Essraum für das Personal im Getto-Hospital. Sygn. 1122, fot. 15-428-4, Archiwum państwowego w Łodzi

Die Hebamme Rachel „Rosa“ Herszenberg lebte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Lodz. Nachdem die Nationalsozialisten die westlichen Gebiete Polens als „Ostgebiete“ dem Deutschen Reich angegliedert hatten, durfte sie als Jüdin nur noch jüdische Frauen betreuen. 1940 wurde die jüdische Bevölkerung von Lodz in einem Getto eingepfercht, das hermetisch abgeriegelt wurde. Ab 1942 wurden alle arbeitsunfähigen GettobewohnerInnen ins Vernichtungslager deportiert – Schwangerschaft und Geburt wurden damit zur Todesdrohung. Rachel Herszenberg half im Getto trotzdem Kindern auf die Welt.

Rachel Herszenberg (1901–1977) Foto: Privatbesitz Salomea Kape

Rachel Herszenbergs Rufname war Rosa. Sie und ihre Zwillingsschwester Anna wurden am 1. Januar 1901 in Lodz als jüngste von sechs Kindern der jüdischen Eheleute Joseph und Frymeta Toronczyk geboren. Beide Töchter wurden später Hebammen. Lodz war damals eine aufstrebende Industriestadt. Hier hatte Mitte des 19. Jahrhunderts ein Boom vor allem in der Textilbranche stattgefunden. 1939 lebten in Lodz etwa 670.000 Menschen, von denen rund 35 Prozent jüdisch waren, 10 Prozent deutsch und 55 Prozent waren christliche Polinnen und Polen (Sitarek & Trebacz 2012).

Von der Industrialisierung konnte die Familie Herszenberg nur begrenzt profitieren. Die finanzielle Situation war häufig angespannt. Obwohl der Vater ein Haus besaß und Mieteinnahmen hatte, wurden Rachel und ihre Zwillingsschwester Anna mehrmals von der Schule suspendiert, da die Familie das Schulgeld nicht bezahlen konnte.*

Rachel absolvierte nach Gymnasium und zweijähriger Krankenpflegeausbildung 1920 den einjährigen Hebammenkurs in Lodz. Sie arbeitete anschließend als niedergelassene Hebamme und betreute vor allem jüdische Frauen. Ihr Ehemann Calel Herszenberg (1896–1974) war ein jüdischer Baumwollhändler aus Lodz. Am 17. Mai 1926 wurde ihre einzige Tochter Salomea geboren. Zwar verstand sich die Familie als jüdisch und feierte hohe Feste wie Pessach; religiöse Themen spielten darüber hinaus jedoch keine große Rolle.

Oft übernachtete Rachel Herszenberg bei ihren Patientinnen, wie Salomea Kape in einem Brief erzählt: „(…) Sie hatte Angst, sie ohne Möglichkeit zur Verständigung zurückzulassen, da ein Telefonwesen im Grunde nicht existierte und das ungenügende Transportwesen in einer Notfallsituation wenig Hilfe bot; sie konnte sich nur auf die Geschwindigkeit ihrer eigenen Beine verlassen, und sie war keine Marathonläuferin. Mama verbrachte oft einige Nächte im Appartement einer Patientin (…), wobei sie manchmal vergaß, die Adresse der Patientin zu Hause zu hinterlegen. Mein Vater war ein bekanntes Gesicht auf der Polizeiwache, wo er oft um Hilfe ansuchte, um seine Frau zu finden.”

Über die Jahre erwarb sich Rachel Herszenberg einen sehr guten Ruf in der jüdischen Gemeinde von Lodz: „Die begeisterte Mund-zu-Mund-Propaganda ihrer Patientinnen machte sie zu einer höchst beliebten Person in jüdischen Familien. Während des Kriegs, im Getto, halfen mir einige ihrer einflussreichen Patientinnen, Arbeit zu finden”, schreibt Salomea Kape.

Wenige Wochen nach der Besetzung Polens durch Deutschland erklärte Hitler am 26. Oktober 1939 die westlichen Teile des Landes zu „deutschen Ostgebieten”. Die neu geschaffenen „Reichsgaue” „Wartheland” und „Danzig-Westpreußen” sowie die Regierungsbezirke Kattowitz (Polnisch: Katowice) und Zichenau (Polnisch: Ciechanów) wurden in das Deutsche Reich eingegliedert. Das Generalgouvernement wurde als besetztes „Restpolen” unter deutsche Verwaltung gestellt (Koslov 2008). Die Stadt und der Kreis Lodz wurden im November 1939 in das Gebiet des „Warthegaus” eingeschlossen. Im April 1940 wurde Lodz in „Litzmannstadt” umbenannt (Sitarek & Trebacz 2012). Die nationalsozialistische Expansionspolitik zielte darauf ab, in den besetzten und ins Deutsche Reich eingegliederten polnischen Gebieten neuen „Lebensraum” zu schaffen und die militärisch eroberten Gebiete durch „Germanisierung” zu sichern. Dies beinhaltete eine völlige Umgestaltung: Die Bevölkerung sollte nach rassischen Kriterien neu zusammengesetzt werden, die Architektur wurde neu gestaltet, die Wirtschaft in Stadt und Land neu strukturiert und Orts- und Straßennamen eingedeutscht.

Die deutschen Besatzer etablierten eine Gewaltherrschaft unter der Prämisse der Germanisierungspolitik. Am untersten Ende der Hierarchie stand die jüdische Bevölkerung. Der jüdischen, aber auch der christlich-polnischen Bevölkerung wurde der Besitz geraubt, ihre Geschäfte und Firmen wurden „arisiert” und sie mussten ihre Wohnungen im Bedarfsfall für Deutsche räumen. Sowohl christliche wie auch jüdische Polinnen und Polen waren zudem permanent von der Verschleppung zur Zwangsarbeit und Deportation ins Generalgouvernement bedroht (Alberti 2006, Haar 2007, Heinemann 2003).

Arbeitskarte für das Getto Litzmannstadt der Hebamme Rachel (im Ausweis jiddische Form von Rachel „Ruchla“) Herszenberg Foto: Privatbesitz Salomea Kape

Die Schwester nach Sibirien deportiert

Nachdem die deutsche Wehrmacht Polen besetzt hatte, floh Rachels Schwester Anna Toronczyk wie weitere 60.000 Menschen aus Angst vor den deutschen Besatzern aus Lodz in die Sowjetunion (Sitarek &Trebacz 2012). Wie viele polnische Flüchtlinge wurde sie auf Weisung Stalins nach Sibirien deportiert, wo sie zwei Jahre lang Zwangsarbeit leisten musste, bevor sie nach Russland zurückkehren durfte. Nach dem Ende des Krieges plante Anna Toroncyk in die USA auszuwandern. Während sie in Berlin auf die Einreisegenehmigung des US-Amerkanischen Konsulats wartete, arbeitete sie bis 1948 als Hebamme in einem Krankenhaus in Berlin-Mariendorf, wie eine Arbeitsbescheinigung vom Juli 1948 belegt. Letztlich entschied sie sich jedoch gegen die Auswanderung und kehrte Ende der 1940er Jahre nach Lodz zurück, wo sie Oberhebamme im Krankenhaus des Roten Kreuzes wurde. Das Schicksal der drei älteren Schwestern von Anna und Rachel ist nicht bekannt; ihr älterer Bruder Ben emigrierte schon früh in die USA.

Das Getto Litzmannstadt

Vor ihrer Flucht in die Sowjetunion bot Anna ihrer Schwester Rachel an, ihre Stelle als leitende Hebamme in der Entbindungsklinik Lodz zu übernehmen. Rachel Herszenberg nahm an. Sie ging davon aus, dass der Krieg nicht lange dauern und die alliierten Streitkräfte bald siegen würden. Deshalb sah sie keinen Grund, Polen zu verlassen. Im Krankenhaus arbeitete sie sowohl als Hebamme wie im Bedarfsfall auch als Krankenschwester. In Abwesenheit von Ärzten übernahm sie darüber hinaus ärztliche Aufgaben und verabreichte beispielsweise Narkosen. 1940 wurde das Reichshebammengesetzes von 1938 in den „eingegliederten Ostgebieten” eingeführt. Von nun an durften jüdische Hebammen nur noch bei Jüdinnen Geburtshilfe leisten. Von der Ausbildung zur Hebamme wurden sie grundsätzlich ausgeschlossen, wie die „Verordnung zur Einführung des Hebammengesetzes in den eingegliederten Ostgebieten” 1940 bestimmte.

Mit Beginn des Jahres 1940 musste die jüdische Bevölkerung von Lodz in einen als „Judenbezirk” deklarierten Teil der Stadt umziehen – er umfasste den jüdischen Armenstadtteil Bałuty, die Altstadt (Stare Miasto) und Marysin im Innenstadtbereich von Lodz. Anders als in anderen Städten des „Warthegaus” mit jüdischen Wohnbezirken wurde das Getto Litzmannstadt mit seinen etwa 160.000 Bewohnerinnen und Bewohnern am 30. April 1940 hermetisch abgeriegelt. Ein Kontakt zur „arischen” Seite war kaum mehr möglich (Alberti 2006).

Über das Leben im Getto schrieb Salomea Kape 2012: „Wir konnten das Getto nicht verlassen, es war von Stacheldraht umgeben und alle paar Meter beobachteten deutsche Soldaten die Straßen. Wir gingen nie nahe am Draht, weil einige Soldaten sich einen Spaß daraus machten, auf die Juden zu zielen und zu schießen wie Jäger, die Tiere töten. Das Getto Lodz war ein Gefängnis, isoliert und hermetisch abgeschlossen. Meine Mutter kümmerte sich nur um jüdische Patientinnen im Getto und hatte keinen Kontakt zu deutschen oder polnischen Hebammen – (…) wir lebten in vollständiger Isolation und die Hitlerschen Gesetze verboten jeglichen Kontakt mit Polen oder Deutschen.”

Die Deutschen setzten für das Getto eine jüdische Selbstverwaltung mit Chaim Rumkowski (1877–1944, ermordet in Auschwitz; vgl. Benz et al. 2007) als „Judenältesten” an der Spitze ein. Innerhalb des Gettos baute die jüdische Selbstverwaltung eine eigene Sozialstruktur mit Wirtschaftsbetrieben, Verwaltung, Archiv und Gesundheitsversorgung auf. Das Krankenhaus, in dem Rachel Herszenberg bereits zuvor gearbeitet hatte, war nun eines von fünf Krankenhäusern und vier Ambulatorien des Gettos (Löw 2006). Neben Rachel Herszenberg ließen sich im Spätsommer 1940 weitere 24 Hebammen registrieren (Archiwum Panstwowe w Lodzi, ohne Jahr; eventuell Spätsommer 1940). Vermutlich halfen sie den Kindern auf die Welt, die trotz des allgegenwärtigen Hungers und der lebensfeindlichen Bedingungen im Getto geboren wurden. Kaum eines der dort geborenen Kinder überlebte.

Traumatischer Wendepunkt

Die Aktion „Allgemeine Gehsperre” Anfang September 1942 stellte einen traumatischen Wendepunkt in der Geschichte des Gettos dar. Am 4. September hielt Chaim Rumkowski eine Rede, die er mit den Worten begann: „Das Getto ist von einem schweren Schmerz getroffen. Man verlangt von ihm das Beste, was es besitzt – Kinder und alte Menschen.” (Löw 2006). Im September 1941 hatten Heinrich Himmler, Reichsführer SS, Chef der deutschen Polizei und „Reichskommissar für die Festigung Deutschen Volkstums”, und Arthur Greiser, Reichsstatthalter des Reichsgaues Wartheland, die Entscheidung getroffen, alle „arbeitsunfähigen” Juden zu ermorden (Alberti 2006). Dazu gehörten auch Schwangere und Kinder. Die Anordnung des „Reichssicherheitshauptamtes”, alle Gettobewohnerinnen und -bewohner unter zehn und über 65 Jahren, alle Kranken und Arbeitslosen ins Vernichtungslager Kulmhof (polnisch: Chelmno) zu deportieren, wurde in Litzmannstadt umgesetzt. Die Brutalität der deutschen Polizei und Gestapo beim Zusammentreiben der Menschen war ein Schock für die Gettobevölkerung. Salomea Kape berichtet, wie viele andere Zeitzeugen, von Kindern und Kranken, die aus den Fenstern der Krankenhäuser auf die wartenden Laster geworfen wurden. Insgesamt fielen während der Aktion 15.685 Menschen den Selektionen zum Opfer, darunter 5.860 Kinder. 600 Menschen wurden während der Aktion erschossen (Löw 2006).

Am 12. September 1942 wurde die „Allgemeine Gehsperre” beendet. Das Getto wurde nun zu einem reinen Arbeitslager umfunktioniert. Menschen, die keine Arbeit hatten oder nicht arbeiten konnten, drohte die Deportation (Löw 2006). Eine Schwangerschaft war unter diesen Bedingungen ein hohes Risiko. Nach der Aktion „Gehsperre” ließen – wie sich Salomea Kape erinnert – viele Frauen eine Abtreibung durchführen. Rachel Herszenberg arbeitete nun verstärkt in der neu errichteten Abtreibungsklinik als Assistentin.

Ab Juni 1944 wurde das Getto auf Befehl Himmlers geräumt. Die etwa 70.000 bis dahin im Getto verbliebenen Bewohnerinnen und Bewohner wurden in Auschwitz vergast oder zur Zwangsarbeit ins „Altreich” deportiert. Nur eine Gruppe von etwa 600 bis 850 Jüdinnen und Juden blieb nach der Auflösung des Gettos im Sommer 1944 für Aufräumarbeiten zurück. Etliche versteckten sich zudem auf dem Gebiet des Gettos, um der Deportation zu entgehen (Löw 2006). Salomea Kape schreibt dazu: „[…] niemand weiß genau, wie viele Juden nach der Liquidation im Getto verblieben. Eine Liste der Überlebenden gibt es wegen des Chaos und der Begeisterung bei der Befreiung nicht. Wir waren betrunken, ohne einen Tropfen Wodka getrunken zu haben.”

Um ein Aufräumkommando für das Gettogebiet zusammenzustellen, selektierte Hans Biebow die verbliebenen Gettobewohnerinnen und -bewohner. Bibow (1902–1947) war Leiter der bei der Stadtverwaltung Litzmannstadt angesiedelten und dem Oberbürgermeister unterstellten NS-Behörde „Ernährungs- und Wirtschaftsstelle Getto” und als solcher verantwortlich für die Liquidierung des Gettos und die Deportationen in die Vernichtungslager oder zur Zwangsarbeit (Klee 2011; Löw 2006). Salomea Kape erinnert sich: „Während der Selektion schickte Biebow uns auf die linke Seite und drehte uns dann den Rücken zu. Mama stellte eine schnelle Straßendiagnose (‚Die Gruppe auf der rechten Seite sieht jünger und gesünder aus.‘) und fällte eine Blitzentscheidung: Sie drängte uns mit aller Kraft auf die rechte Seite zu der Gruppe, die Biebow ausgewählt hatte, im Getto zu bleiben. Diese Entscheidung, die sie mit ihren scharfen Augen getroffen hatte, ihr ausgeprägtes Gespür für einen lebensgefährlichen Notfall und ihre schnelle Reaktion retteten unser Leben. Wie eine gute Hebamme, die sie sicherlich war, wusste sie, wie man schnell Information in Handlung umsetzt.” (Salomea Kape veröffentlichte ihre Erinnerungen an Biebow unter: http://anja-peters.de/download/Biebow_from_Bremen.pdf).

Das Unmögliche möglich machen

Waren Schwangerschaft und Geburt schon zuvor Risiken, verschärfte sich die Situation mit der Auflösung des Gettos. Salomea Kape erinnert sich aus dieser Zeit an zwei Geburten, bei denen ihre Mutter Hilfe leistete: „Im Spätherbst kam ein Mann in das Lager. Er und seine Frau hatten sich im Keller eines verlassenen Gebäudes versteckt. Die Liquidation des Gettos Lodz ahnend, hatte er das Versteck vorbereitet. Er kam in der Dunkelheit, weil seine Frau nach der Geburt eines Jungens lebensbedrohlich blutete. ‚Helfen Sie mir‘, flehte er den jüdischen Kommandanten an. ‚Haben Sie einen Arzt hier?‘ – Der herbeigeholte Arzt lehnte jedoch jede Hilfe ab. – ,Sie erwarten nicht von mir, mein Leben zu riskieren‘, sagte der sichtlich aufgeregte und zitternde Arzt. (…) Schließlich verließ der unwillkommene Vater den Raum. (…) Rosa, meine Mutter, die magere, angsterfüllte Frau, weit entfernt von einer ‚Mutter Courage‘, war die letzte Zuflucht. Ich konnte nicht verstehen, warum sie den gefährlichen Weg auf sich nahm. Der Ruf der Pflicht? Die schmerzerfüllten Augen des Ehemanns? Meine Mutter war unter normalen Umständen keine Frau, die Risiken auf sich nahm, aber es waren keine gewöhnlichen Zeiten. (…) In einem schmutzigen, gut abgeschirmten Keller untersuchte meine Mutter die heftig blutende Frau, entfernte die Plazenta mit einer unbehandschuhten und nicht besonders sauberen Hand. Sie wartete, bis die Blutung aufhörte, untersuchte das Baby und kehrte allein in das Lager zurück. (…) Meine Mutter unternahm einen zweiten Besuch, alleine. Sie kam bebend vor Freude und mit einem Brotlaib zurück. Mutter und Baby ging es gut, was wieder bewies, dass das Unmögliche möglich war im Getto Lodz (…).

Meine Mutter entband ein weiteres Baby im Lager. Die Frau war so schlank, dass niemand erkannte, dass sie in einem fortgeschrittenen Schwangerschaftsstadium war. (…) Das Bett der Frau wurde in eine dunkle Ecke des Frauenquartiers gebracht. Ich saß nahe bei und hörte eine leichte Aufregung hinter dem improvisierten Vorhang, das Flüstern des Ehemanns, die ruhige Stimme meiner Mutter ‚Ruhig, ruhig.‘ Kein Stöhnen oder Jammern. Da waren nur die schnellen Schritte meiner Mutter und später ein schwacher Schrei, ein Zwitschern. Dann herrschte völlige Stille hinter dem Vorhang. Die Frauen schliefen nicht. Die Luft war schwer von Anspannung und Angst und roch leicht nach Blut. Am frühen Morgen war keine Spur von dem Ereignis und dem Baby zu sehen. Das Bett war an seinem gewöhnlichen Platz, und die Frau schlief. Alle seufzten vor Erleichterung, und niemand stellte Fragen. Die Frau ging mit leichenblassem Gesicht wie gewöhnlich zur Arbeit; ihr Mann war still und noch eine Spur blasser. Meine Mutter kam in Tränen zu mir und sagte: ‚Aber der Junge, der Baby-Junge im Keller, er wird überleben. Du wirst sehen, er wird überleben.‘”

Beschrieben wird hier der Tod eines Neugeborenen. Die rassistische Volkstumspolitik, die in den ins Deutsche Reich eingegliederten polnischen Gebieten mit Priorität betrieben wurde, gab Mutterschaft je nach Volkstumszugehörigkeit eine völlig andere Bedeutung. Als „arisch” betrachtete, „erbgesunde” und leistungsfähige Menschen sollten möglichst viele Kinder bekommen. Hierbei ging es nicht um privates Glück, sondern darum, einen möglichst großen, „rassenreinen” und „erbgesunden Volkskörper” zu schaffen.

Jüdische Kinder sollten nach der NS-Rassenpolitik nicht geboren werden. Mit dem Entschluss im Herbst 1941, alle „arbeitsunfähigen” Jüdinnen und Juden zu ermorden, wurde eine Schwangerschaft für Jüdinnen zu einer Todesdrohung. Um das Leben der Mutter im Aufräumkommando zu retten, musste die Entbindung in aller Heimlichkeit stattfinden. Mutmaßlich wurde das Neugeborene getötet. Das im Versteck geborene und vor den Augen der deutschen Besatzer verborgene Baby war hingegen ein Zeichen der Hoffnung und zeigt die Bandbreite der unterschiedlichen Handlungsmöglichkeiten auf.

Im Januar 1945 befreite die russische Armee die Stadt Lodz und die knapp 900 überlebenden Jüdinnen und Juden. Unter ihnen waren Rachel Herszenberg und Salomea Kape. Ob der kleine Junge und seine Eltern im Versteck überlebten, ist unbekannt.

Auswanderung in die USA

Nach der Befreiung blieb Rachel Herszenberg im Gebiet des ehemaligen Gettos wohnen. Sie nahm bereits 1945 ihre Arbeit wieder auf und ließ sich in Ermangelung einer gültigen Währung zunächst in Naturalien bezahlen. Da ihr Ehemann krank war und ihre Tochter wieder die Schule und anschließend die medizinische Hochschule besuchte, war Rachel Herszenberg die Alleinversorgerin der Familie. Im Alter von 68 Jahren beendete Rachel Herszenberg ihre Berufstätigkeit, wobei sie sich beschwerte, dass sie zu jung wäre, um pensioniert zu werden, wie sich Salomea Kape erinnert. 1968 verließen Rachel und ihr Mann Calel Herszenberg gemeinsam mit Rachels Schwester Anna Toronczyk aufgrund antisemitischer Kampagnen und Verfolgungen der polnischen Regierung, wie viele der damals in Polen lebenden Juden, das Land. Die letzten Lebensjahre verbrachte Rachel Herszenberg mit ihrem Mann bei ihrer Tochter in der Nähe von New York. Rachel „Rosa” Herszenberg starb nach längerer Krankheit am 27. März 1977 in New York. Anna Toronczyk verstarb 1979. Die Schwestern und Rachels Ehemann Calel ruhen auf dem Friedhof Beth-El in Paramus, New Jersey.


Hinweis:  *Die Informationen stammen aus Briefen, E-Mails und Gesprächen zwischen der pensionierten Ärztin und Tochter der Hebamme Rachel Herszenberg, Dr. Salomea Kape, der Pflegehistorikerin Anja K. Peters sowie der Historikerin Dr. Wiebke Lisner im Sommer und Herbst 2012 und die zum Teil im Internet veröffentlichten Zeitzeuginnenberichte von Salomea Kape (http://anja-peters.de/manuskripte.html). Dr. Kapes Zitate wurden von Anja K. Peters ins Deutsche übersetzt.


Zitiervorlage
Peters AK et al.: Rachel Herszenberg: Die Hebamme von Lodz. DEUTSCHE HEBAMMEN ZEITSCHRIFT 2013. 65 (11): 71–74

Literatur
Alberti, M.: Die Verfolgung und Vernichtung der Juden im Reichsgau Wartheland 1939–45. Deutsches Historisches Institut Warschau Quellen und Studien, 17. Harrassowitz Verlag. Wiesbaden (2006)

Benz, W.; Graml, H.; Weiß, H. (Hrsg.): Enzyklopädie des Nationalsozialismus. Klett-Cotta. Deutscher Taschenbuch Verlag. München. S. 964 (2007)

Haar, I.: Biopolitische Differenzkonstruktionen als bevölkerungspolitisches Ordnungsinstrument in den Ostgauen: Raum- und Bevölkerungsplanung im Spannungsfeld zwischen regionaler Verankerung und zentralstaatlichem Planungsanspruch. In: John, J.; Möller, H.; Schaarschmidt, Th.: Die NS-Gaue: Regionale Mittelinstanzen im zentralistischen „Führerstaat”. Schriftenreihe der Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Sondernr. Oldenbourg. München. S. 105–122 (2007)

Heinemann, I.: „Rasse, Siedlung, deutsches Blut”. Das Rasse- und Siedlungshauptamt der SS und die rassenpolitische Neuordnung Europas. Moderne Zeit. Bd. 2. Wallstein Verlag. Göttingen (2003)

Klee, E.: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945. Fischer Taschenbuch Verlag: Frankfurt am Main. S. 48 (2011)

Löw, A.: Juden im Ghetto Litzmannstadt. Lebensbedingungen, Selbstwahrnehmung, Verhalten. Schriftenreihe zur Lodzer Ghetto Chronik. Wallstein Verlag. Göttingen. 192–93 (2006)

Mailänder Koslov, E.: „Going east”: colonial experiences and practices of violence among female and male Majdanek camp guards (1941–44). In: Journal of Genocide Research. 10, Nr. 4, S. 563–582 (2008)

Sitarek, A.; Trebacz, M.: Drei Städte. Besatzungsalltag in Lodz. In: Böhler, J.; Lehnstädt, St. (Hrsg.): Gewalt und Alltag im besetzten Polen 1939–45. Einzelveröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts Warschau, 26, S. 299–322. Fibre. Osnabrück (2012)

Verordnung zur Einführung des Hebammengesetzes in den eingegliederten Ostgebieten. In: Die Deutsche Hebamme. 55. S. 227–228 (1940)

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