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Schuld ist ein Kernbegriff des deutschen Strafrechts: Schuldhaft handelt, wer für ein strafbares Geschehen persönliche Verantwortung trägt. In der Medizin und in der Geburtshilfe sollte das oberste Ziel allen Handelns das Wohlergehen der behandelten Personen sein. Wie kann da von Schuld die Rede sein?

Die öffentliche Wahrnehmung von Straftaten ist geprägt durch Krimis, die als literarische Gattung oder auch als Filmgenre zur allgemeinen Unterhaltung beitragen. Unterhaltung folgt ihren eigenen Regeln. Sie kann nicht durch den Hinweis auf ihren fehlenden Wahrheitsgehalt oder die kritische Offenlegung von Inkonsistenzen und Unwahrscheinlichkeiten als langweilig blamiert werden. In Krimis wird in erster Linie gemordet und getötet. Und zwar bewusst. Die Täter:innen haben nahezu immer ein Motiv, das der Polizei hilft, sie schließlich zu entdecken. Die Täter:innen handeln zumeist nach einem vorab gefassten, ausgeklügelten Plan. Bisweilen werden sie auch in einem Strudel der Ereignisse mitgerissen – und erhalten so endlich, eher zufällig, die Chance zu verwirklichen, was sie sich schon länger wünschten: dem Lieblingsgegner oder einer langjährigen Feindin den Garaus zu machen.

Mit diesem medial inszenierten Bild im Kopf fällt es den Menschen in unserer Gesellschaft zunehmend schwerer, eine andere Perspektive auf die real existierende, oftmals sehr viel trivialere Kriminalität einzunehmen, die in weitaus kleinerem Maßstab mit Hilfe von Strafbefehlen, amtsgerichtlichen, selten genug landgerichtlichen Verfahren unseren Alltag prägt.

Ohne böse Absicht

Viele Straftaten werden keineswegs geplant, jedenfalls nicht als Straftat. Sie beginnen im Rahmen der alltäglichen Lebensroutine: auf gewohnten Wegen, auf Dienstreisen, beim Sport, im Kindergarten oder in der Druckerei. Der Lastwagenfahrer, der beim Rechtsabbiegen vorsichtig schaut, das Kind auf dem Roller im toten Winkel übersieht und überfährt, ist kein Mörder. Er würde wohl alles tun, das Geschehene ungeschehen zu machen – und das nicht nur, weil er nicht bestraft werden möchte oder Schadenersatzansprüche befürchtet. Er hat keine böse Absicht, er möchte diesem Kind und dessen Familie kein Leid zufügen.

Es gibt viele gefährliche Orte in der Gesellschaft, an denen Menschen in Gefahr geraten, verletzt zu werden, zu sterben, Traumata zu erleiden – und an denen andere schuldig werden oder jedenfalls in Verdacht geraten, unrecht gehandelt zu haben. Kindergärten gehören dazu, Schwimmbäder, die Berge, es gibt gefährliche Verkehrsmittel und Werkzeuge, aber auch scheinbar alltägliche Gebrauchsgegenstände, die sich als tückisch erweisen und mit denen man sich oder andere erheblich schädigen kann.

Aus Helfer:innen werden Beschuldigte

Zu den gefährlichen Orten zählen auch solche, die einem in kritischen Situationen Hoffnung und Sicherheit gewähren sollen: Kliniken. Aber auch das eigene Zuhause gehört dazu, insbesondere wenn dort gepflegt oder in irgendeiner Weise medizinisch behandelt wird – und sei es, dass dort ein Kind geboren wird. Denn denjenigen, die einem dort helfen möchten und sollen, die mit großem Engagement und erheblichem Zeitaufwand gelernt haben zu pflegen, medizinisch zu versorgen und Gebärende zu begleiten, unterlaufen auch Fehler – Fehler, die fatale Konsequenzen haben können: Unter der Geburt können das Leben der Mutter und das Leben des Kindes bedroht sein. Im Ernstfall bleibt dann dem Team nur eine äußerst kurze Bedenkzeit, um zu entscheiden, wie vorgegangen werden kann.

Wenn beispielsweise bei einer Zwillingsgeburt beim zweiten Kind eine Bradykardie eintritt und sich die Frage stellt, ob ein Notkaiserschnitt eingeleitet werden muss oder das Kind mit der Saugglocke geboren werden kann. Eine Vakuumextraktion ermöglicht unter Umständen, dass das Kind schneller auf die Welt kommen kann und ist auch weniger invasiv als ein Kaiserschnitt. Misslingt sie aber, ist wertvolle Zeit verloren gegangen und die Gefahr der Sauerstoffunterversorgung deutlich erhöht, was den Tod oder schwere Schädigungen des Kindes zur Folge haben kann.

Wie die Entscheidung im Kreißsaal auch ausfällt – kommt das Kind nicht gesund auf die Welt, besteht für das geburtshilfliche Team zusätzlich die Gefahr, dass die Staatsanwaltschaft und möglicherweise sogar ein Gericht den Vorgang überprüfen werden. Aus denjenigen, die versucht haben, bei einem riskanten Vorgang zu helfen, werden nun Beschuldigte, die ihrerseits Hilfe benötigen: Die Profis, die jetzt am Zug sind, tragen nicht mehr die Kittel in Weiß, Grün oder Hellblau, sondern die Strenge und Nüchternheit signalisierenden schwarzen Roben der Justiz. Welcher Weg nun eingeschlagen wird, obliegt aus Sicht derer, die vor allem helfen wollten, nun den anderen. Im günstigsten Fall geht es nur um Geld: Dann ist die Haftpflichtversicherung am Zuge und trifft ihre Entscheidungen. Für die Ärzt:innen oder Hebammen geht es zwar um ihre berufliche Integrität, um ihr Selbstverständnis, um ihr Zutrauen zu den eigenen Fähigkeiten – aber eher selten um ihre (berufliche) Existenz.

Im schlimmsten Fall tritt die Staatsanwaltschaft auf den Plan und leitet Ermittlungen ein. Dass das, was als medizinische Hilfeleistung begonnen hat, plötzlich wie eine Straftat behandelt wird, ist für die Betroffenen oft nur schwer und manchmal überhaupt nicht nachzuvollziehen. Für die Jurist:innen allerdings ist es Alltag. Dass auch der nicht gewollte Verstoß gegen das Gesetz unter Strafe steht, lernen sie im ersten Semester – genauso wie die vielen Theorien, die von Rechtswissenschaftler:innen entwickelt wurden, um zu begründen, warum es sinnvoll sein soll, Menschen mit der ganzen Gewalt des Strafrechts, der Ultima Ratio staatlichen Handelns, zu verfolgen, die keineswegs vorhatten, sich gegen das Gesetz zu stellen.

Vorsatz und Fahrlässigkeit

Wenn ein Mensch stirbt oder einen nachhaltigen Gesundheitsschaden erleidet, erfüllt das den sogenannten objektiven Tatbestand von Strafvorschriften. Wollte jemand dieses Ergebnis herbeiführen und hat es auch getan, so hat er sich insoweit strafbar gemacht. Hat jemand dieses unerwünschte Ergebnis verursacht, ohne es zu wollen, wirft das Fragen auf: Ist die Justiz hier überhaupt gefragt? Im Zivilrecht, das die Verhältnisse der Bürger:innen untereinander begutachtet, ist das einfach: Wenn es einen Schaden gibt, muss unter sonst gleichgestellten Personen geregelt werden, wer ihn trägt.

Im Strafrecht ist das nicht so selbstverständlich. Hier treten nicht in erster Linie Geschädigte gegen Schädiger:innen an, sondern der Staat gegen seine Bürger:innen. Das bedarf einer besonderen Legitimation. Das Verhalten muss mehr Menschen betreffen als nur die unmittelbar Beteiligten. Im Straßenverkehr liegt das nahe. Hier existieren Regeln, die eingehalten werden müssen. Wer gegen sie verstößt, gefährdet nicht nur sich, sondern viele andere. Diese waren einfach zur falschen Zeit am falschen Ort.

In der Medizin ist es anders und doch ähnlich. Hier wissen alle Beteiligten, dass das Handeln gefährlich ist. Deswegen gilt jeder medizinische Eingriff als Körperverletzung, die nur deswegen nicht bestraft wird, weil die Patient:innen oder auch die Schwangere in dieses Handeln eingewilligt haben. Eingewilligt haben sie, weil ihnen das Risiko überschaubar und die Behandelnden vertrauenswürdig erschienen. Schließlich haben diese eine staatlich geregelte Ausbildung absolviert, unterstehen der Aufsicht von Behörden, die ihnen bei Verstößen gegen grundlegende Regeln auch die Erlaubnis zur Berufsausübung entziehen können.

Es erscheint plausibel, dass es Konsequenzen geben kann, die weiter reichen als bis zum Schadensersatz, wenn sich das durch Aufklärung und Einwilligung geschaffene Vertrauensverhältnis als ungerechtfertigt erweist. Denn wenn Patient:innen oder Schwangere kein Grundvertrauen darin haben können, dass sie unser hochtechnisiertes Gesundheitssystem zumindest unbeschadet durchlaufen, droht dessen Scheitern. Das ist ein Grund für die hippokratischen Grundsätze, denen zufolge es mit Blick auf Patient:innen darauf ankommt: «erstens nicht schaden, zweitens vorsichtig sein, drittens heilen.«

Strafrechtlich münden diese Überlegungen in das Konzept der Fahrlässigkeit. Das Strafgesetzbuch regelt in § 15 klar: »Strafbar ist nur vorsätzliches Handeln.« Im zweiten Halbsatz sieht die Vorschrift aber wichtige Ausnahmen vor: »wenn nicht das Gesetz fahrlässiges Handeln ausdrücklich mit Strafe bedroht.« Fahrlässigen Diebstahl gibt es im Strafgesetzbuch nicht, auch keine fahrlässige Beleidigung und keinen fahrlässigen Betrug. § 222 StGB stellt aber die fahrlässige Tötung und § 229 StGB die fahrlässige Körperverletzung unter Strafe. Allerdings teilt uns das Strafgesetzbuch nicht mit, was »fahrlässig« sein soll. § 276 BGB ist da auskunftsfreudiger: »Fahrlässig handelt, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt.«

Im Strafrecht gilt das ähnlich, auch wenn der Rechtsphilosoph Günter Jakobs in seinem grundlegenden Werk über das Strafrecht kritisch anmerkt: »Im Begehungsbereich ist nicht etwa der sorgfältige Umgang mit Streichhölzern geboten, sondern der sorglose Umgang verboten; eine Pflicht zum Umgang besteht nicht« (Jakobs 1991).

Nicht von Regeln abweichen

Das Oberlandesgericht (OLG) Dresden hat in einem Verfahren eine Hebamme zuerst wegen fahrlässiger Tötung verurteilt und dann freigesprochen. Infolge eines »Wehensturms« und einer sich daran anschließenden Uterusruptur war der Fetus hirntot zur Welt gekommen. In diesem Fall wurde festgehalten, dass für die Beurteilung des Handelns von Hebammen nach dem sächsischen Hebammengesetz der jeweilige Stand der medizinischen Wissenschaft maßgeblich ist. Im konkreten Verfahren war das die »Empfehlung über die Zusammenarbeit von Arzt und Hebamme in der Geburtshilfe« der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG). Danach ist es, so die Auffassung des OLG Dresden, »Stand der deutschen Geburtsmedizin, dass die Hebamme die Schwangere in eigener Verantwortung, wenn auch als Erfüllungs- und Verrichtungsgehilfin des Arztes, betreut.« Das habe die diensthabende Hebamme getan, nachdem eine Ärztin bei der Frau, die zuvor durch einen Kaiserschnitt entbunden hatte, eine Ultraschalluntersuchung durchgeführt hatte, die eine intakte Nabelschnur und über der Mindestdicke liegende Narbendicke des Uterinsegments ergeben hatte: »Vor diesem Hintergrund scheitert ein Fahrlässigkeitsvorwurf schließlich auch daran, dass der weitere Verlauf für die Angeklagte nicht voraussehbar war« (OLG Dresden, Aktenzeichen 2 OLG 25 SS 788/14).

Deutlich wird in dieser Entscheidung, dass die Justiz sich in der Frage, was von Ärzt:innen, aber auch von Hebammen und Geburtshelfer:innen erwartet werden kann, ein eigenes Urteil bildet. Das kann in den verschiedenen Instanzen allerdings unterschiedlich ausfallen. Die Grundlagen dieses Urteils bilden Erkenntnisse und Vereinbarungen, die im professionellen Umfeld der Angeklagten entwickelt und vereinbart wurden. Ähnlich wie in zivilrechtlichen Schadensersatzverfahren sind auch im Strafprozess gegen Ärzt:innen und Hebammen die von Gutachter:innen vorgetragenen Erkenntnisse über sorgfältige und sorglose Vorgehensweisen und den Stand der medizinischen Wissenschaft von erheblicher Bedeutung. Ergeben sich hier schwerwiegende Abweichungen von den festgelegten Regeln, kann das auf das Strafverfahren auch große Auswirkungen haben.

Fahrlässige Tötung oder Totschlag?

Eines der bemerkenswertesten Strafverfahren gegen eine Hebamme und praktische in der jüngeren deutschen Justizgeschichte hatte deswegen auch nicht den Vorwurf der fahrlässigen Tötung zum Gegenstand, sondern endete mit einer Verurteilung zu einer Haftstrafe von 6 Jahren und 9 Monaten sowie einem lebenslangen Berufsverbot als Ärztin und Hebamme wegen Totschlags durch Unterlassen.

Die Schwurgerichtskammer des Landgerichts Dortmund war hier nach einer ausführlichen Beweisaufnahme zu dem Schluss gekommen, dass die langjährig als Hebamme tätige Angeklagte, die zudem praktische Ärztin war, mit einem aus dem Ausland angereisten Paar trotz der Beckenendlage des Kindes eine außerklinische Geburt durchführte. Trotz eines zeitweilig eingetretenen Geburtsstillstandes hätte die Hebamme nicht die Verlegung in ein nahe gelegenes Krankenhaus veranlasst. Nach 18-stündigem Geburtsvorgang sei das Kind schließlich wegen des zwischenzeitlich eingetretenen Sauerstoffmangels sterbend geboren worden. Wäre die gebärende Frau vier Stunden zuvor in die Klinik gekommen, so die durch Gutachten gestützte Auffassung des Gerichts, wäre das Kind noch durch einen Kaiserschnitt lebend zur Welt gekommen. Wer so handelt, so das Schwurgericht, vertraue nicht darauf, dass der unerwünschte Ausgang, der Tod des Kindes, ausbleibt, sondern nehme ihn billigend in Kauf. Dieser Unterschied markiert für die Strafgerichte den Unterschied von bewusster Fahrlässigkeit zu bedingtem Vorsatz, von fahrlässiger Tötung zum Totschlag durch Unterlassen der gebotenen Rettungshandlung – hier der rechtzeitigen Verlegung in die Klinik. Die Entscheidung wurde 2015 vom 4. Senat des Bundesgerichtshofes bestätigt.

Die Ultima Ratio

Für die Schwurgerichtskammer war das Motiv der Ärztin und Hebamme, so vorzugehen, wie sie vorgegangen ist, eigennützig. Sie habe, so heißt es in der Entscheidung, eigennützig gehandelt »aus Angst um ihr Ansehen und ihre fachliche Reputation.« Damit hat das Gericht einen deutlichen Hinweis darauf gegeben, dass medizinisches Handeln in erster Linie dem Wohl der einzelnen Patient:innen verpflichtet ist, bei der Geburt dem Wohl des Kindes und der Gebärenden.

In dem genannten Verfahren ist auch im Rahmen eines Adhäsionsantrages der Schadensersatzanspruch der traumatisierten Eltern mitentschieden worden. Das modernisierte Strafrecht hat nicht mehr nur die Ultima Ratio des strafenden Staates, sondern auch die Lebenssituation der geschädigten Opfer und der Hinterbliebenen im Blick. Das gilt bei Fahrlässigkeitsvorwürfen ebenso wie bei vorsätzlichem Handeln.

Zitiervorlage
Tolmein, O. (2021). Zwischen Hilfeleistung und Straftat. Deutsche Hebammen Zeitschrift, 73 (7), 46–49.
Literatur
Jakobs G: Die Grundlagen und die Zurechnungslehre. Strafrecht Allgemeiner Teil. 2. Auflage. De Gruyter 1991
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