Zeichnung: © Nikolaus Baumgarten

Der Schwurgerichtsprozess gegen die Ärztin und Hebamme, der seit August vergangenen Jahres am Landgericht Dortmund verhandelt wird, zieht sich hin. Ihr wird zur Last gelegt, für den Tod eines Mädchens verantwortlich zu sein, das am 30. Juni 2008 aus Beckenendlage in einem Hotel in Unna leblos geboren wurde. (siehe auch DHZ 4/2013, 5/2013 und 6/2013). 

Als Reaktion auf den Antrag des neuen, ergänzenden Strafvertei­digers an der Seite der Angeklag­ten, Prof. Dr. Hans Lilie, sind vom Gericht am 15. Mai, dem 21. Prozesstag, drei Sach­verständige noch einmal geladen worden. Sie hatten das bei der Geburt verstorbene Kind zur Ermittlung der Todesursache untersucht: der Leiter des Instituts für Rechtsmedizin Dortmund, Dr. Ralf Zwei­hoff, der das verstorbene Neugeborene zwei Tage nach dessen Geburt obduziert hatte, PD Dr. Jörg Felsberg, Oberarzt am Institut für Neuropathologie des Univer­sitätsklinikums Düsseldorf, der das Ge­hirn des verstorbenen Kindes untersucht hatte, und Prof. Dr. Deniz Kercecioglu, Chefarzt des Zentrums für Angeborene Herzfehler am Herz- und Diabeteszent­rum der NRW Ruhr-Universität Bochum in Bad Oeynhausen.

Lilie hatte Ende April beantragt, eine weitere pathologische Begutachtung durch einen ausgewiesenen Fetalpatho­logen zu veranlassen. Die Sachkunde des bisherigen Gutachters Dr. Zweihoff sei zweifelhaft, sein Vorgehen bei der Ob­duktion entspräche nicht dem fachlichen Standard. Er habe wichtige belastbare pa­thologische Befunde nicht erhoben und sei die Begründung schuldig geblieben, warum er zum »differenzialdiagnostischen Todesursachenspektrum« auch die Hypoxie zähle (siehe DHZ 6 /2013).

Als weitere Sachverständige für die heutige Vernehmung hat die Verteidi­gung eine Fetalpathologin vorgeschlagen. Die ältere Dame hat auf der Zeugenbank Platz genommen. »Frau Dr. Göcke, Ihre Anwesenheit vorab als Sachverständige ist gestattet«, gesteht ihr der Vorsitzende Richter am Landgericht, Wolfgang Meier zu – anders als bei Zeug:innen, die bis zu ihrer Befragung draußen warten müs­sen. Er spricht für die große Strafkam­mer, dem Team auf der Richterbank, das aus drei Berufsrichtern besteht, darunter eine Frau, und aus zwei Laienrichtern, ei­ner Schöffin und einem Schöffen.

»Haben alle Sachverständige die Anträ­ge erhalten, die dazu führen, dass wir Sie anhören?«, fragt der Vorsitzende. Das wird bejaht. »Ich denke es ist sinnvoll, mit mir zu beginnen«, schlägt Dr. Zweihoff vor. Der Richter ist einverstanden, der Ge­richtsmediziner wechselt zur Befragung den Platz. »Jetzt funktioniert die Anlage wieder nicht!«, stellt der Vorsitzende unge­duldig fest, als das Mikrofon am Zeugen­tisch stumm bleibt. Die Protokollantin hat schon den Hausdienst informiert.

Man wartet auf den Techniker, der das Mikrofon aktivieren soll. Niemand erscheint. Schließlich steht Prof. Lilie auf und macht sich unter einem Tisch an einem Kabel zu schaffen. »Haben Sie es geschafft?«, erkundigt sich der Rich­ter. Das Mikrofon funktioniert wieder. »Ich hab zwei linke Hände und studierte Recht«, bemerkt der Strafverteidiger trocken, als er wieder Platz nimmt. Der Richter bedankt sich und fährt fort: »Herr Dr. Zwei­hoff, zu Ihrer Sachkunde: Uns interessiert das Lebergewicht. Gibt es einen Quotienten aus Teilen der Leber? Und wie ist die medizinische Definition, was bedeutet hirntot?« Er bezieht sich auf Kritikpunkte aus dem Antrag der Verteidigung – dort werde angeführt: »Es sei nicht auszuschließen, ob das Kind im Mutter­leib einen Hirntod erlitten hat. Sie und Herr Felsberg hatten das klipp und klar verneint«, wendet er sich weiter an den Befragten.

Die notwendigen Befunde erhoben?

Zweihoff geht zunächst auf einen grundsätzlichen Kritik­punkt im Antrag der Verteidigung ein und bestätigt, dass nor­malerweise ein Fetalpathologe mit Untersuchungen von Kin­dern beauftragt werde, die bei der Geburt verstorben seien, aber auch sein Institut habe die notwendigen Befunde erhoben: »In diesem Fall haben wir die Obduktion am 2. Juli 2008 durchgeführt.« Er erklärt: »In Kliniken wird ein Fetalpathologe hinzu­gezogen. Wenn die Polizei Ermittlungen führt, wird ein Rechts­mediziner zugezogen. Ich bin Rechtsmediziner und habe eine eineinhalbjährige Weiterbildung in der Pathologie absolviert.« Er habe die Schwangerschaftsbefunde nicht greifbar, wie bei Obduktionen in der Klinik: »Gleichwohl gehört das zum Auf­gabengebiet der Rechtsmedizin.« Es sei ein normales Vorgehen, die Obduktion ohne pränatale Befunde durchzuführen: »Wir hatten keine Vorbefunde.« Eine Einschätzung aus seinem Gut­achten nimmt er zurück: »Beim Gewicht der kindlichen Leber muss ich mich in der Tat korrigieren – 200 Gramm ist nicht das normale Gewicht.« Es gebe aber eine plausible Erklärung für das deutlich erhöhte Gewicht: eine akute Blutstauung in der Leber durch ein Rechtsherzversagen. Der Vorsitzende fragt weiter: Bleiben wir bei den inneren Organen – wie verhält sich das Ge­wicht der Leberanteile untereinander?« Zweihoff: »Ich bin seit 20 Jahren Rechtsmedizinier, weder in Düsseldorf noch hier in Dortmund haben wir Leberanteile untersucht.«

Man habe in diesem Fall auch histologische Untersuchun­gen vorgenommen. Beim Myocard beispielsweise müsse ein Zeitraum vergehen, bevor Pathologen Veränderungen wie Eo­sinophilie als Hinweise auf eine Hypoxie feststellen könnten . Die von ihm festgestellten petechialen Blutungen unter dem Herzaußenfell könnten ein Zeichen für einen Sauerstoffmangel sein. Zur Untersuchung von Mekonium- und Fruchtwasseraspi­ration habe es keine Aufträge gegeben. Es gebe weder makros­kopische noch histologische Befunde. Dies schließe jedoch eine Hypoxie nicht aus. Nur in zwei Dritteln der Fälle fände man bei einer Hypoxie eine Aspiration. Der Richter fragt nach dem Absaugen durch den Notarzt. »Wenn Atembewegungen dazu führen, dass Fruchtwasser in die Bronchioli eindringt – soweit kann man nicht absaugen«, erklärt ihm Zweihoff.

Phänomen des intrauterinen Hirntodes

Zu einem möglichen Hirntod des Kindes befragt, bekennt Zweihoff, er habe in der Fachliteratur zum Phänomen des intra­uterinen Hirntodes nichts gefunden, »bis auf eine einzige Arbeit von 2006.« Dort sei beschrieben, dass die mit dem Fetaldoppler erhobene Herzfrequenz nicht verändert gewesen sei. Allerdings habe man in dem Fall bei dem Kind makroskopisch gravierende pathologische Veränderungen festgestellt. Über den Hirntod wird nun länger gesprochen. »Hier wird geltend gemacht, dass das Kind hirntot gewesen sei«, erklärt der Richter. Ob ein Sauerstoff­mangel zu einem Hirntod führen könne und wenn ja, wie lange er dauern müsse? »Es gibt solche Einzelfälle, ich möchte das nicht ausschließen«, antwortet Zweihoff vorsichtig. »Ich frage das für unseren Fall: Ist es möglich, dass das Kind ab 11 oder 16 Uhr über mehrere Stunden hirntot war und der Kreislauf funktionierte weiter?«, erkundigt sich Meyer. »Ich kann das nicht ausschließen«, entgegnet Zweihoff. »Was könnte ein Fetalpathologe zusätzlich machen?«, fragt der Vorsitzende. »Gar nichts«, erwidert Zweihoff. Es habe keine Anhaltpunkte für Entzündungen gegeben, die Befunde wiesen auf einen Sauerstoffmangel hin, auch wenn keine pathologischen Befunde für eine Hypoxie vorlägen, jedoch fänden sich auch keine anderen Auffälligkeiten für eine andere Ursache. Die genaue Todesursache sei letztlich unbekannt.

Der Pflichtverteidiger Rechtsanwalt Hans Böhme erkundigt sich beim Sachverständigen: »Was ist gesichert an Präparaten und in welcher Form?« Es gebe das Hirn als Makropräparat, An­schnitte aller Organe, Gewebeproben in 4 % Formalin, gibt Zweihoff Auskunft. »Konnten Sie aufgrund der Untersu­chung etwas zur Lungenreife sagen?«, möchte Prof. Dr. Lilie von dem Rechtsmediziner wissen. Der erklärt: »Die Lunge habe ich mikroskopisch untersucht, nicht morphometriert.« »Da steht, dass die Lunge reif ist«, merkt Oberstaatsanwältin Susanne Ru­land mit Blick in den Obduktionsbericht an. »Das heißt nicht, dass das richtig ist, Frau Oberstaatsanwältin«, entgegnet Lilie: »Es spricht viel für Lungenreifestörungen, wie die Beatmungssituation – es wurden keine Befunde erhoben, die das ausschließen.«

Herzschlag trotz Hirntod?

Weiter geht es mit dem Kinderkardiologen Prof Dr. Kerce­cioglu. »Zum Hirntod kann ich nichts beitragen«, stellt dieser gleich klar. »Kann das Herz beim Hirntod allein schlagen?«, interessiert den Vorsitzenden. »Ja, das kann der Fall sein. Die Autonomie des Kreislaufes ist aber nicht so autonom, die Patien­ten können nicht allein atmen«, antwortet Kercecioglu. »Aber bezogen auf einen ungeborenen Menschen, der über die Mutter versorgt wird?«, wird weiter nachgehakt, worauf er feststellt: »Ich habe in meinem Leben nie erlebt, dass ein Kind hirntot auf die Welt kam und weiter gelebt hat.«

Er urteilt, die Stärke der Herzkammerwände, die Dr. Zwei­hoff erhoben hätte, seien echocardiologische Normwerte, nicht pathologische Werte. Die unterschiedlichen Werte bei der Dicke haben mit der Arbeit des Herzens zu tun – es sei, als wenn man einen Luftballon aufblase und die Wand dabei dünner werde. Sobald die Luft wieder entwichen sei, sei die Stärke wieder di­cker – die Masse bliebe gleich. Die Wandstärke von vier Millime­tern für den rechten Ventrikel sei normal. Kercecioglu merkt weiter an: »Beim Ungeborenen ist keine Hirntoddiagnostik mög­lich. Man kann kein EEG durchführen. Welche Umstände dazu beitragen, dass das Hirn über Minuten nicht mit Sauerstoff ver­sorgt wird, frage er sich. »Man kann nicht sagen, so etwas gibt es nicht. Ich habe so etwas noch nie erlebt und habe auch die Literatur der letzten drei Jahre dazu zu Rate gezogen – dort ist nicht davon die Rede«, bekennt der Kinderkardiologe.

Lilie ergreift das Wort: »Mit Dopplersonografie kann man die Hirnaktivität nachweisen«, führt er eine Literaturquelle an. Er habe die Literaturstelle im Kapitel »Sonografische Diag­nostik« auf Seite 171 im Standardlehrbuch »Gynäkologie und Geburtshilfe« (Schneider/Husslein/Schneider) gefunden. Sie be­ziehe sich sich auf Kinder nach der Geburt. »Der Einfachheit halber lege ich die Fundstelle aus dem Fachbuch dem Gericht vor.« Er übergibt Papiere an das Gericht. Einige fachliche Details werden besprochen, wie die Bedeutung eines silenten Herzton­verlaufs, die Beschaffenheit des kindlichen Herzens und seine eventuell möglichen intrauterinen Erkrankungen. Kercecioglu kann keine Anhaltspunkte für eine Pathologie erkennen. Der Experte wird verabschiedet.

Prozessende in Sicht?

Von dem Neuropathologen Dr. Felsberg möchte der Vorsit­zende Richter wissen: »Gibt es einen Anlass zum Korrigieren früherer Einschätzungen?« Dieser verneint, an seinen Befunden und seiner Einschätzung habe sich nichts geändert. Dennoch folgt eine ausführliche Erörterung fachlicher Details.

Schließlich erkundigt sich der Vorsitzende Richter bei Frau Dr. Göcke nach ihrem beruflichen Hintergrund, er habe im Internet nichts über sie gefunden. Sie sei ab 1995 am Vinzenz Pallotti Hospital in Bensberg tätig gewesen und über ihre ganze Berufs­tätigkeit hinweg im deutschsprachigen Raum in die Fachgesell­schaften der Kinderpathologie eingebunden gewesen. Seit fünf Jahren sei sie im Ruhestand, gibt sie Auskunft. »Da Dr. Zweihoff spätestens 12.30 Uhr gehen muss, hören wir die Sachverständige Frau Dr. Göcke heute nicht«, kündigt der Vorsitzende Richter an. Er gehe davon aus, dass sie noch einmal wiederkommen könne, wozu diese bereitwillig zustimmt. Mit den Prozessbeteiligten wird die Planung der nächsten Wochen besprochen. Meyer bedau­ert, dass man es leider nicht schaffen werde, weder am 5. noch am 26.Juni bereits die Plädoyers entgegen zu nehmen. Offenbar möchte er den Prozess nun bald abschließen.

Die Hebamme, die gemeinsam mit der Angeklagten nach einer anderen tragisch ausgegangenen Geburt in einen Zivil­prozess verwickelt ist, soll nächstes Mal noch einmal vorgeladen werden. »Wir haben den Verdacht, dass sie uns angelogen hat«, erläutert der Vorsitzende den Grund. Er hatte diesen anderen Fall in die Verhandlungen einbezogen, wie er auch sonst in verschiedene Richtungen recherchiert hatte, offenbar um fest­zustellen, ob es weitere Schadensfälle bei Hausgeburten gab, die auf eine besondere Risikobereitschaft der hier beschuldigten Hebamme und Ärztin hinweisen könnten. Für den Tatvorwurf des Totschlags – ein Verbrechen, auf das 5 bis 15 Jahre Haft ste­hen, ist Vorsatz eine definierte Bedingung, zumindest, dass der Tod des Kindes billigend in Kauf genommen wurde.

Noch ein Befangenheitsantrag

Der Prozesstag endet mit einem weiteren Befangenheitsan­trag von Rechtsanwalt Böhme – diesmal gegen den Sachver­ständigen Prof. Dr. Thomas Schwenzer, der in dem besagten anderen anhängigen Schadensfall als Sachverständiger tätig ist und bei den letzten beiden Terminen hier vernommen wurde. Er erwecke den Anschein der Parteilichkeit, weil er seinen Gut­achtenauftrag überschreite und zu Fragen Stellung genommen habe, die nicht vom Beweisauftrag umfasst seien. Dabei verlet­ze er seine Neutralitätspflicht, bemängelt Böhme. Schwenzer habe einen weiteren Fall neu aufs Tapet gebracht, der nichts mit seiner Befragung zu tun gehabt habe. Deshalb sei Besorgnis ge­rechtfertigt, der Sachverständige habe ungefragt Beweismittel erbracht, um eine Verurteilung in seinem Sinne wahrscheinli­cher zu machen. Schwenzer habe, als die Angeklagte ihn durch ihre Fragen in die Enge getrieben habe, ein wohlpräpariertes fachgynäkologisches Gutachten aus der Tasche gezogen, dem Gericht überreicht und erklärt, dies sei nicht der erste Fall, wo sie miteinander zu tun hätten. Jenes Ermittlungsverfahren sei bald eingestellt worden. Die hier angeklagte Ärztin und Heb­amme, die mit fast 2.000 betreuten Geburten über erhebliche Erfahrung und Fachkompetenz verfüge, sei damals spät von der betreuenden Hebamme zu einer Geburt im Mai 2005 hin­zugezogen worden. Sie habe nach ihrem Eintreffen und der Untersuchung der Gebärenden nach kurzer Beobachtung den Transport ins Krankenhaus veranlasst – wo das Kind später aus unbekannten Gründen tot geboren wurde – sie habe sich also vollkommen korrekt verhalten. Das vorgelegte Gutachten habe sich auch nur mit der anderen Hebamme, nicht mit der hier angeklagten Hebamme und Ärztin auseinanderzusetzen gehabt. Keiner der beiden Geburtshelferinnen habe ein konkre­ter Fehler oder eine unterlassene Hilfeleistung zur Last gelegt werden können, so sei das Verfahren eingestellt worden.

Kurzer Prozesstag

Der 22. Prozesstag am 5. Juni endet schon nach kurzer Zeit: Die vorgeladene Hebamme,  die  in  den  anderen  Schadensfall mit Zivilprozess um ein schwerst geschädigtes Kind involviert ist, ist mit ihrem Anwalt erschienen. Der erklärt, dass seine Mandantin von ihrem Auskunftsverweigerungsrecht Gebrauch machen werde. Der Vorsitzende Richter weist darauf hin,  dass der neu bekannt gewordene Fall des am 23. Mai 2005 in einer Klinik tot geborenen Kindes strafrechtlich verjährt sei. Es gehe hier um Verstöße gegen die Wahrheit bei einer früheren Verneh­mung. »Es gibt Anhaltspunkte, dass Sie die Unwahrheit gesagt haben«,erläutert der Vorsitzende der Zeugin den Grund für die Vorladung. Alle Gerichtsmitglieder hätten sich daran erinnert, dass die Hebamme ausgesagt habe, es sei früher zu keinen Kom­plikationen bei der Zusammenarbeit mit der hier Angeklagten gekommen. »Das entspricht nicht den Tatsachen«, stellt Meyer fest, wie dieser weitere Fall zeige: »Ist das richtig?« Die adres­sierte Zeugin gibt keine Antwort. »Ich spreche mit Ihnen!«, in­sistiert der Richter, doch er kommt nicht zum Ziel. »Sei’s drum«, bemerkt dieser, »wir nehmen das in Kauf.« Der Anwalt und seine Mandantin werden verabschiedet:»Tschüss zusammen!«, wendet sich der beim Gehen kurz zum Zuschauerraum. »Das Benehmen lässt auch zu wünschen übrig«,  murmelt  der  Vorsitzende,  als die beiden den Gerichtssaal verlassen haben, und gibt  ausführ­lich den Sachverhalt zu Protokoll. Rechtsanwalt Böhme, diesmal als einziger Strafverteidiger anwesend, legt dabei Wert darauf, dass seine Mandantin in die Ermittlung in dem neu bekannt gewordenen Fall nicht mit einbezogen war: »Es ist der ganzen Akte nicht zu entnehmen!« »Gut, den letzten Satz streichen wir«, korrigiert der Richter das Protokoll. »Möchten Sie sich zu  dem Fall äußern?«, fragt er die Angeklagte. »Nein«, antwortet Böhme. Der Vorsitzende Richter spricht die Angeklagte noch einmal di­rekt an. Ihr Anwalt wendet sich an sie: »Ich habe voreilig Nein gesagt – wollen Sie?« »Können wir uns kurz besprechen?«, fragt die Angeklagte. Dies wird ihr zugestanden.

Nach einer kurzen Besprechungspause beginnt Böhme: Der Nabelschnur-pH-Wert von 7,21, der bei der Geburt in der Klinik festgestellt worden sei, deute auf einen ebenso unerklärlichen Tod hin, wie hier im vorliegenden Fall. »Leider ist bei uns kein Nabel­schnurblut entnommen worden. Es wurde damals ein CTG abgeleitet, das bis zuletzt 120 bis 130 Schläge angezeigt  hatte, leider ist das CTG verschwunden. Das Fruchtwasser war zu Hause klar, nicht erbsbreiartig.« Der Vorsitzende wendet sich zunächst an die angeklagte Hebamme und Ärztin: »Sind das Ihre Angaben?« »Ja«, antwortet diese. Ob das Fruchtwasser klar oder erbsbreiartig war, findet der Richter, sei möglicherweise kein Widerspruch – zu Hau­se beim Fruchtblasensprung sei es klar gewesen, im Krankenhaus dann erbsbreiartig. »Haben Sie Calciumtabletten besorgen lassen?«, fragt er die Angeklagte weiter. Aus den Zeuginnenaussagen in der Akte hat er entnommen, dass sie nach ihrem Eintreffen zunächst eine Hebammenschülerin beauftragt hatte, Calcium zu besorgen, dann erst hatte sie die Untersuchung vorgenommen. Die Gefragte kann sich nicht mehr an dieses Detail erinnern; sie erklärt, wa­rum sie manchmal bei einer Wehenschwäche Calcium einsetze zur Aktivierung der Muskulatur. Der Einsatz von Wehenmitteln sei ihr in der Hausgeburtshilfe zu riskant. Der Richter fragt nach der Litzmannschen Obliquität, einem Begriff, der damals in einer Zeuginnenvernehmung gefallen war. »Das Kind war auf Beckenboden, von daher spielte die Litzmannsche Obliquität keine Rolle«, erläutert die Ärztin und Hebamme die geburtshilflichen Zusammenhänge weiter. Schließlich bremst Böhme: »Herr Vorsitzender, wir hatten noch keine Gele­genheit, die Akte, die erst kürzlich kam, mit meiner Mandantin zu besprechen.« Der Richter geht darauf ein – er hält es für unproblematisch, für heute erst ein­mal das Geburtsprotokoll der betreuenden Hebamme von damals zu verlesen. Es do­kumentiert die Geburt vom 23. Mai 2005 bis zur Verlegung in die Klinik 9.40 Uhr, 25 Minuten nachdem die Ärztin um 9.15 Uhr eingetroffen war.

Schließlich soll noch ein neues Do­kument mit in die Prozessunterlagen einbezogen werden, das Protokoll der Überprüfungen aller Handyverbindun­gen und der gespeicherten SMS vom beschlagnamten Mobiltelefon der Ange­klagten von 2008 – darin gehe es darum, welche SMS und welche Telefonverbin­dungen zu welchem Zeitpunkt stattge­funden hätten. Es sei knapp 100 Seiten lang, der Vorsitzende ordnet an, dass es von den Prozessbeteiligten im Selbstlese­verfahren zur Kenntnis genommen wird. Nach weiteren organisatorischen Bemü­hungen brechen alle schon gegen 11 Uhr wieder auf.

Zeuginnenvernehmung

Auch  der  23. Verhandlungstag am 26. Juni endet bereits mittags. Die Straf­verteidigerin Andrea Combe habe ihr Mandat niedergelegt, gibt der Vorsit­zende Richter zu Beginn bekannt. Nur eine Zeugin soll heute vernommen wer­den, eine Hebamme. Von ihr verspricht sich das Gericht Auskunft über die in der letzten Verhandlung betrachtete Ge­burt, bei der sie als Hebammenschülerin dabei gewesen war. Die im Mai 2005 in die Klinik verlegte Hausgeburt endete tragisch: Das Kind war tot, als es dort ei­nige Zeit später am Vormittag spontan geboren wurde. Zuvor verliest der Rich­ter eine Entbindungserklärung von der Schweigepflicht der betroffenen Mutter vom 10.Juni diesen Jahres. Die damalige Schülerin hatte zwar miterlebt, wie die hier angeklagte Ärztin und Hebamme von der betreuenden Hebamme hinzu­gezogen worden war und dass die Frau bald danach in die Klinik verlegt wurde,kann sich aber an Details zum Gesche­hen vor acht Jahren partout nicht erin­nern. Der Vorsitzende Richter versucht ihr Erinnerungsvermögen zu aktivieren. Nach einer zähen Befraguung zu den genauen Umständen, gibt der Vorsitzende die nachforschenden Fragen schließlich auf und nimmt das Protokoll der polizei­lichen Vernehmung vom Dezember 2006 zu Hilfe. »Wenn ich das damals so gesagt habe«, räumt die Zeugin ein, ohne dass ihr eine Erinnerung dämmert. Warum die hier Angeklagte von der damals be­treuenden Hebamme hinzugezogen wor­den sei, möchte der Richter weiter wis­sen. »Sie sagt mir doch nicht, warum sie eine Ärztin hinzuzieht«, antwortet die Zeugin ratlos. »Es wurde untersucht, die Herztöne waren nicht auffindbar, dann fuhr man zu viert in die Klinik«, erinnert sich die Zeugin. Der Richter erläutert nach Aktenlage: »Ihr spätes Eintreffen begründete die Ärztin damit, dass die be­treuende Hebamme ihr Kommen nicht als dringend bezeichnet habe.« Sie habe nur zum Nähen kommen sollen, habe der Vater ausgesagt. »Calcium?«, wirft der Richter als Stichwort in den Raum. Die Zeugin schaut ratlos. »Ich wurde losge­schickt, um aus der Apotheke Calcium zu holen. Als ich zurückkomme, macht die Ärztin gerade die Untersuchung. Sie stellt eine Litzmannsche Obliquität fest«, liest er aus ihrer polizeilichen Vernehmung vor. »Ist damals der Begriff Zystocele ge­fallen?«, fragt er. Im späteren Bericht des Krankenhauses sei diese diagnostiziert worden, »eine über Stunden vorhandene Vorwölbung der Blase, die ein Durchtre­ten des Kindes unmöglich macht.« »Darf ich etwas fragen?«, bittet die Zeugin: »Aber das Kind ist doch spontan zur Welt gekommen!« »Ja, aber nach einer Episio­tomie,« liest der Richter im Geburtsproto­koll der Klinik nach: »Seit fünf Stunden Muttermund vollständig, es bestätigt sich der Befund, seit mehreren Stunden zweitgradige Zystocele, die einen Durch­tritt des Kindes unmöglich macht. Nach Schneiden einer Epi kommt das Kind tot zur Welt.« »Nach wessen Meinung, wurde die Verlegung in die Klinik beschlossen?«, fragt der Vorsitzende weiter. »Die Herz­ töne waren nicht auffindbar«, antwortet die Zeugin. »Sie sollen damals angegeben haben, Sie hätten es vorgezogen, eher in die Klinik zu fahren«, möchte der Richter wissen. Die Zeugin entgegnet: »Ich war Schülerin, ich konnte die Situation nicht einschätzen.«

Einschätzung der Angeklagten

Nachdem die Zeugin entlassen ist, äußert sich die Angeklagte bereitwillig zu diesem Fall: Erstmals beantwortet sie alle Fragen des Richters mit ruhiger kon­zentrierter Stimme und gibt Auskunft über fachliche geburtshilfliche Details. Aufmerksam hört ihr der Vorsitzende zu. Die Hebamme und Ärztin erklärt, dass sie sich, wenn sie zu einer Hausgeburt gerufen wird, zunächst mit dem Eltern­paar bekannt und sich ein Bild von der Gesamtsituation macht und dann erst körperliche Untersuchungen vornimmt. Dass sie damals, nachdem sie die Herz­töne nicht gefunden habe und besorgt gewesen sei, deshalb die Verlegung in die Klinik veranlasst habe, wo man dann kontinuierlich normale Hertöne aufgezeichnet habe. Sie habe die Eltern über ihre Sorge aber zu dem Zeitpunkt nicht informiert, um keine Panik zu verursachen – schließlich hätten  die­se schon einmal ein Kind verloren. Der Richter hat noch einige Fragen zu den näheren Umständen, die sie ihm erläu­tert. Den Eindruck, den der Richter aus den verschiedenen Aussagen und Anga­ben in den Unterlagen gewonnen hatte, dass die Frau gegen ihren Wunsch nur ihrem Mann zuliebe zu Hause geblieben sei, kann sie nicht bestätigen, auch wenn sie in der Situation noch nicht vor Ort gewesen sei. Die Frau sei nicht der Typ ge­wesen, sich bevormunden zu lassen. Sie gehe davon aus, das Gespräch mit ihrem Mann unter vier Augen in einer Erschöp­fungsphase der Geburt habe sie ermuti­gen sollen und dass beide anschließend einvernehmlich weiter beim Wunsch zur Hausgeburt geblieben wären.

Zum Ende des Verhandlungstages fasst der Vorsitzende bei der Terminpla­nung den Abschluss des Prozesses ins Auge: Am 26. September soll noch der Fetalpathologe Prof. Dr. Ivo Leusclmer als vom Gericht bestellter Sachverständiger gehört werden. Die geringe Auswahl an möglichen Experten, die kurzfristig ein Gutachten hätten erstellen können, wird erörtert – der Vorsitzende hatte mehre­re Anfragen gestellt. Er möchte einen Sachverständigen bestellen, den nicht die Verteidigung benannt hat. »Wir ha­ben ihn gewählt, weil er ab vom Schuss ist.«, begründet der Vorsitzende die Wahl. Unmittelbar nach der Erstattung seines Gutachtens sollen am 27. September die Plädoyers der Verteidigung und der Staatsanwaltschaft entgegengenommen werden. Einige Wochen später soll das Urteil verkündet werden.


Hinweis: Fortsetzung folgt.


Zitiervorlage
Baumgarten K: Gerichtsreportage, Teil 4: Intrauteriner Hirntod? DEUTSCHE HEBAMMEN ZEITSCHRIFT 2013. 65 (8): 63–66
https://staudeverlag.de/wp-content/themes/dhz/assets/img/no-photo.png