis von 24 IE, um den gewünschten Effekt auf das Gehirn zu haben?

Markus Heinrichs: 24 IE war zunächst eine von mir zufällig eingesetzte Dosis. Sie erwies sich aber als genau richtig: Wir finden hier zuverlässig und replizierbar erhöhten Blickkontakt, mehr Vertrauen, weniger Stress und charakteristische Hirnaktivitäten: Autisten können beispielsweise Emotionen in anderen Gesichtern besser lesen. Das Oxytocin wirkt besonders auf die hohe Dichte an Rezeptoren in der Amygdala, wo Angst und Stress kontrolliert werden. Die Aktivierung lässt sich im Magnetresonanztomografen nachweisen. Wenn weniger oder mehr gegeben wird, ist die Wirkung auf die Amygdala nicht die gewünschte. Inzwischen wird daher in den allermeisten Studien die Dosis von 24 IE verwendet.

Und wie ist die Wirkung von physiologisch produziertem Oxytocin beim Stillen auf das Gehirn der Mutter?

Markus Heinrichs: Mitte der 1990er Jahre haben Frau Neumann und ich uns kennengelernt, wir tauschten uns über die Effekte beim Stillen aus. Durch ihre Tierforschung wissen wir, dass die Stressanfälligkeit beim Stillen reduziert ist, weil die Amygdala und die Stresshormone herunterreguliert sind. Wir konnten dann gemeinsam die Ergebnisse auch beim Menschen replizieren: Selbst ein bis zwei Stunden nach dem Stillen sind Angst- und Stressreaktionen bei der Mutter reduziert. Die Mütter würden also im Extremfall nicht ihr Kind einfach unversorgt zurück­­-­lassen, sondern ihre Aufmerksamkeit auf das Neugeborene richten. Insofern ist die Bindungsforschung in der Psychologie nicht ohne das Oxytocinsystem denkbar. Ein schönes Beispiel für die so wichtige translationale Forschung, die von der Tier- über die experimentelle Human- bis zur Therapieforschung geht.

Oxytocin wird von der Hypophyse in die Blutbahn freigesetzt, wodurch es dann zum Beispiel zur Gebärmutter gelangt, wo es während der Geburt die Wehen verstärkt, oder in die weibliche Brust, wo es das Zusammen-ziehen der Alveolen bewirkt. Kann umgekehrt auch Oxytocin aus dem Blut in das Gehirn gelangen?

Inga D. Neumann: In physiologischen Mengen kann es jedenfalls nicht die Blut-Hirn-Schranke überwinden! Dies ist eine hochselektiv durchlässige Schranke zwischen Blutstrom und Hirnsubstanz, die den Stofftransport zum Gehirn genau kontrolliert. Stoffe wie Glucose oder Aminosäuren gelangen nur über spezifische Transporter durch die Kapillarwand. Andere Substanzen, die fettlöslich sind, wie beispielsweise Alkohol oder Steroide, diffundieren leicht durch diese Barriere. Peptidhormone, wie das Oxytocin, gelangen wahrscheinlich nur durch die Blut-Hirn-Schranke, wenn sie in extrem hohen Konzentrationen im Blut vorliegen.

Welchen Anteil an Bindungsprozessen – zu Kind oder Partner – hat Oxytocin, wenn es gar intravenös zugeführt wird, wie unter der Geburt zur Verstärkung der Wehen?

Inga D. Neumann: Inwieweit diese Menge ausreicht, um ins Gehirn zu gelangen, ist unbekannt, ebenso, ob dies die Mutter-Kind- Bindung verändert. Klar ist, dass während der Geburt das köpereigene Oxytocin-System hoch aktiv ist. Es wird sowohl in zahlreiche Hirngebiete freigesetzt, um die Mutter mental auf das neue Verhalten einzustellen und die Mutter-Kind-Bindung herzustellen, wie auch gleichzeitig ins Blut ausgeschüttet, um die Wehen zu verstärken und die Milchausschüttung auszulösen.

Nimmt die Zahl der Rezeptoren im Gehirn bei Frauen in der Schwangerschaft automatisch zu oder lassen sich Menge und Sensitivität auch durch eine gute Paarbindung mit ausreichenden Phasen der Oxytocinausschüttung beeinflussen?

Inga D. Neumann: Dies ist beim Menschen logischerweise völlig unbekannt, da man es einfach nicht untersuchen kann. Bei Versuchstieren weiß man, dass sich die Oxytocinrezeptoren unter verschiedenen Bedingungen verändern: zum Beispiel nehmen die Rezeptoren im Gehirn während der Trächtigkeit und Stillzeit zu, werden aber auch durch psychosozialen Stress, soziales Trauma oder negative frühkindliche soziale Erfahrungen verändert. Es ist daher anzunehmen, dass sich all unsere sozialen Erfahrungen, positive wie negative, auf die Bildung und Dichte der Oxytocinrezeptoren im Gehirn auswirken. Interessanterweise unterscheidet sich die Dichte der Rezeptoren im Gehirn von Tierarten, die entweder monogam oder polygam sind. Dies wurde an Wühlmäusen gut untersucht.

Während Oxytocin Angst reduziert und sich positiv auf Entspannung, Wachstum und das Immunsystem auswirkt, steht das verwandte Vasopressin in Zusammenhang mit einer erhöhten Wachsamkeit, Angst, Erregung und auch depressivem Verhalten. Obwohl auch Männer Oxytocin produzieren, ist Vasopressin wohl eher mit typisch männlichem Sozialverhalten assoziiert. Aber zu Vasopressin gehört offenbar die Paarbindung. Also nicht nur Oxytocin, sondern beide?

Inga D. Neumann: Oxytocin und Vasopressin sind sehr nah verwandte Nonapeptide, die sich nur in zwei Aminosäuren unterscheiden. Sie werden zudem in denselben Hirnregionen des Hypothalamus gebildet. Unsere Forschungsergebnisse belegen, dass es eine enge Interaktion beider Peptide gibt, oft mit gegensätzlichen Wirkungen. Auch die Paarbindung wird über beide Peptide reguliert – bei beiden Geschlechtern. Daher kann man das Argument, dass Vasopressin eher das männliche und Oxytocin das weibliche Peptid sei, nicht aufrechterhalten. Eher ergänzen sie sich im Ying-Yang-Prinzip und modulieren so unser komplexes emotionales und soziales Verhalten.

Herzlichen Dank an Sie beide für diese Einblicke!

Die Interviewten

Prof. Dr. Inga D. Neumann ist Inhaberin des Lehrstuhls für Neurobiologie und Tierphysiologie an der Fakultät für Biologie und Vorklinische Medizin an der Universität Regensburg. Sie ist Direktorin des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Graduiertenkollegs »Neurobiologie sozialer und emotionaler Dysfunktionen«.

Kontakt: inga.neumann@biologie.uni-regensburg.de


Prof. Dr. Markus Heinrichs ist Inhaber des Lehrstuhls für Biologische Psychologie und Leiter der Ambulanz für stressbedingte Erkrankungen an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg, Ordinarius an der Wirtschafts- und Verhaltenswissenschaftlichen Fakultät sowie an der Medizinischen Fakultät und Leiter der Psychotherapeutischen Hochschulambulanz für stressbedingte Erkrankungen der Universität Freiburg. Er leitet darüber hinaus die Forschungsgruppe »Soziale Neurowissenschaft« am Neurozentrum des Universitätsklinikums Freiburg.

Kontakt: heinrichs@psychologie.uni-freiburg.de; www.psychologie.uni-freiburg.de/abteilungen/psychobio

Zitiervorlage
Heimbach, B. (2021). Interview: Oxytocin ist ein Türöffner. Deutsche Hebammen Zeitschrift, 73 (6), 60–62.
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