Erziehungskonzepte im Wandel
Um die Besonderheiten dieses uns heute so selbstverständlich erscheinenden Konzeptes zu verstehen, muss etwas ausgeholt werden: Zwei Schulen waren es, die Erziehungskonzepte ab Beginn des 20. Jahrhunderts prägten: die wissenschaftliche Pädiatrie und die Verhaltenspsychologie. Für die wissenschaftliche Pädiatrie entstanden Vorstellungen zur Kindererziehung, die eigentlich für die Ausbildung von Kinderkrankenschwestern vorgesehen waren. Diese hatten sich aufgrund der hohen Säuglingssterblichkeit des beginnenden Industriezeitalters vor allem in Findelhäusern und Säuglingspflegeanstalten etabliert und beruhten auf wissenschaftlichen Einsichten zur Pathologie und Physiologie des Säuglings, insbesondere seiner Ernährung, aber auch zur Pflege.
Die zweite entscheidende Schule war die der Verhaltensforschung des Psychologen John B. Watson (1878–1958), die das Verhalten unter Ausklammerung des Beziehungsaspektes rein mit naturwissenschaftlichen Methoden, ohne Introspektion und Einfühlung erklären will. Watson forderte in seinem 1928 erschienenen Werk »Psychological Care of Infant and Child« (Watson 1928), dass dem Kind die Mutterliebe entzogen werden soll, bevor es sieben Jahre alt wird. Denn Mutterliebe mache das Kind abhängig, Liebkosungen würden das psychische Wachstum und den späteren Erfolg im Leben behindern. Kinder sollten nicht auf den Arm genommen werden, die Sauberkeitserziehung mit acht Monaten abgeschlossen sein. Es solle sich nicht zu sehr an vertraute Personen gewöhnen und möglichst viel allein gelassen werden.
Solche Erziehungskonzepte, die vor dem Zweiten Weltkrieg populär waren, erfuhren in Deutschland während des Nationalsozialismus großen Zuspruch. Die Erzieherin der Nation war während dieser Zeit Johanna Haarer (1900–1988), Autorin von Schwangeren- und Erziehungsratgebern, wie »Die Deutsche Mutter und ihr erstes Kind«, die auch nach 1945 in der Bundesrepublik Deutschland in bereinigter Form weiter verbreitet blieben und damit die Erziehungskonzepte der Kriegs- und der Nachkriegsgenerationen prägten (Ahlheim 2012), während ihre Werke in der DDR auf der Liste der auszusondernden Literatur standen. Das geschah eher aus ideologischen als aus inhaltlichen Gründen, denn die rigiden Erziehungskonzepte der pädiatrischen und der behavioristischen Schule wurden in den weit verbreiteten Kinderbetreuungseinrichtungen weitergeführt.
In den USA war es Benjamin Spock (1903–1998) mit seinem berühmten Buch »Säuglings- und Kinderpflege«, 1946, dessen Originaltitel »The Common Sense Book of Baby and Child Care« bereits verrät, worum es geht: »Vertrauen Sie sich. Sie wissen mehr als Sie glauben. Nehmen Sie nicht alles zu ernst, was die Nachbarn sagen. Lassen Sie sich nicht zu sehr von dem beeindrucken, was die Experten sagen. Fürchten Sie sich nicht, Ihren gesunden Menschenverstand zu gebrauchen«. Sein Buch wurde in den USA das meistverkaufte Buch des 20. Jahrhunderts und hatte auf die Erziehung der Nachkriegsgenerationen großen Einfluss.
Im Rahmen der ersten ökologischen Bewegung in den 1970er Jahren mit dem erneuten Aufruf »Zurück zur Natur«, der 200 Jahre nach Rousseau erneut aufhallte, kam es aufgrund der Beobachtung von Naturvölkern zu einer Bewegung, die im Wesentlichen mit dem Namen der Autorin Jean Liedloff verbunden ist. Sie stellte bei den Ye`kuana in Venezuela fest, dass dort die Kinder im ersten Lebensjahr ständig auf dem Arm oder am Körper getragen und nach Bedarf gestillt werden. Kinder schlafen bei den Eltern, bis sie selbst im Alter von zwei bis vier Jahren aus dem Familienbett ausziehen würden . Bestrafungen und Ermahnungen gebe es nicht, die Kinder würden zu freundlichen, friedlichen und selbstbewussten Menschen. Mit ihrem Buch »Auf der Suche nach dem verlorenen Glück« (1975) übertrug sie ihre Erfahrungen auf »westliche Mütter«: zu stillen, Babys zu tragen und im gemeinsamen Bett schlafen zu lassen. In den 90er Jahren zeigte T. Berry Brazelton anhand seiner Forschungen, dass auch Säuglinge schon die Kompetenz besitzen, sich selbst und ihre Gefühle von Geburt an zum Ausdruck zu bringen, und entwickelte dazu ein viel gebräuchliches Testverfahren (Brazelton & Nugent 2011). Diese Signale zu erkennen und auf sie zu reagieren ist eine natürliche Fähigkeit, der man sich anvertrauen und seinem eigenen Urteil folgen darf, so der Tenor des Buches »Die ganz normalen Katastrophen: des gesunde und das kranke Kind in den ersten Lebensjahren.« (Brazelton 1987).
Der Schlüssel zu kompetenter Elternschaft
Zurück zum Ehepaar Sears: Sie kamen bestärkt durch die Schriften Liedloffs zu ihren Vorstellungen, die sie zuerst »Kontinuumkonzept« und »Immersionsmutterschaft« (immersion mothering) nannten. Explizite Verweise auf die Bindungstheorie und die Schriften John Bowlbys und Mary Ainsworth finden sich in den Searsschen Publikationen erst seit 1987. Seither wurde das zuvor »Creative Parenting« genannte Konzept in »Attachment Parenting« umbenannt, um den Bezug zur Bindungstheorie herzustellen.
Wie sind nun die erfahrenen TheoretikerInnen, die Eheleute Sears, mit der Überraschung umgegangen, dass das vierte Kind andere, mehr Bedürfnisse hatte als die offensichtlich ruhigeren und ausgeglicheneren älteren Geschwister ? Vier Kinder sind eine große Aufgabe – auch vor 50 Jahren. Und beide Eltern hatten offensichtlich ehrgeizige eigene Pläne. Sie bemühten sich, dieses Mehr an Bedürftigkeit anzuerkennen, zu erfüllen und nicht dagegen anzukämpfen. Sie versuchten, die Kinder unter sich aufzuteilen, mit Hayden rauszugehen, das Ganze zu entzerren und dafür zu sorgen, dass es ihnen selbst einigermaßen gut geht – denn nur die Person kann ihre Elternrolle ausfüllen, die ausgeruht und ausgeglichen ist. So banal das auch klingt, ist es doch einer der Schlüssel zu kompetenter Elternschaft.
Fordernd, unruhig, übersensibel, unvorhersehbar
Ich weiß nicht, wie es den Eheleuten Sears gegangen ist, aber kann aus meiner eigenen Erfahrung mit fünf Kindern berichten, dass das dritte nach zwei »mustergültigen« Babys auch ein »High-Need-Baby« war: Sehr fordernd, sehr unruhig, übersensibel, unvorhersehbar. Alle Kriterien, die oben aufgeführt wurden. Wenn ich die damalige Zeit und die Begleitumstände kritisch hinterfrage, muss ich mir eingestehen, dass wir damals völlig überfordert waren: Wir hatten zwei Kleinkinder von drei und eineinhalb Jahren, lebten auf 66 Quadratmetern und standen im Umzug mit notwendigen Renovierungsarbeiten. Meine berufliche Zukunft, Pädiater zu werden, schloss notwendige Ortswechsel nicht aus. Damals, Anfang der 1980er Jahren, war es sehr schwer, eine Stelle in der Kinderheilkunde zu bekommen. All diese Unsicherheiten haben – neben dem Temperament unseres Sohnes – sicher zu der Symptomatik beigetragen.
Von den psychosozialen Begleitumständen erfahren wir bei Sears nichts. Meiner Erfahrung nach spielen sie eine eminente Rolle: High-Need-Children have High-Need-Parents! Dies sollte im Umgang mit den Familien berücksichtigt werden.