Die Zeit, die eine Frau für die Geburt ihres Kindes braucht, liegt im System und lässt sich durch Maßzahlen nicht verändern. Foto: © Kerstin Pukall
Vor wenigen Monaten ist mir ein Sammelband von EthnologInnen und ethnologisch arbeitenden Hebammen über Hebammenkunst und Zeitlichkeit in der Geburtsbegleitung in die Hand gefallen, der 2009 erschienen ist (McCourt 2009). Denis Walsh, Professor für Hebammenkunde und Ethnologe an der Universität Nottingham, erzählt darin eine Geschichte, um seine Vorstellung von „slow birth” zu illustrieren und den Begriff der bezüglichen Zeitlichkeit einzuführen (relational temporality). Die nachfolgende Szene beobachtete er in einem Geburtshaus in England.
Ein Teenagermädchen, das mit Mutter und Schwester im Geburtshaus war und in den Wehen lag, verzweifelte mitten unter der Geburt. Beverley, die als Hebamme diese Geburt betreute, erzählt Denis Walsh, was geschah: „Sie hat um sich geschlagen und auf das Bett geschlagen, also haben wir das Bett rausgenommen.” Beverley hatte sich überlegt, ob die Verzweiflung des Mädchens mit der angsteinflößenden Verantwortung der Mutterschaft zu tun haben könnte, der es sich nicht gewachsen fühlte. Deshalb bat die Hebamme die Mutter und die Schwester, doch bitte rauszugehen. Dann saß sie zwei Stunden lang mit dem Mädchen auf dem Fußboden, und es schluchzte in ihren Schoß. „Sie weinte, und dann, nach zwei Stunden – so als hätte sie sich von etwas befreit – war sie bei sich und hat weitergemacht, und sie hatte eine wirklich gute Geburt.” (McCourt 2009, 135f.)
Denis Walsh überlegt sich, dass dieses Szenario kaum in einem größeren Kreißsaal vorstellbar sei, wo die Ursache für eine Verzweiflung unter den Wehen gewöhnlich in klinischen Gründen gesucht werde oder als Anzeichen, dass eine pharmakologische Schmerzerleichterung nötig sei. In weiteren Analysen stellt Walsh eine gemächliche Haltung zur geburtshilflichen Begleitung in diesem Geburtshaus fest.
Eine andere Hebamme erzählt: „Es war die Woche vor Weihnachten und ich hatte eine Frau, die hatte fünf Zentimeter, als sie eintraf. Eigentlich waren es sogar mehr als sechs, aber sie wollte unbedingt noch ihre Weihnachtseinkäufe machen. Sie hatte nämlich nur dieses kleine Zeitfenster, um die Einkäufe zu erledigen, und jetzt das! Weil die Wehen nicht stark waren, beschlossen wir, dass sie einkaufen gehen könnte und dass sie danach zurückkommen sollte. Sie kam wieder und gebar einige Stunden später … Ich war noch da, als sie zurückkam. Sie hatte ihre Einkäufe gemacht und dann ging sie in der gleichen Nacht, nachdem das Baby geboren war, nach Hause. Man muss sich schon einlassen können.” (McCourt 2009, 135)
Es ist unwahrscheinlich, dass eine Frau mit feststellbaren Wehen in einem klinischen Kontext die „Erlaubnis” erhielte, einkaufen zu gehen, denn die linearen Zeitvorstellungen sagen voraus, dass sie das Kind in wenigen Stunden zur Welt bringen würde. Hier vertrauten die Hebammen darauf, wie die Frau den Rhythmus ihrer Wehen wahrnahm, und das klinische Gebot wurde dem untergeordnet.
Denis Walsh wirft die Frage auf, was eigentlich eine gute Hebammenpraxis ausmacht. Er bündelt sein Fazit in wenigen Formeln und schließt damit an andere Studien von Hebammen an:
Das „dabei sein” widersetzt sich jedoch einer Bemessung und Überwachung und dahinter scheint etwas auf wie Nähe, Zuwendung, Achtsamkeit, Aufmerksamkeit. Laut Walsh ist das „being with” Bestandteil einer fließenden Zeitlichkeit körperlicher Rhythmen und der Dynamiken zwischen den Personen. Seine Beobachtungen ergänzen sich wunderbar mit denen, welche die Hebamme Lesley Dixon in ihrer Dissertation machte (Dixon 2011). Zum Beispiel bemerkte sie, dass quantifizierende Studien, in denen die Beziehung zwischen Hebammen und ihren Frauen nicht vorkommen, kaum etwas darüber aussagen können, wie lange eine Geburt dauert. So hat Dixon beobachtet, dass die Geburten leichter vonstattengehen, wenn die Hebamme für die Frau da und mit ihr ist.
Als ich die Beobachtungen von Denis Walsh las, habe ich plötzlich verstanden, worum es bei einer Leerstelle ging, die mich bei meinen Lektüren von Geburtsberichten aus früheren Zeiten und in vormedikalisierten Kulturen immer wieder frappierte und ratlos gemacht hatte. Lesen Sie beispielsweise die Protokolle von Martha Ballard, einer Hebamme aus Neu-England (USA), die zwischen 1785 und 1812 um die 900 Geburten erfolgreich begleitet hatte. Hier lassen sich Geschichten folgender Art finden: „Am 24. September war ich bei Frau Parker. Am 27. bin ich wieder zu Frau Parker gegangen und am nächsten Tag war sie wohlbehalten mit einem Knaben. Habe drei Paar Pulswärmer gestrickt.” Wenn ich das las, habe ich mich jedes Mal gefragt, was die Hebamme da eigentlich gemacht hat, was das für eine Praxis ist. Erst jetzt ist mir aufgefallen, dass ich den Fokus verschieben muss, dass nicht die Praxis der Hebamme die Leerstelle ist, sondern die Niederkunft von Mrs. Parker. Diese Leerstelle war ganz offenbar für das Können und Geschehen mit der Gebärenden bedeutsam. Obwohl ich immer wieder betont habe, dass die Maieutik die Kunst ist, einer Frau bei der Geburt beizustehen, nicht aber das Machen einer Geburt, bin ich nicht auf die Idee gekommen, dass diese Leerstelle, das, was da passiert, eben durch die Niederkunft der Frau und die Geburt des Kindes selbst ausgefüllt sein könnte. Deshalb spricht Denis Walsh auch von einem „being with” und nicht vom „doing” der Hebamme.
Ich möchte die Gelegenheit nutzen, um über den Zusammenhang von Gebären, einer körperlichen Tätigkeit der Frau, und Zeitlichkeit nachzudenken. Denn ohne ein gewisses Konzept von Zeit, das seit den 1950er Jahren in die Geburtsmedizin kam, hätte die Natur der Geburt nicht zu etwas Neuem und die Leerstelle, von der die Autorinnen des Sammelbandes und ältere Dokumente zeugen, nicht damit ausgestopft werden können.
Ich beginne meine Überlegungen mit den 1950er Jahren, denn viele Aufsätze des Sammelbandes und auch andere, wie die Dissertation von Lesley Dixon oder auch ein Artikel der Autorin Gerlinde Michel aus dem Jahr 2007, zeigen, dass wir offenbar noch immer nicht mit der Geburtsmedizin fertig geworden sind, die in den 1950er bis 1980er Jahren aufkam und vorherrschend wurde (Michel 2007). Ich will zunächst fragen, was es bedeutet, dass diese Geburtsmedizin erst möglich wurde, als das Konzept einer absoluten Zeit, nämlich einer linearen, durch den Zahlenstrahl dargestellten und mit der Uhr gemessenen Zeit, zur Ergründung der Natur der Geburt und zur Vereinfachung der geburtshilflichen Praxis herangezogen wurde. Eine Neuerung, die das Handbuch zum Active Management of Labor (1993), das McCourt zitiert, für entscheidend anerkennt: „Zeit liefert nicht nur den Weg, die Verteilung von Ereignissen zu beschreiben, sondern auch die Grundlage von deren Interpretation und Erklärung.” (McCourt 2009, 76)
Der Geburtshelfer Emanuel Friedman hatte in den 1950er Jahren das Konzept einer absoluten, also einer einzigen und für alle Menschen gleich gültigen Zeit in die Geburtsmedizin eingeführt. Dies erlaubte ihm, ein ideelles Konzept von der Geburt zu entwickeln, und die mentale Topologie seiner Zeit (jedenfalls die amerikanisch-europäische) fasste dieses Konzept als Norm für alle Gebärenden auf, eben biologisch. Im Sinne dieser Norm wurden die Eigenarten der Frauen als Abweichungen, Zufälligkeiten und als potenziell pathologisch umgedeutet.
In Analogie zur Messung einer Geschwindigkeit, nämlich als zurückgelegte Weglänge geteilt durch die verstrichene Uhrenzeit, führte Friedman die Dilatationsgeschwindigkeit der Zervix ein: Veränderung der Zervixöffnung geteilt durch die verstrichene Uhrenzeit. Friedman maß diese Dilatationsgeschwindigkeit bei 100 von ihm beobachteten Erstgebärenden und unterschied vier Phasen von Wehentätigkeit, um die Messergebnisse organisieren zu können – eine Unterteilung, die er selbst beklagte, aber dennoch machen musste, weil ihm eine kontinuierliche Messung nicht möglich war. Er mittelte die Messwerte, um zu einem Durchschnittsverlauf zu kommen. So entstand Friedmans Partogramm und so wurden die mannigfaltigen Geburten in Gestalt eines Diagramms biologisiert.
Bei der Praxis, die sich an dieses Partogramm anschloss, mussten die eigenartigen Gebärarbeiten der mannigfaltigen Frauen an den „Idealverlauf” angepasst werden. So hatte die Einführung einer absoluten Zeit in die Geburtshilfe zu einer Norm geführt, zu einer normalisierenden geburtshilflichen Praxis und zu einer neuen Pathologie, der Wehenschwäche, die durch die Abweichung der Messergebnisse an einer Frau von der Normkurve indiziert war. Für Emanuel Friedman war das ein großer Erfolg und sicherte den Eingang seines Namens in die Geschichte. Ich zitiere Friedman nach Bill R. Arney: „Die dynamische Natur der Wechsel in der Niederkunft hatte es in der Vergangenheit außerordentlich schwer gemacht, eine detaillierte und kritische Analyse der darin vorkommenden Zufälligkeiten und Abweichungen festzustellen. Der Einsatz einer Methode – welche die grafische Darstellung der Zervix-Zeit-Beziehung in der Dilatation ist – machte es möglich, diese relativ komplexe klinische Kunst zu vereinfachen.” (Arney 1982)
Später wurden statistisch festgelegte Grenzen für einen „normalen” Geburtsfortschritt auf dem Partogramm eingezeichnet, damit „Praktiker” mit weniger technischem Können – nämlich die Hebamme, die irgendwo im Nebenraum arbeitete, der junge Arzt im Krankenhaus oder von europäischen Ärzten ausgebildete GeburtshelferInnen in afrikanischen Dörfern – wissen, wann die Aufmerksamkeit der ExpertInnen angesagt ist, beziehungsweise die Geburt in eine Klinik verlegt werden soll. Auf diese Weise konnte die Profession der Geburtsmedizin eine Kontrolle ihrer GehilfInnen über geografische Entfernungen einsetzen. Später kamen Instrumente hinzu, mit denen die Zervixerweiterungen gemessen und in ein Rückkopplungssystem mit Oxytocin-Pumpen eingebunden werden sollten, um die uterinen Kontraktionen automatisch zu steuern.
Die weltweite Ausbreitung der neuen Geburtsmedizin war von einer universellen Auffassung von der Natur der Geburt motiviert. Die Leerstelle in der geburtshilflichen Praxis, die in jener Kultur der Hebammenkunst so augenscheinlich ist, von der Denis Walsh 2009, Lesly Dixon 2011 und Matha Ballard Ende des 18. Jahrhunderts zeugen, in der die Frauen im Fluss ihrer somatischen Zeit ihr Kind gebären, wurde von einem äußerst tätigen, im Idealfall kontinuierlichen Strom von Messungen und normalisierender Steuerung seitens der GeburtsmedizinerInnen und Klinikhebammen besetzt.
Die Lähmung, über die ich sprechen möchte, hat weniger mit jener neuartigen Pathologie zu tun, die nicht körperlichen Ursprungs, sondern aus der Verabsolutierung der Geburt hervorgegangen ist; denn ohne die Idee von einer absoluten Zeit hätte es keine „normale Geburt” gegeben und keine Wehenschwäche, die eine Abweichung von dieser Norm ist und die durch Vergabe von Oxytocin korrigiert werden muss. Die Lähmung, die mich umtreibt, hat vielmehr mit iatrogenen Effekten des Partogramms zu tun, von denen beispielweise Lesley Dixon in ihrer Untersuchung berichtet. Dazu gehören die Irritationen der Gebärenden darüber, in welcher der Phasen sie wohl gerade seien. Eine Frau berichtet folgendermaßen von ihrer Geburt: „Ich kann mich nicht mal daran erinnern, wie diese Phasen lauteten. Ich hatte während der Geburt keine Ahnung, in welcher Phase ich war oder nicht war, aktive oder passive, keine Ahnung, daran kann ich mich nicht mal mehr erinnern. Ich erinnere mich, dass mir jemand sagte – weißt du, als ich gerade eine Wehe hatte – dass es die Latenzphase sei oder so ähnlich, und dann hab ich gesagt, oh toll, das ist cool, ich bin noch nicht in der aktiven Phase oder wo auch immer.” (Dixon 2011, 156)
Das Partogramm ist für die Gebärenden unfühlbar und kann ihnen daher keine Orientierung liefern, das Gegenteil ist der Fall. Sobald die Frauen das Partogramm als Maßstab für ihren „Fortschritt” ansehen, sind sie von äußerlichen Messungen abhängig, die mit ihrer eigenen Wahrnehmung wenig zu tun haben. Viele Gebärende berichten, dass sie die Hebammen aufgefordert haben, die Weitung ihres Gebärmuttermundes zu messen, um zu wissen, wie weit sie denn seien: „Ach, ich musste das einfach wissen, es wäre für mich verheerend gewesen, wenn es nur drei Zentimeter oder so gewesen wären. Ja, nein ich wollte wissen, wo ich war, denk ich.” (Dixon 2011, 161)
Das Partogramm wird zu einem Orientierungsmittel, über das die Gebärenden selbst nicht urteilen können. Die Interviews, in denen Lesley Dixon mit Frauen deren Geburtserfahrung zur Sprache brachte, zeigen, dass es die Schwangeren in Unruhe versetzt, ob sie zu spät sind oder wie lange es noch dauert, auch weil der zeitliche Horizont durch das Partogramm beschränkt und objektiviert wird, der sich aus der Perspektive der Gebärenden ganz anders darstellt. Die Erzählungen der Frauen zeigen, dass die Stadien des Partogramms ihre somatische Wahrnehmung negiert – ihr sogar widerspricht.
Noch eine andere Geschichte stammt von der Mutter einer Freundin. Als sie mit ihr schwanger war, ist sie ohne akuten Grund zu einer bereits verabredeten Untersuchung bei ihrem Gynäkologen gegangen. Sie fühlte sich nicht anders als die Tage vorher und dachte sich nichts weiter. Der Gynäkologe maß die Öffnung ihres Gebärmuttermundes und schickte sie augenblicklich ins Krankenhaus, da er den Beginn der Geburt indiziert sah. Auch diese Geschichte erzählt von einer Kränkung des Vertrauens der Schwangeren in ihre eigene Wahrnehmung und Urteilsfähigkeit.
Die Berichte der Schwangeren zeugen von einem Verlust ihrer Autonomie, der durch ein Konzept von der Natur der Geburt zustande kommt, das etwas über die Frauen aussagt, ohne dass sie es von ihrer Wahrnehmung, Gewissheit und Intuition her begreifen könnten. Das Partogramm spricht von einem Zeitprogress, der somatisch nicht gegründet ist. Dixon kritisiert diese entkörpernde Wirkmacht von Friedmans Partogramm als Folge einer von Männern entwickelten Geburtshilfe, die nicht von den Erfahrungen von Frauen, sondern allein von Beobachtungen an Frauen ausgeht, und spricht von einem Reduktionismus, wenn das Verständnis von Geburt auf die Zervixdilatation beschränkt wird.
Auch heute noch ist Friedmans Partogramm bedeutsam, obgleich sich die Geburtsmedizin durch die Risikomedizin und evidenzbasierte Medizin seit damals stark gewandelt hat. Mit ihnen sind neue Konzepte von Zeitlichkeit in der Geburtshilfe aufgetaucht, die von den Autorinnen im Sammelband gar nicht besprochen werden.
Die Risikomedizin stammt nicht aus der Geburtsmedizin, sondern aus der Epidemiologie und Versicherungswissenschaft. Seit den späten 1970er Jahren ist sie durch den Einfluss von PerinatologInnen für die Geburtsmedizin bedeutsam geworden. Schließlich wurde sie durch die evidenzbasierte Medizin ergänzt und verwandelt, die aus einer Selbstkritik von MedizinerInnen in den 1980ern hervorgegangen ist. Für die von Hebammen geführte Geburtshilfe ist die evidenzbasierte Medizin seit wenigen Jahren vorherrschend. Ich möchte nun auch die Frage aufgreifen, mit welchen Zeitkonzepten die Risikomedizin und evidenzbasierte Geburtshilfe die Frauen konfrontiert und welcher Art deren Wirkungen auf die somatische Zeitlichkeit und Autonomie der Schwangeren sind.
Sowohl die Risikomedizin als auch die evidenzbasierte Geburtshilfe gründen auf Statistik und Wahrscheinlichkeitstheorie, sie unterscheiden sich aber in ihren Gegenständen. Die Risikomedizin zielt auf die Prävention möglicher Ereignisse. Was hier in Frage steht, ist beispielsweise das Auftreten einer bestimmten Pathologie und ihre Prävention. Der Gegenstand der evidenzbasierten Geburtshilfe ist nicht die Prävention der Pathologie, sondern die Auswahl und Anwendung von Maßnahmen, also die medizinische oder geburtshilfliche Praxis und ihre Effizienz. Beide Bereiche werden heute selbstverständlich miteinander verbunden.
Die Risikomedizin geht, anders als Friedman, nicht von einer kontinuierlichen Zeit aus, sondern von einer punktuellen. Im Zentrum steht der Begriff des Zufallsereignisses, das sich unvorhersehbar realisiert oder nicht realisiert. Es geht beispielsweise um das mögliche Auftreten einer Trisomie 21, irgendwann, irgendwo, im Leib irgendeiner Schwangeren, jede kann es treffen, jederzeit, überall. Der Begriff des Zufallsereignisses stammt aus dem Glücksspiel, nur ist es hier ins Negative gewendet. Anders als eine Erkältung, der Beginn einer Geburt oder der Schnee, bricht es ohne Ankündigung herein und lässt sich nicht verhindern. Und genauso, wie der Glücksspieler blind ist gegenüber dem Zufall, muss auch in der Praxis der Risikomedizin die Möglichkeit einer in der Physis begründeten Symptomatik aufgeben werden. An die Stelle von Symptomen treten Risikofaktoren und an die Stelle der Diagnostik tritt die Klassifizierung.
Silja Samerski, Humangenetikerin und Soziologin, hat in den 1990er Jahren Beratungssitzungen in der Pränataldiagnostik dokumentiert. Dabei hat sie festgestellt, dass die allermeisten Frauen dort gelandet sind, weil sie das Alter von 35 Jahren überschritten hatten. Diese Frauen sind aufgrund einer Klassifikation in die Beratungssitzung gekommen, nicht aber weil es eine medizinische Indikation, eine Intuition oder irgendein körperliches Anzeichen gegeben hätte, das auf eine drohende Gefahr für sie oder das Kind verwiesen hätte.
Die Risikomedizin hat die Eingriffsmöglichkeiten der Medizin und Geburtshilfe um neuartige Maßnahmen erweitert, die nicht wegen körperlicher Symptome, sondern auf der Grundlage einer Klassifikation angewendet werden können. Wie bei Friedmans Partogramm könnte man auch hier von neuartigen Pathologien sprechen, die aus der Risikomedizin und nicht aus körperlichen Ursachen hervorgehen, nämlich infolge von Klassifikationen (älter als 35 Jahre), und die verschiedenen Eingriffe begründen können (beispielsweise eine Blutuntersuchung, einen Ultraschall, regelmäßige Kontrollen). Mich interessieren jedoch die subtileren iatrogenen Effekte, die erneut die somatische Zeitlichkeit und die Autonomie der Schwangeren betreffen.
Das Konzept des Zufallsereignisses bringt ein fiktionales Verhältnis zwischen Gegenwart und Zukunft mit sich. Denn Zufallsereignisse deuten sich weder somatisch noch in der Intuition durch äußerlich wahrnehmbare Ursachen an. Das Alter von 35 Jahren ist kein Symptom und auch nicht spürbar wie: Mein Bauch tut weh; mich fröstelt; es ist anders als sonst, vielleicht stimmt etwas nicht; mich dünkt, ich bin schwanger. Damit bildet die Risikomedizin den äußersten Gegensatz zu einer wesentlichen historischen und kulturell symbolischen Bedeutung von Geburt, nämlich sinnbildlich zu sein für eine Zukunft, mit der die Gegenwart schwanger ist. Das Zufallsereignis aber steht für die ungegenwärtige Zukunft, sein Sinnbild ist Pandoras Büchse. Gerade weil diese beiden Sinnbilder – die mit der Zukunft schwangere Gegenwart und Pandoras Büchse – zugleich maximal gegensätzlich und maximal ähnlich sind, sind Schwangere dafür anfällig, zwischen ihnen zu changieren und so ihre intuitive und somatisch begründete Gewissheit und Urteilskraft in Zweifel zu ziehen.
Die iatrogenen Effekte, die zustande kommen, wenn die Heterogenität zwischen Gefahr und Risiko, zwischen Symptom und Risikofaktor nicht mehr körperlich gewusst wird, betreffen auch hier unmittelbar die Autonomie und Fähigkeit der Schwangeren, bei sich zu bleiben und auf ihr Können zu vertrauen. Sie führen zu einem Selbstverhältnis, das Silja Samerski als Leben im Modus irrealis bezeichnet hat, in dem die Frauen ihrer Befindlichkeit mit ständigem Misstrauen begegnen und in Tests und Interventionen Gewissheit suchen, die zeitlich „vorgängig”, das heißt ohne vorliegende physiologische Gründe, angewandt werden, und daher ihr Misstrauen in ihre Sinne weiter vertiefen.
Die lähmende Wirkung der Risikomedizin kommt aber zuallererst daher, dass sie in ihren Voraussetzungen unterstellt, dass dort nichts ist, wo für die Schwangeren das persönliche Geschehen der Schwangerschaft und des Gebärens somatisch wirklich sind. Dies können sie fast nur in der grammatikalischen Form des Mediums – einer Form zwischen Aktiv und Passiv, die nicht in der für uns gewohnten Weise trennt zwischen Subjekt und Objekt – zur Sprache bringen. „Es ist mir”, „mir scheint”, „es geht mir”, „es fühlt sich an”, „mir tut es weh”, „es besorgt mich”, „mich dünkt”, „mich ahndet”, „mir graut es”, „es freut mich”, und nicht zuletzt: „Es ist gut”, sind dafür typische Formulierungen. All diese Ankündigungen und Weisen, wie „es” sich befindet, sind grundlegend dafür, dass die Frauen überhaupt etwas wie Gewissheit oder Vertrauen haben können, und dass ihre Gegenwart mit der Zukunft schwanger sein kann. Erst wenn „es” sich nicht mehr befindet, wenn der Zugang zur Gewissheit nicht mehr ist, sind die Frauen von Pandoras Büchse bedroht. Dann wird der Fluss der somatischen Zeit durch die punktuelle Zeit des hereinbrechenden Zufallsereignisses unterbrochen.
Denis Walsh führt den Begriff der bezüglichen Zeitlichkeit ein. Die somatische Zeit unter der Geburt ist nicht allein die der Gebärenden. Die Hebamme Beverley musste die Mutter des Teenagers erst rausschicken, damit das Mädchen gebären konnte. Dass es geschehen kann und wie es schließlich geschieht, ist unaufhebbar persönlich und alle persönlichen Bezüge und Konflikte, Scham wie Stolz, Ängste und Zutrauen sind mit dem körperlichen Geschehen untrennbar verbunden. Beverley versuchte aus dem Weg zu räumen, was das Mädchen hemmte, und das brauchte ihre Geistesgegenwart.
Was Walsh mit „dabei sein” meint, ist, dass die Hebamme ein Teil des Geschehens ist. Die Geburtsmedizin hat seit Friedman zunehmend bewirkt, dass die Position der Hebamme objektiviert wurde, dass sie, und natürlich gilt das auch für die GeburtsmedizinerInnen, auf eine spezifische Art von Distanz gebracht oder dort gehalten wurde. Ich meine, dass dieser „Sicherheitsabstand” die Hauptwirkung der evidenzbasierten Medizin ist und eine Voraussetzung für die Massenabfertigung und ihre Erträglichkeit, an der heute ÄrztInnen und Hebammen nicht mehr vorbeikommen.
Als der britische Epidemiologe Archie Cochrane, einer der Begründer der evidenzbasierten Medizin, seine Ideen entwickelte, war er von seinen Erfahrungen als junger Arzt in Arbeitslagern im Zweiten Weltkrieg beeinflusst. Vor allem hatte er beobachtet, wie wenig Medikamente zur Therapie der Kranken beitrugen, die, trotz der bescheidenen Mittel, wohl vor allem aus eigener Kraft, genesen konnten (Cochrane 1972). Er wollte den zu seiner Zeit vorherrschenden Mythos von der therapeutischen Macht der Mediziner aufdecken und mit Hilfe von randomisierten statistischen Studien die medizinische Praxis auf ihre Wirksamkeit hin untersuchen. Seitdem hat sich die evidenzbasierte Medizin zu einem Ordnungsprinzip für die medizinische und geburtshilfliche Praxis verwandelt.
Leitlinien haben in der Geburtsmedizin heute vermutlich einen ähnlichen Status wie in den 1950ern Friedmans Partogramm, doch ist ihr Ausgangspunkt verschieden. Friedman hatte auf der Grundlage linearer Uhrenzeit ein allgemeines Konzept eines Geburtsfortschritts entwickelt und davon seine Praxis abgeleitet. Doch für ihn und seinesgleichen war der Ausgangspunkt selbstverständlich noch immer die Geburt, ihre Beforschung und die Erfahrung.
Leitlinien gehen jedoch nicht mehr von der Geburt aus. Vielmehr geht es um eine Selektion und Organisation von Studien in Form einer Geburtslogistik nach Kriterien, welche die Qualität der darin aufgenommenen Studien garantieren sollen. Hebammen und GeburtsmedizinerInnen haben sich in erster Linie auf Leitlinien zu beziehen und in zweiter auf die Studien, aus denen für die Leitlinie eine Auswahl getroffen wurde. Erst an dritter Stelle stehen unvermittelte Beobachtungen und Urteile, die systematisch angezweifelt werden müssen. Praktisch ist das eine rechtlich bindende Utopie, die von Hebammen und MedizinerInnen verlangt, ihre persönliche Erfahrung, ihre Intuition und ihr Urteil anzuzweifeln, um die Gebärarbeit der Frauen teilnahmsvoll wie ein außenstehender Beobachter, nämlich objektiv und empathisch zu unterstützen. Auch dies hat iatrogene Folgen, die das klare Denken und das Vertrauen von ÄrztInnen und Hebammen in die eigene Wahrnehmung und Urteilsfähigkeit lähmen.
Wenn eine Leitlinie vorsieht, dass bei einer Schwangeren, deren Gebärmuttermund eine gewisse Weitung vorweist, stündliche Kontrollen gemacht werden sollen, so wird das Verständnis der Geburt und der Begründung einer Maßnahme von diesem Schwellenwert her verstanden. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die Geschichte der Schwangeren – zum Beispiel ihr Wunsch, Weihnachtseinkäufe zu machen – oder ihre Wahrnehmung darin keine Bedeutung haben.
Das Zeitkonzept, das Leitlinien zu Grunde liegt, besteht darin, dass Maßnahmen in eine logische Abfolge gebracht werden, die konditional an beobachtbare, messbare oder bloß feststellbare Inzidenzen geknüpft werden. Diese Abfolge von Inzidenzen und Maßnahmen färbt die Vorstellung, die sich Hebammen und ÄrztInnen von der Natur der Geburt machen. Das Ordnungsprinzip der Leitlinie lenkt die Aufmerksamkeit und bestimmt, was eine Geburt ausmacht, im Sinne von, was wichtig ist, was beobachtet, was beachtet werden muss und was als Begründung für die Praxis gelten kann. Im Mittelpunkt steht dabei die Entscheidung über die Anwendung von Maßnahmen, die der Stoff sind, aus dem sich die geburtsmedizinische Praxis zusammensetzt.
Was in der Geburtshilfe wirklich zählt, lässt sich nicht zählen. Diesen Satz, den ich als Titel meines Vortrages gewählt habe, fand ich ebenfalls in dem Buch über Zeitkonzepte der Geburt. Ich wollte daran erinnern, dass einst die Niederkunft der Gebärenden die Mitte des Geschehens ausmachte, bei dem die Hebamme dabei war. Dies ist in Vergessenheit geraten, als die Geburtsmedizin versuchte, eine universelle Theorie von der Natur der Geburt zu formulieren, die allgemein und von dem somatischen Erlebnis der Frauen unabhängig wäre. Dazu haben ich drei Konzepte in der Geburtsmedizin skizziert, die jedes Mal eine bestimmte Praxis und ein damit verbundenes Konzept von der Geburt konstituiert haben: das Konzept einer absoluten, linearen Zeit; das Konzept des Zufallsereignisses und ein Konzept der logistischen Ordnung von Maßnahmen und Inzidenzen. In allen drei Konzepten haben wir es mit einer sehr tätigen Geburtshilfe zu tun.
Das Partogramm von Friedman hat zu einer Beschleunigung von Geburten geführt. Die Risikomedizin hat erlaubt, Interventionen ohne physiologische Grundlage auszuweiten und die Gegenwart von der Zukunft bestimmen zu lassen. Der evidenzbasierten Geburtshilfe ist es zwar gelungen, ein Auswahlprinzip unter verschiedenen Maßnahmen zu entwickeln, aber sie hat dabei die Geburtshilfe als Logistik von Maßnahmen positiviert. Diese Logistik impliziert ein Konzept von Geburt als Abfolge von Inzidenzen, die festlegen, was für die Betreuung entscheidend ist und worauf geachtet werden muss. Was in keiner dieser Kulturen von Geburtsmedizin vorkommt, ist das Verständnis der somatischen Zeit der Gebärenden.
In jedem Fall habe ich einige iatrogene Folgen dieser Versuche für die Autonomie, die Orientierungsfähigkeit und das Selbstvertrauen der Frauen geschildert, die vielleicht nicht ganz offensichtlich sind. Über die iatrogenen Effekte der heutigen Medizin und Geburtshilfe zu sprechen ist schwierig. Als in den späten 1970ern öffentlich anerkannt wurde, dass die Medizin und vor allem die Geburtsmedizin unerwünschte Nebenwirkungen hat, wurde die evidenzbasierte Medizin und Geburtshilfe eingeführt, um diese Nebenwirkungen zu kontrollieren, wenn nicht gar zu überwinden. Beide versuchen das, indem sie die Involvierung der Person des Arztes und der Hebamme aus der medizinischen und geburtshilflichen Praxis ausschließen wollen, und dies erneut mit iatrogenen Folgen.
Ich möchte die Frage in den Raum stellen, ob man nicht die Vorstellung aufgeben muss, dass die Medizin und auch die Geburtshilfe „rein”, also gänzlich ohne Nebenwirkungen, sein könnten. Ich wollte daran erinnern, dass einst vielleicht die Niederkunft der Gebärenden die Mitte des Geschehens ausmachte, bei dem die Hebamme dabei war, weil ich mir vorstellen könnte, dass es eine Erleichterung wäre, wenn die extreme Fixierung auf die evidenzbasierte Medizin in der Geburtshilfe etwas gelockert würde.
Ich schließe mit der These, dass die Grundlage für jene Leerstelle, um die es mir hier ging, darin lag, dass es Zeit braucht, dass Zeit nicht etwas ist, das den Frauen genommen werden darf, weil sie nicht knapp ist. Ich schließe mit einer Einsicht, die ich von zwei Hebammen, Soo Downe und Fiona Dykes, gelernt habe (McCourt 2009, S. 78): „Zeit ist nicht etwas, das man rationieren muss; ist keine knappe Ware, die gebärende Frauen verschwenden; ist keine Methode, um Pathologien zu ermitteln und auch nicht für sich selbst ein Anzeichen für eine Pathologie; Zeit ist keine Abfolge von Hindernissen, anhand derer die Gebärarbeit einer Frau beurteilt werden muss; und sie ist kein Instrument für eine Industrialisierung der Geburtsarbeit. Es hat einfach Zeit. Gebärende Frauen können sich ihre Zeit nehmen, sie sollte ihnen nicht genommen werden.”
Hinweis: Der Artikel basiert auf einem Vortrag von Prof. Dr. Barbara Duden auf der Tagung „Geburtshilfe im Dialog” in Hannover am 18. September 2015. Er wurde von den Autorinnen und dem Redaktionstem der DHZ überarbeitet.
Arney, B. R.: Power and the Profession of Obstetrics. Chicago. University Press, S. 143 (1982)
Cochrane, A.: Effectiveness and Efficiency. Random Reflections on Health Services. The Nuffield Provincial Hospitals Trust. Einleitung (1972)
Dixon, L. A.: The Integrated Neurophysiology of Emotions during Labour and Birth. Victoria University of Wellington. Wellington (2011)
McCourt, Ch. (Hrsg.): Childbirth, Midwifery and Concepts of Time. Berghahn Books. New York (2009)
Michel, G.: Rhythmus statt Fortschritt. Hebamme.ch. 6: 4–8 (2007)