Die notwendigen Befunde erhoben?
Zweihoff geht zunächst auf einen grundsätzlichen Kritikpunkt im Antrag der Verteidigung ein und bestätigt, dass normalerweise ein Fetalpathologe mit Untersuchungen von Kindern beauftragt werde, die bei der Geburt verstorben seien, aber auch sein Institut habe die notwendigen Befunde erhoben: »In diesem Fall haben wir die Obduktion am 2. Juli 2008 durchgeführt.« Er erklärt: »In Kliniken wird ein Fetalpathologe hinzugezogen. Wenn die Polizei Ermittlungen führt, wird ein Rechtsmediziner zugezogen. Ich bin Rechtsmediziner und habe eine eineinhalbjährige Weiterbildung in der Pathologie absolviert.« Er habe die Schwangerschaftsbefunde nicht greifbar, wie bei Obduktionen in der Klinik: »Gleichwohl gehört das zum Aufgabengebiet der Rechtsmedizin.« Es sei ein normales Vorgehen, die Obduktion ohne pränatale Befunde durchzuführen: »Wir hatten keine Vorbefunde.« Eine Einschätzung aus seinem Gutachten nimmt er zurück: »Beim Gewicht der kindlichen Leber muss ich mich in der Tat korrigieren – 200 Gramm ist nicht das normale Gewicht.« Es gebe aber eine plausible Erklärung für das deutlich erhöhte Gewicht: eine akute Blutstauung in der Leber durch ein Rechtsherzversagen. Der Vorsitzende fragt weiter: Bleiben wir bei den inneren Organen – wie verhält sich das Gewicht der Leberanteile untereinander?« Zweihoff: »Ich bin seit 20 Jahren Rechtsmedizinier, weder in Düsseldorf noch hier in Dortmund haben wir Leberanteile untersucht.«
Man habe in diesem Fall auch histologische Untersuchungen vorgenommen. Beim Myocard beispielsweise müsse ein Zeitraum vergehen, bevor Pathologen Veränderungen wie Eosinophilie als Hinweise auf eine Hypoxie feststellen könnten . Die von ihm festgestellten petechialen Blutungen unter dem Herzaußenfell könnten ein Zeichen für einen Sauerstoffmangel sein. Zur Untersuchung von Mekonium- und Fruchtwasseraspiration habe es keine Aufträge gegeben. Es gebe weder makroskopische noch histologische Befunde. Dies schließe jedoch eine Hypoxie nicht aus. Nur in zwei Dritteln der Fälle fände man bei einer Hypoxie eine Aspiration. Der Richter fragt nach dem Absaugen durch den Notarzt. »Wenn Atembewegungen dazu führen, dass Fruchtwasser in die Bronchioli eindringt – soweit kann man nicht absaugen«, erklärt ihm Zweihoff.
Phänomen des intrauterinen Hirntodes
Zu einem möglichen Hirntod des Kindes befragt, bekennt Zweihoff, er habe in der Fachliteratur zum Phänomen des intrauterinen Hirntodes nichts gefunden, »bis auf eine einzige Arbeit von 2006.« Dort sei beschrieben, dass die mit dem Fetaldoppler erhobene Herzfrequenz nicht verändert gewesen sei. Allerdings habe man in dem Fall bei dem Kind makroskopisch gravierende pathologische Veränderungen festgestellt. Über den Hirntod wird nun länger gesprochen. »Hier wird geltend gemacht, dass das Kind hirntot gewesen sei«, erklärt der Richter. Ob ein Sauerstoffmangel zu einem Hirntod führen könne und wenn ja, wie lange er dauern müsse? »Es gibt solche Einzelfälle, ich möchte das nicht ausschließen«, antwortet Zweihoff vorsichtig. »Ich frage das für unseren Fall: Ist es möglich, dass das Kind ab 11 oder 16 Uhr über mehrere Stunden hirntot war und der Kreislauf funktionierte weiter?«, erkundigt sich Meyer. »Ich kann das nicht ausschließen«, entgegnet Zweihoff. »Was könnte ein Fetalpathologe zusätzlich machen?«, fragt der Vorsitzende. »Gar nichts«, erwidert Zweihoff. Es habe keine Anhaltpunkte für Entzündungen gegeben, die Befunde wiesen auf einen Sauerstoffmangel hin, auch wenn keine pathologischen Befunde für eine Hypoxie vorlägen, jedoch fänden sich auch keine anderen Auffälligkeiten für eine andere Ursache. Die genaue Todesursache sei letztlich unbekannt.
Der Pflichtverteidiger Rechtsanwalt Hans Böhme erkundigt sich beim Sachverständigen: »Was ist gesichert an Präparaten und in welcher Form?« Es gebe das Hirn als Makropräparat, Anschnitte aller Organe, Gewebeproben in 4 % Formalin, gibt Zweihoff Auskunft. »Konnten Sie aufgrund der Untersuchung etwas zur Lungenreife sagen?«, möchte Prof. Dr. Lilie von dem Rechtsmediziner wissen. Der erklärt: »Die Lunge habe ich mikroskopisch untersucht, nicht morphometriert.« »Da steht, dass die Lunge reif ist«, merkt Oberstaatsanwältin Susanne Ruland mit Blick in den Obduktionsbericht an. »Das heißt nicht, dass das richtig ist, Frau Oberstaatsanwältin«, entgegnet Lilie: »Es spricht viel für Lungenreifestörungen, wie die Beatmungssituation – es wurden keine Befunde erhoben, die das ausschließen.«
Herzschlag trotz Hirntod?
Weiter geht es mit dem Kinderkardiologen Prof Dr. Kercecioglu. »Zum Hirntod kann ich nichts beitragen«, stellt dieser gleich klar. »Kann das Herz beim Hirntod allein schlagen?«, interessiert den Vorsitzenden. »Ja, das kann der Fall sein. Die Autonomie des Kreislaufes ist aber nicht so autonom, die Patienten können nicht allein atmen«, antwortet Kercecioglu. »Aber bezogen auf einen ungeborenen Menschen, der über die Mutter versorgt wird?«, wird weiter nachgehakt, worauf er feststellt: »Ich habe in meinem Leben nie erlebt, dass ein Kind hirntot auf die Welt kam und weiter gelebt hat.«
Er urteilt, die Stärke der Herzkammerwände, die Dr. Zweihoff erhoben hätte, seien echocardiologische Normwerte, nicht pathologische Werte. Die unterschiedlichen Werte bei der Dicke haben mit der Arbeit des Herzens zu tun – es sei, als wenn man einen Luftballon aufblase und die Wand dabei dünner werde. Sobald die Luft wieder entwichen sei, sei die Stärke wieder dicker – die Masse bliebe gleich. Die Wandstärke von vier Millimetern für den rechten Ventrikel sei normal. Kercecioglu merkt weiter an: »Beim Ungeborenen ist keine Hirntoddiagnostik möglich. Man kann kein EEG durchführen. Welche Umstände dazu beitragen, dass das Hirn über Minuten nicht mit Sauerstoff versorgt wird, frage er sich. »Man kann nicht sagen, so etwas gibt es nicht. Ich habe so etwas noch nie erlebt und habe auch die Literatur der letzten drei Jahre dazu zu Rate gezogen – dort ist nicht davon die Rede«, bekennt der Kinderkardiologe.
Lilie ergreift das Wort: »Mit Dopplersonografie kann man die Hirnaktivität nachweisen«, führt er eine Literaturquelle an. Er habe die Literaturstelle im Kapitel »Sonografische Diagnostik« auf Seite 171 im Standardlehrbuch »Gynäkologie und Geburtshilfe« (Schneider/Husslein/Schneider) gefunden. Sie beziehe sich sich auf Kinder nach der Geburt. »Der Einfachheit halber lege ich die Fundstelle aus dem Fachbuch dem Gericht vor.« Er übergibt Papiere an das Gericht. Einige fachliche Details werden besprochen, wie die Bedeutung eines silenten Herztonverlaufs, die Beschaffenheit des kindlichen Herzens und seine eventuell möglichen intrauterinen Erkrankungen. Kercecioglu kann keine Anhaltspunkte für eine Pathologie erkennen. Der Experte wird verabschiedet.
Prozessende in Sicht?
Von dem Neuropathologen Dr. Felsberg möchte der Vorsitzende Richter wissen: »Gibt es einen Anlass zum Korrigieren früherer Einschätzungen?« Dieser verneint, an seinen Befunden und seiner Einschätzung habe sich nichts geändert. Dennoch folgt eine ausführliche Erörterung fachlicher Details.
Schließlich erkundigt sich der Vorsitzende Richter bei Frau Dr. Göcke nach ihrem beruflichen Hintergrund, er habe im Internet nichts über sie gefunden. Sie sei ab 1995 am Vinzenz Pallotti Hospital in Bensberg tätig gewesen und über ihre ganze Berufstätigkeit hinweg im deutschsprachigen Raum in die Fachgesellschaften der Kinderpathologie eingebunden gewesen. Seit fünf Jahren sei sie im Ruhestand, gibt sie Auskunft. »Da Dr. Zweihoff spätestens 12.30 Uhr gehen muss, hören wir die Sachverständige Frau Dr. Göcke heute nicht«, kündigt der Vorsitzende Richter an. Er gehe davon aus, dass sie noch einmal wiederkommen könne, wozu diese bereitwillig zustimmt. Mit den Prozessbeteiligten wird die Planung der nächsten Wochen besprochen. Meyer bedauert, dass man es leider nicht schaffen werde, weder am 5. noch am 26.Juni bereits die Plädoyers entgegen zu nehmen. Offenbar möchte er den Prozess nun bald abschließen.
Die Hebamme, die gemeinsam mit der Angeklagten nach einer anderen tragisch ausgegangenen Geburt in einen Zivilprozess verwickelt ist, soll nächstes Mal noch einmal vorgeladen werden. »Wir haben den Verdacht, dass sie uns angelogen hat«, erläutert der Vorsitzende den Grund. Er hatte diesen anderen Fall in die Verhandlungen einbezogen, wie er auch sonst in verschiedene Richtungen recherchiert hatte, offenbar um festzustellen, ob es weitere Schadensfälle bei Hausgeburten gab, die auf eine besondere Risikobereitschaft der hier beschuldigten Hebamme und Ärztin hinweisen könnten. Für den Tatvorwurf des Totschlags – ein Verbrechen, auf das 5 bis 15 Jahre Haft stehen, ist Vorsatz eine definierte Bedingung, zumindest, dass der Tod des Kindes billigend in Kauf genommen wurde.
Noch ein Befangenheitsantrag
Der Prozesstag endet mit einem weiteren Befangenheitsantrag von Rechtsanwalt Böhme – diesmal gegen den Sachverständigen Prof. Dr. Thomas Schwenzer, der in dem besagten anderen anhängigen Schadensfall als Sachverständiger tätig ist und bei den letzten beiden Terminen hier vernommen wurde. Er erwecke den Anschein der Parteilichkeit, weil er seinen Gutachtenauftrag überschreite und zu Fragen Stellung genommen habe, die nicht vom Beweisauftrag umfasst seien. Dabei verletze er seine Neutralitätspflicht, bemängelt Böhme. Schwenzer habe einen weiteren Fall neu aufs Tapet gebracht, der nichts mit seiner Befragung zu tun gehabt habe. Deshalb sei Besorgnis gerechtfertigt, der Sachverständige habe ungefragt Beweismittel erbracht, um eine Verurteilung in seinem Sinne wahrscheinlicher zu machen. Schwenzer habe, als die Angeklagte ihn durch ihre Fragen in die Enge getrieben habe, ein wohlpräpariertes fachgynäkologisches Gutachten aus der Tasche gezogen, dem Gericht überreicht und erklärt, dies sei nicht der erste Fall, wo sie miteinander zu tun hätten. Jenes Ermittlungsverfahren sei bald eingestellt worden. Die hier angeklagte Ärztin und Hebamme, die mit fast 2.000 betreuten Geburten über erhebliche Erfahrung und Fachkompetenz verfüge, sei damals spät von der betreuenden Hebamme zu einer Geburt im Mai 2005 hinzugezogen worden. Sie habe nach ihrem Eintreffen und der Untersuchung der Gebärenden nach kurzer Beobachtung den Transport ins Krankenhaus veranlasst – wo das Kind später aus unbekannten Gründen tot geboren wurde – sie habe sich also vollkommen korrekt verhalten. Das vorgelegte Gutachten habe sich auch nur mit der anderen Hebamme, nicht mit der hier angeklagten Hebamme und Ärztin auseinanderzusetzen gehabt. Keiner der beiden Geburtshelferinnen habe ein konkreter Fehler oder eine unterlassene Hilfeleistung zur Last gelegt werden können, so sei das Verfahren eingestellt worden.
Kurzer Prozesstag
Der 22. Prozesstag am 5. Juni endet schon nach kurzer Zeit: Die vorgeladene Hebamme, die in den anderen Schadensfall mit Zivilprozess um ein schwerst geschädigtes Kind involviert ist, ist mit ihrem Anwalt erschienen. Der erklärt, dass seine Mandantin von ihrem Auskunftsverweigerungsrecht Gebrauch machen werde. Der Vorsitzende Richter weist darauf hin, dass der neu bekannt gewordene Fall des am 23. Mai 2005 in einer Klinik tot geborenen Kindes strafrechtlich verjährt sei. Es gehe hier um Verstöße gegen die Wahrheit bei einer früheren Vernehmung. »Es gibt Anhaltspunkte, dass Sie die Unwahrheit gesagt haben«,erläutert der Vorsitzende der Zeugin den Grund für die Vorladung. Alle Gerichtsmitglieder hätten sich daran erinnert, dass die Hebamme ausgesagt habe, es sei früher zu keinen Komplikationen bei der Zusammenarbeit mit der hier Angeklagten gekommen. »Das entspricht nicht den Tatsachen«, stellt Meyer fest, wie dieser weitere Fall zeige: »Ist das richtig?« Die adressierte Zeugin gibt keine Antwort. »Ich spreche mit Ihnen!«, insistiert der Richter, doch er kommt nicht zum Ziel. »Sei’s drum«, bemerkt dieser, »wir nehmen das in Kauf.« Der Anwalt und seine Mandantin werden verabschiedet:»Tschüss zusammen!«, wendet sich der beim Gehen kurz zum Zuschauerraum. »Das Benehmen lässt auch zu wünschen übrig«, murmelt der Vorsitzende, als die beiden den Gerichtssaal verlassen haben, und gibt ausführlich den Sachverhalt zu Protokoll. Rechtsanwalt Böhme, diesmal als einziger Strafverteidiger anwesend, legt dabei Wert darauf, dass seine Mandantin in die Ermittlung in dem neu bekannt gewordenen Fall nicht mit einbezogen war: »Es ist der ganzen Akte nicht zu entnehmen!« »Gut, den letzten Satz streichen wir«, korrigiert der Richter das Protokoll. »Möchten Sie sich zu dem Fall äußern?«, fragt er die Angeklagte. »Nein«, antwortet Böhme. Der Vorsitzende Richter spricht die Angeklagte noch einmal direkt an. Ihr Anwalt wendet sich an sie: »Ich habe voreilig Nein gesagt – wollen Sie?« »Können wir uns kurz besprechen?«, fragt die Angeklagte. Dies wird ihr zugestanden.
Nach einer kurzen Besprechungspause beginnt Böhme: Der Nabelschnur-pH-Wert von 7,21, der bei der Geburt in der Klinik festgestellt worden sei, deute auf einen ebenso unerklärlichen Tod hin, wie hier im vorliegenden Fall. »Leider ist bei uns kein Nabelschnurblut entnommen worden. Es wurde damals ein CTG abgeleitet, das bis zuletzt 120 bis 130 Schläge angezeigt hatte, leider ist das CTG verschwunden. Das Fruchtwasser war zu Hause klar, nicht erbsbreiartig.« Der Vorsitzende wendet sich zunächst an die angeklagte Hebamme und Ärztin: »Sind das Ihre Angaben?« »Ja«, antwortet diese. Ob das Fruchtwasser klar oder erbsbreiartig war, findet der Richter, sei möglicherweise kein Widerspruch – zu Hause beim Fruchtblasensprung sei es klar gewesen, im Krankenhaus dann erbsbreiartig. »Haben Sie Calciumtabletten besorgen lassen?«, fragt er die Angeklagte weiter. Aus den Zeuginnenaussagen in der Akte hat er entnommen, dass sie nach ihrem Eintreffen zunächst eine Hebammenschülerin beauftragt hatte, Calcium zu besorgen, dann erst hatte sie die Untersuchung vorgenommen. Die Gefragte kann sich nicht mehr an dieses Detail erinnern; sie erklärt, warum sie manchmal bei einer Wehenschwäche Calcium einsetze zur Aktivierung der Muskulatur. Der Einsatz von Wehenmitteln sei ihr in der Hausgeburtshilfe zu riskant. Der Richter fragt nach der Litzmannschen Obliquität, einem Begriff, der damals in einer Zeuginnenvernehmung gefallen war. »Das Kind war auf Beckenboden, von daher spielte die Litzmannsche Obliquität keine Rolle«, erläutert die Ärztin und Hebamme die geburtshilflichen Zusammenhänge weiter. Schließlich bremst Böhme: »Herr Vorsitzender, wir hatten noch keine Gelegenheit, die Akte, die erst kürzlich kam, mit meiner Mandantin zu besprechen.« Der Richter geht darauf ein – er hält es für unproblematisch, für heute erst einmal das Geburtsprotokoll der betreuenden Hebamme von damals zu verlesen. Es dokumentiert die Geburt vom 23. Mai 2005 bis zur Verlegung in die Klinik 9.40 Uhr, 25 Minuten nachdem die Ärztin um 9.15 Uhr eingetroffen war.
Schließlich soll noch ein neues Dokument mit in die Prozessunterlagen einbezogen werden, das Protokoll der Überprüfungen aller Handyverbindungen und der gespeicherten SMS vom beschlagnamten Mobiltelefon der Angeklagten von 2008 – darin gehe es darum, welche SMS und welche Telefonverbindungen zu welchem Zeitpunkt stattgefunden hätten. Es sei knapp 100 Seiten lang, der Vorsitzende ordnet an, dass es von den Prozessbeteiligten im Selbstleseverfahren zur Kenntnis genommen wird. Nach weiteren organisatorischen Bemühungen brechen alle schon gegen 11 Uhr wieder auf.
Zeuginnenvernehmung
Auch der 23. Verhandlungstag am 26. Juni endet bereits mittags. Die Strafverteidigerin Andrea Combe habe ihr Mandat niedergelegt, gibt der Vorsitzende Richter zu Beginn bekannt. Nur eine Zeugin soll heute vernommen werden, eine Hebamme. Von ihr verspricht sich das Gericht Auskunft über die in der letzten Verhandlung betrachtete Geburt, bei der sie als Hebammenschülerin dabei gewesen war. Die im Mai 2005 in die Klinik verlegte Hausgeburt endete tragisch: Das Kind war tot, als es dort einige Zeit später am Vormittag spontan geboren wurde. Zuvor verliest der Richter eine Entbindungserklärung von der Schweigepflicht der betroffenen Mutter vom 10.Juni diesen Jahres. Die damalige Schülerin hatte zwar miterlebt, wie die hier angeklagte Ärztin und Hebamme von der betreuenden Hebamme hinzugezogen worden war und dass die Frau bald danach in die Klinik verlegt wurde,kann sich aber an Details zum Geschehen vor acht Jahren partout nicht erinnern. Der Vorsitzende Richter versucht ihr Erinnerungsvermögen zu aktivieren. Nach einer zähen Befraguung zu den genauen Umständen, gibt der Vorsitzende die nachforschenden Fragen schließlich auf und nimmt das Protokoll der polizeilichen Vernehmung vom Dezember 2006 zu Hilfe. »Wenn ich das damals so gesagt habe«, räumt die Zeugin ein, ohne dass ihr eine Erinnerung dämmert. Warum die hier Angeklagte von der damals betreuenden Hebamme hinzugezogen worden sei, möchte der Richter weiter wissen. »Sie sagt mir doch nicht, warum sie eine Ärztin hinzuzieht«, antwortet die Zeugin ratlos. »Es wurde untersucht, die Herztöne waren nicht auffindbar, dann fuhr man zu viert in die Klinik«, erinnert sich die Zeugin. Der Richter erläutert nach Aktenlage: »Ihr spätes Eintreffen begründete die Ärztin damit, dass die betreuende Hebamme ihr Kommen nicht als dringend bezeichnet habe.« Sie habe nur zum Nähen kommen sollen, habe der Vater ausgesagt. »Calcium?«, wirft der Richter als Stichwort in den Raum. Die Zeugin schaut ratlos. »Ich wurde losgeschickt, um aus der Apotheke Calcium zu holen. Als ich zurückkomme, macht die Ärztin gerade die Untersuchung. Sie stellt eine Litzmannsche Obliquität fest«, liest er aus ihrer polizeilichen Vernehmung vor. »Ist damals der Begriff Zystocele gefallen?«, fragt er. Im späteren Bericht des Krankenhauses sei diese diagnostiziert worden, »eine über Stunden vorhandene Vorwölbung der Blase, die ein Durchtreten des Kindes unmöglich macht.« »Darf ich etwas fragen?«, bittet die Zeugin: »Aber das Kind ist doch spontan zur Welt gekommen!« »Ja, aber nach einer Episiotomie,« liest der Richter im Geburtsprotokoll der Klinik nach: »Seit fünf Stunden Muttermund vollständig, es bestätigt sich der Befund, seit mehreren Stunden zweitgradige Zystocele, die einen Durchtritt des Kindes unmöglich macht. Nach Schneiden einer Epi kommt das Kind tot zur Welt.« »Nach wessen Meinung, wurde die Verlegung in die Klinik beschlossen?«, fragt der Vorsitzende weiter. »Die Herz töne waren nicht auffindbar«, antwortet die Zeugin. »Sie sollen damals angegeben haben, Sie hätten es vorgezogen, eher in die Klinik zu fahren«, möchte der Richter wissen. Die Zeugin entgegnet: »Ich war Schülerin, ich konnte die Situation nicht einschätzen.«
Einschätzung der Angeklagten
Nachdem die Zeugin entlassen ist, äußert sich die Angeklagte bereitwillig zu diesem Fall: Erstmals beantwortet sie alle Fragen des Richters mit ruhiger konzentrierter Stimme und gibt Auskunft über fachliche geburtshilfliche Details. Aufmerksam hört ihr der Vorsitzende zu. Die Hebamme und Ärztin erklärt, dass sie sich, wenn sie zu einer Hausgeburt gerufen wird, zunächst mit dem Elternpaar bekannt und sich ein Bild von der Gesamtsituation macht und dann erst körperliche Untersuchungen vornimmt. Dass sie damals, nachdem sie die Herztöne nicht gefunden habe und besorgt gewesen sei, deshalb die Verlegung in die Klinik veranlasst habe, wo man dann kontinuierlich normale Hertöne aufgezeichnet habe. Sie habe die Eltern über ihre Sorge aber zu dem Zeitpunkt nicht informiert, um keine Panik zu verursachen – schließlich hätten diese schon einmal ein Kind verloren. Der Richter hat noch einige Fragen zu den näheren Umständen, die sie ihm erläutert. Den Eindruck, den der Richter aus den verschiedenen Aussagen und Angaben in den Unterlagen gewonnen hatte, dass die Frau gegen ihren Wunsch nur ihrem Mann zuliebe zu Hause geblieben sei, kann sie nicht bestätigen, auch wenn sie in der Situation noch nicht vor Ort gewesen sei. Die Frau sei nicht der Typ gewesen, sich bevormunden zu lassen. Sie gehe davon aus, das Gespräch mit ihrem Mann unter vier Augen in einer Erschöpfungsphase der Geburt habe sie ermutigen sollen und dass beide anschließend einvernehmlich weiter beim Wunsch zur Hausgeburt geblieben wären.
Zum Ende des Verhandlungstages fasst der Vorsitzende bei der Terminplanung den Abschluss des Prozesses ins Auge: Am 26. September soll noch der Fetalpathologe Prof. Dr. Ivo Leusclmer als vom Gericht bestellter Sachverständiger gehört werden. Die geringe Auswahl an möglichen Experten, die kurzfristig ein Gutachten hätten erstellen können, wird erörtert – der Vorsitzende hatte mehrere Anfragen gestellt. Er möchte einen Sachverständigen bestellen, den nicht die Verteidigung benannt hat. »Wir haben ihn gewählt, weil er ab vom Schuss ist.«, begründet der Vorsitzende die Wahl. Unmittelbar nach der Erstattung seines Gutachtens sollen am 27. September die Plädoyers der Verteidigung und der Staatsanwaltschaft entgegengenommen werden. Einige Wochen später soll das Urteil verkündet werden.