Eine Villa im altehrwürdigen Stadtteil Herrenhausen in Hannover wird zum Geburtshaus. Foto: © Bettina Salis
Es ist Nacht. Evelyn Kampfhofer ist gerade von einer Hausgeburt nach Hause gekommen. Zum Runterkommen fährt sie den Rechner hoch und stöbert in einem Immobiliennetz nach einem passenden Alterssitz: Ein Bauwagen vielleicht, bei dem sie die Fenster mit Ornamenten sandstrahlen kann. Mehr als ihr halbes Leben hat sie als Hebamme gearbeitet. Sie hat Hausgeburten betreut, Kurse angeboten, war Familienhebamme, hat in Geburtshäusern gearbeitet, ist staatlich anerkannte Praxisanleiterin geworden und hat in an der Fachhochschule in Salzburg Salutophysiologie studiert. Sie ist hochqualifiziert. Doch die Rente wird vorne und hinten nicht reichen.
Im Bauwagen zu leben, könnte helfen, die laufenden Kosten des Ruhestands zu bändigen – überlegt sie. Doch statt eines Bauwagens findet sie eine Villa in Hannover Herrenhausen.
Etwa 18 Monate später: eine weiße Villa. 10 Uhr morgens. Draußen ist Winter. Zwei Frauen mit Baby vor dem Bauch betreten das Foyer: Holzdielenboden, hohe Decken, eine Garderobe mit Porzellandeckeln als Aufhänger. Ein großes Fenster erlaubt den Blick in einen Wintergarten, in dem ein langer, gedeckter Tisch steht. Es ist wohlig warm. Eine weitere Frau kommt von draußen, bleibt auf der Schwelle stehen: »Könnt ihr das Wagenhaus aufschließen, bitte.« Evelyn Kampfhofer schlüpft in ihre Schuhe, greift einen Schlüssel, geht mit der Frau nach draußen und schließt auf: eine Steingarage gegenüber dem Eingang zur Villa, gefliest mit grob behauenen Steinfliesen. Stilvoll. Reichlich Platz für Kinderwagen.
Die Frauen kommen heute zum Frauenfrühstück. Das gibt es einmal im Monat im Geburtshaus und der Hebammerei Herrenhausen. Vier Frauen mit ihren Babys und eine Schwangere sind heute da. Anna-Lena Notka, seit gut einem Viertel Jahr Hebamme und – wie alle Hebammen in diesem Team – als Freie im Geburtshaus, hat heute das Frühstück vorbereitet und setzt sich zu den Frauen. Gespräche werden immer wieder unterbrochen von Babyweinen und Trostversuchen. Ein munteres Geplauder im Wintergarten, durch dessen Fenster die Wintersonne dringt.
Etwas später gesellt sich Evelyn Kampfhofer, die alleinige Betreiberin des Geburtshauses, dazu, sie hatte zuvor eine Schwangere versorgt. Sie fragt nun eine der Frühstücksmütter, wo sie geboren hat. Sie habe in der-und-der Klinik geboren, antwortet sie. Ihr Ton ist hart und abwehrend: »Kaiserschnitt. Geplant.« Evelyn Kampfhofer beugt sich zu ihr, vorsichtig und weich, und spricht leise mit ihr. Die Frau entspannt sich, lässt die Schultern fallen und beißt in ihr Brötchen. Von den Müttern, die heute im Geburtshaus sind, hat keine hier geboren. Doch sie kommen und tauschen sich über ihre Geburtserlebnisse aus – keine rechtfertigt sich. »Hier ist jede Frau willkommen. Egal wo und wie sie geboren hat«, sagt die 55-Jährige. Das spüren die Frauen. Auch dafür hat Evelyn Kampfhofer dieses Geburtshaus gegründet.
Foto: © Bettina Salis
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Sie hatte diese Villa nicht gesucht, aber die Villa hat sie gefunden. Sie hatte auch keinen Plan, ein Geburtshaus zu eröffnen. Aber es gab Vieles, was sie schon längere Zeit bewegte, das sich überschreiben lässt mit »Verlust von Hebammenwissen«. Drei kleine Kliniken mit Geburtshilfe waren in den vergangenen Jahren geschlossen worden – alle drei im Umfeld des heutigen Geburtshauses Herrenhausen. Mit Sorge betrachtet sie die Entwicklung zur Zentralisierung und Medikalisierung der Geburtshilfe.
In Hannover gibt es zwar noch das Geburtshaus Erlenriede, aber das platzt aus allen Nähten. Frauen und Hebammen, die eine frauen- und hebammenzentrierte Geburtshilfe wollen, bleibt fast nur noch die Hausgeburt. Und da ist die Hürde hoch, hat die gestandene Hausgeburtshebamme beobachtet. In ein Geburtshaus kommen sie eher – sowohl die Frauen als auch die Hebammen. Dieser Rahmen scheint eine andere Sicherheit und Geborgenheit zu vermitteln, ebenso die Tatsache, dass es ein Team gibt. Und dafür, findet Evelyn, hat es sich gelohnt, ein Geburtshaus zu eröffnen. »Was habe ich als junge Hebamme über Geburtshäuser geschimpft«, lacht sie. »Ich freue mich über das Normale und Gesunde und wenn Hebammen und Frauen das Vertrauen haben, dass Geburt geht.« Dafür will sie in ihrem Geburtshaus die Voraussetzungen schaffen. Grundlage dafür bietet ihr die Salutophysiologie, wie die Hebamme Verena Schmid sie an der Fachhochschule in Salzburg lehrt.
Foto: © Bettina Salis
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Stellen Sie sich vor, das Leben verläuft wie ein Fluss, mal breiter und ruhiger, mal enger und rascher, dann wieder entwickelt es Stromschnellen, die es meistern muss, oder es läuft durch tiefe Schluchten, die bedrohlich wirken, um wieder weit und seicht zu werden.
Diese Metapher vom Leben als Fluss entwickelte der Medizinsoziologe Aaron Antonovsky, um sein Konzept der Salutogenese zu beschreiben. Es ist bewusst dem der Pathogenese entgegengestellt – also dem in der westlichen Welt gängigen medizinischen Modell, das nach einem Auslöser für eine Krankheit, eine Dysfunktion, sucht, und diese behandelt. Zum Beispiel Stress. Der kann den Menschen krank machen, sagt die Schulmedizin. Die Salutogenese geht davon aus, dass Stress auch dazu führen kann, einen Menschen zu genesen, weil er ihn mit Fähigkeiten ausstattet, Krisen zu bewältigen – also gekonnt die Stromschnellen des Flusses zu meistern. Und gestärkt daraus hervorzugehen.
Im Konzept der Salutogenese ist das Vorhandensein dieser Kompetenzen ein Zeichen der Gesundheit. Wobei Gesundheit kein stabiler Zustand ist, sondern der Mensch versucht, sich ihr in einer beständigen Bewegung zu nähern. Anders ausgedrückt: Der Mensch versucht einen homöostatischen Zustand zu erlangen – also in ruhiges Wasser zu kommen. Nach Auffassung Antonovskys verfügt jeder Mensch über Ressourcen, diesen Zustand zu erreichen.
Die Hebamme und Hebammenlehrerin Verena Schmid hat die Salutogenese mit Theorien physiologischer Prinzipien verbunden und daraus das Modell der Salutophysiologie entwickelt. An der Hochschule in Salzburg leitet sie einen Masterstudiengang dazu. Evelyn Kampfhofer hat dort studiert – nur die Abschlussarbeit fehlt noch, da kam die Gründung des Geburtshauses dazwischen. Die Lehre aber, die hat sie sich zu Eigen gemacht. Salutophysiologie, das sagt sie immer wieder, soll die Arbeit im Geburtshaus prägen. Auch wenn Evelyn und ihr Team bis heute noch keine Kapazitäten hatten, ein fundiertes Konzept dazu zu erstellen: Der Geist herrscht im Haus.
Foto: © Bettina Salis
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Und diesen Geist haben auch Christina und Lasse Ehlerding gespürt. Sie haben ihren Sohn Fabio im Geburtshaus bekommen. Sie wollten nicht ins Krankenhaus: »Im Krankenhaus bin ich mehr Kostenstelle als Patientin« begründet Christina diese Entscheidung, und ergänzt: »Auch sind die Ärzte dort schnell mit einer Sectio-Entscheidung dabei und geben kaum Zeit, die Entscheidung zu überdenken.« Positiv ausgedrückt: Christina und Lasse sind davon überzeugt, dass der Körper »es natürlich macht«, wie Christina sagt. Und nur im Geburtshaus oder bei einer Hausgeburt bekämen sie Raum und Zeit, wie sie sie bräuchten. Und das sei ihnen besonders wichtig. Ein besonderer Bonus sei in diesem Fall, dass sie sich im Geburtshaus wie zu Hause fühlen könnten.
Eigentlich wollte sich das Paar beide Geburtshäuser Hannovers anschauen, aber nachdem sie im Mai 2017 zum Infoabend in Herrenhausen waren, hatten sie sich bereits entschieden. Sie meldeten sich zur Geburt an – am 13. Oktober kam dann ihr Sohn Fabio dort zur Welt.
Noch immer sind sie begeistert. Sie fühlten sich rundum gut betreut. Sie schütteln immer noch den Kopf über den betreuenden Frauenarzt: »Der hat uns kaum informiert, auch nicht darüber, dass wir uns eine Hebamme suchen sollten.« Im Geburtshaus hatten sie das Gefühl, dass die Hebammen wissen, was sie tun – und das vermittelte ihnen Sicherheit. Konsequent wechselten die werdenden Eltern für die Schwangerenvorsorge zu ihren Hebammen, nahmen sie im Wechsel zwischen Geburtshaus- und Wochenbetthebamme wahr. Denn für die Wochenbettbetreuung mussten sich Christina und Lasse eine weitere Hebamme suchen.
Fabios Geburt erleben die Eltern positiv: Sie hatten die Zeit, die sie brauchten, nach der Geburt konnten sie sich ganz in Ruhe als Familie finden. Alles konnten sie im eigenen Tempo machen. Das war nicht nur ein Versprechen, das war so.
Foto: © Bettina Salis
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Crowdfunding (aus dem Englischen von Crowd: Menge; Funding: Finanzierung) gibt es schon seit weit über 100 Jahren. Nur hieß es damals anders. Im Kern geht es darum, über sehr viele kleine Spenden ein Projekt zu finanzieren.
Schon das Geld für den Sockel der Freiheitsstatue in New-York wurde Mitte der 1880er-Jahre per Massen-Finanzierung gesammelt; damals lief das per Aufruf über eine große Zeitung. Am Ende kam über viele kleine und wenige große Spenden das erforderliche Geld zusammen. Der Lohn für die Spender: Sie wurden namentlich in der Zeitung erwähnt.
Wesentlich beim Crowdfunding ist nämlich, dass die Geber oder Geberinnen einbezogen werden: zum Beispiel, indem sie später an den Gewinnen eines Unternehmens beteiligt werden, oder indem sie ein Dankeschön erhalten. Das moderne Crowdfunding findet im Internet statt. Über Websites, Blogs oder andere Kanäle können die Projekte für ihr Crowdfunding werben: wobei immer eine Summe festgelegt wird, die innerhalb eines definierten Zeitraums erreicht werden muss. Gelingt das nicht, gilt das Crowdfunding als gescheitert und die GeberInnen bekommen ihr Geld zurück.
Bevor die Villa zu Geburtshaus und Hebammerei wurde, war sie ein medizinisches Bildungszentrum – vorwiegend für Notfall- und Rettungssanitäter. Eine männliche Welt. Sehr funktional, aber nicht eben gemütlich oder gar schön. Evelyn lacht, als sie erzählt, wie die Wände und die Fliesen aussahen, und die Herrentoiletten. Diesen Geist galt es aus dem Haus zu fegen, und dafür musste sie viel Geld in die Hand nehmen. Mehr als 100.000 Euro sind in den Umbau des gemieteten Hauses geflossen. Den größten Batzen finanzierte sie privat, schuftete bis an die Belastungsgrenze und lieh sich Geld von solventen Familien, die sie mal betreut hatte – und die gerne ihr Projekt unterstützen wollten. Ein Teil kam über Crowdfunding herein.
Janna Siemers kannte Evelyn Kampfhofer, weil sie ihre Hebamme war. Nach ihrem zweiten Kind suchte sie nach einer Aufgabe: Sie hatte das Kliniksterben um sich herum verfolgt und wollte sich engagieren. Da kam das Crowdfunding fürs Geburtshaus gerade recht. Gemeinsam arbeiteten sich die beiden Frauen in das Thema ein, besuchten Seminare bei der Industrie- und Handelskammer in Hannover. Dort erfuhren sie, dass es besser sei, für ein kleineres Projekt zu werben, das aus dem großen Ganzen ausgegliedert wird – zum Beispiel für eines der beiden Bäder mit Gebärwanne.
Dann mussten sie sich für eine der zahllosen Crowdfunding-Seiten entscheiden. Die Wahl fiel auf Startnext – die war ihnen für ihre Art Anliegen in einem der Seminare empfohlen worden. Und auch die Filmemacherin Carola Hauck hatte für ihren derzeit im Kino laufenden Film »Die sichere Geburt – Wozu Hebammen« über diese Seite Geld gesammelt. Das überzeugte. Auf dieser Seite stellten die Frauen ihr Bad-Projekt vor, erklärten, warum es sich lohnt, zu spenden und das Projekt zu unterstützen, und was sie für dieses Projekt genau benötigten: eine große Gebärwanne, Waschbecken und Toilette, Armaturen, Fliesen für Wand und Boden und Handwerker. Das Finanzierungsziel belief sich auf 8.000 Euro; das Geld sollte innerhalb von zwei Monaten zusammenkommen. Als Dankeschön konnten die Spender unter anderem aussuchen zwischen:
Am Ende kamen über 12.000 Euro zusammen, genug, das Bad und die Dankeschöns zu bezahlen. Im April 2017 öffnete das Geburtshaus – zunächst für Kurse, Beratung und Schwangerenvorsorge, seit August können Frauen hier auch gebären.
»Die Hebammenkunst kann nur bewahrt bleiben, wenn wir den Nachwuchs fördern«, davon ist Evelyn Kampfhofer überzeugt. So ist es ihr auch ein Anliegen, mit dem Geburtshaus Hebammenwissen zu erhalten und es weiterzugeben. Deshalb nimmt sie gerne Externatsschülerinnen – schließlich ist sie ja Praxisanleiterin im Hebammen- und Gesundheitswesen – und auch Schülerpraktikantinnen, die sie früh an den Beruf heranführen möchte: »Die lernt hier was über den Beruf, und wenn wir Glück haben, wird sie später eine gute Hebamme!« Demnächst wird eine kommen, eine junge, zarte Frau mit langen blonden Haaren, die auf ihrem Bewerbungsfoto etwas schüchtern, aber freundlich in die Kamera schaut. »Die ist total engagiert. Und in zehn Jahren ist die bestimmt die beste Hebamme«, lacht Evelyn Kampfhofer etwas unsicher – als wisse sie nicht recht, ob sie ihren Worten trauen könne.
Während sie über den Nachwuchs plaudert, sitzt ihre Kollegin Friederike Haferland neben ihr; sie ist schon lange Hebamme und grade dabei, sich beruflich neu zu sortieren. Sie möchte gerne hier und dort aushelfen im Geburtshaus – heute zum Beispiel Laub vor dem Wagenhaus harken. Doch Evelyn hat Größeres vor: Sie möchte gerne revitalisieren, wie sie es nennt. Wünscht sich, dass diese Kollegin oder weitere Hebammen, die nicht mehr im Kreißsaal arbeiten möchten, wieder glühen und Feuer fangen und Geburten betreuen. Ob ihr das gelingt wird sich zeigen, die ersten Funken sind bereits versprüht.
Und was immer wieder durchklingt: Das Hebammenwissen darf nicht verloren gehen, und dafür muss und will sie das Wissen erhalten. Für die Hebammen, für die Frauen und für unsere Zukunft.
Gesundheit und Genesung – das Salutogenese-Modell. www.mcgesundheit.de/gesundheit/salutogenese, Zugriff 21.1.2018
Stiftung für Salutogenese: Salutogenese – neue Erkenntnisse schaffen! www.salutogenese-zentrum.de, Zugriff 21.1.2018
Scheuer C: Midwifery Modell und salutogenetische Betreuung. http://verenaschmid.eu/de/category/salutogenese-2, Zugriff 21.1.2018
Best Practice: Statue of Liberty. www.crowdfunding.de/best-practice-statue-of-liberty-new-york/, Zugriff 21.1.2018
Geburtshaus und Hebammerei Herrenhausen. www.startnext.com/geburtshaus-herrenhausen, Zugriff 21.1.2018