Es ist gegen Ende eines anstrengenden Spätdienstes mit einigen Herausforderungen, als es an der Kreißsaaltür klingelt. Ich bin nicht scharf auf eine weitere Aufnahme, weil ich bereits eine Frau, die gerade geboren hat, und eine Erstgebärende in der fortgeschrittenen Eröffnungsphase betreue. Jetzt erscheint eine gebeugte Schwangere um die 40 hinter der Glastür. Automatisch scannt mein Blick sie ab. Sie hat lange, scheinbar ungepflegte Haare und trägt eine billige Tasche. Noch bevor ich die Tür öffne, hat sich mein inneres Bild von ihr schon verfestigt: Sicher riecht sie nach Nikotin und ihr Mann ist bestimmt ein unangenehmer Typ, der später bei der Geburt gelangweilt in der Zimmerecke sitzt und auf sein Handy starrt.
In der Aufnahme erklärt sie in schlichter Sprache, dass sie in wenigen Tagen ihr viertes Kind erwartet und wohl einen Blasensprung hat. Ich stufe sie also als weniger dringlich ein – erstmal gilt es, den Blasensprung abzuklären und den Wehenbeginn abzuwarten. Weiter hinten im Kreißsaal signalisiert mir die Erstgebärende mit lauter werdendem Tönen, dass ich bald wieder schauen muss, wie weit sie ist.
Während ich die Anamnese bei der zuletzt Eingetroffenen durchführe und die Herztöne aufzeichne, zeigt sich, dass sie bereits leichte Wehen hat. Der Muttermund ist 3 cm geöffnet und sehr weich, das Köpfchen fest im Becken, es geht reichlich klares Fruchtwasser ab. Also rufen wir direkt auch den Partner an. Zwischendurch schaue ich nach der Erstgebärenden, die sich bei 9 cm inzwischen mit Lachgas behilft. Bei der Frau, die gerade ihr Kind bekommen hat, assistiere ich der Ärztin bei der Naht.
Als der Partner der Viertgebärenden erscheint, verfestigt sich mein Vorurteil aufgrund seiner Erscheinung. Er hat bestimmt gerade auch noch eine geraucht.
Als ich ihn hineinbitte, begrüßt er seine Frau mit einem zärtlichen Kuss und streicht ihr liebevoll übers Haar. Beide riechen überhaupt nicht nach Rauch, sind sehr höflich zu mir und gehen ausgesprochen nett miteinander um.
Ich darf kurz darauf eine wunderbar friedliche Geburt begleiten. Die beiden begrüßen ihr Mädchen voller Liebe auf der Welt. Und ich schäme mich, dass ich im ersten Moment so schlecht von den beiden gedacht habe.