vorhandene Telemedizinstruktur via Tele Grafik: © Landkreis Sigmaringen. Erschienen in: Hart, 22022.

Im Landkreis Sigmaringen in Baden-Württemberg hat sich ein Konzept zur Wochenbettbetreuung etabliert, das sowohl die Ressourcen von Hebammen schont und dennoch die Betreuungskontinuität der Wöchnerinnen absichert, als auch das Nationale Gesundheitsziel »Gesundheit rund um die Geburt« ein Stück weit umsetzt.

Ein gesunder Start ins Leben wird nicht nur durch die medizinische Versorgung gesichert, sondern benötigt gute Rahmenbedingungen für Familien (Kohler et al., 2018). Frauen und ihre Angehörigen sollen während der Schwangerschaft, bei der Geburt und im Wochenbett unter Nutzung ihrer Potenziale und Ressourcen gestärkt werden.

Grafik: © Landkreis Sigmaringen. Erschienen in: Hart, 22022.

Die Wochenbettbetreuung sichern

Die gesamte Zeit des Wochenbetts – bis zu acht Wochen nach der Geburt – ist dabei eine entscheidende Phase. Der Übergang ins Familienleben, die Bindung zum Kind und Unterstützung bei auftretenden Problemen sind entscheidend für die Gesundheit und das Wohlbefinden. Diese Aspekte werden im Nationalen Gesundheitsziel »Gesundheit rund um die Geburt« thematisiert und es werden Handlungsempfehlungen für beteiligte Personen im Gesundheitswesen und fachübergreifende Institutionen benannt (Bundesministerium für Gesundheit, 2017).

Die Überwachung des Wochenbetts ist eine Tätigkeit, die den Hebammen vorbehalten ist (Bundesministerium der Justiz und Verbraucherschutz, 2019) (HebG §4). Da für die Wochenbettbetreuung derzeit nicht genügend Hebammen zur Verfügung stehen, haben die Frauen einen erschwerten Betreuungszugang. Zu wenig verfügbare Hebammen im näheren Umfeld führen zu einer Unterversorgung von Frauen und Kindern (Hebammenverband Baden-Württemberg, 2019). Infolgedessen können Frauen physische oder psychische Probleme selbstständig oft nicht erkennen oder haben Hemmungen, Ansprechpersonen im Versorgungssystem zu kontaktieren. Zusätzlich fehlen sowohl Personal in allen Bereichen der Gesundheitsberufen als auch evidenzbasiertes Wissen über die negativen Langzeitfolgen einer Mangelversorgung im Wochenbett für das Wohlbefinden und die Stabilität von Familien. Deshalb sollte die Gesundheitskompetenz für diesen Versorgungsbereich von allen Beteiligten gestärkt werden (Rouhi et al., 2019).

Das Steuerungsgremium der »Kommunalen Gesundheitskonferenz im LK Sigmaringen« hat Angestellte des Fachbereichs Gesundheit im Landkreis (LK) Sigmaringen beauftragt, einen interdisziplinären Arbeitskreis (AK) »Gesundheit rund um die Geburt« zusammenzustellen. Unter diesem Auftrag wurde das evidenzbasierte Konzept »Guter und gesunder Start ins Leben« erarbeitet, um eine Unterstützung der Hebammen und eine flächendeckende Versorgung der Familien nach dem Nationalen Gesundheitsziel zu sichern.

Der LK Sigmaringen hat 130.873 Einwohner:innen auf einer Fläche von 1.204 km² und ca. 1.200 Geburten pro Jahr. Den (werdenden) Familien stehen 19 freiberufliche Hebammen, 15 Gynäkologen:innen (11 Praxen ) und 11 Kinder- und Jugendärzte:innen (9 Praxen) zur Verfügung (Hart, 2019).

Neue Hebammenzentren

Eine Bedarfsanalyse führte dazu, dass an zwei Standorten Familiengesundheitszentren (FGZ) mit niederschwelliger Erreichbarkeit und kliniknah nach einem Drei-Säulenmodell aufgebaut wurden (siehe Abbildung 1). Die Säulen dieser Zentren bilden ärztliche Dienste, Hebammenversorgung und die sozialen Dienste. Alle Fachpersonen der entsprechenden Säulen sind miteinander vernetzt, sie sind örtlich getrennt und an ihren eigenen Standorten tätig. Die gemeinsame Aufgabe besteht in der frühzeitigen Erkennung der Betreuungsbedarfe und Organisation der bestmöglichen Unterstützung oder Förderung der Familien in den fünf Teilzielen des Nationalen Gesundheitsziels: Kinderwunsch, Schwangerschaft, Geburt, 1. Lebensjahr und Leben mit Kind.

Die zentralen Anteile des FGZ sind die Hebammenambulanz, Hebammensprechstunden und die Fachstelle Frühe Hilfen »Familie am Start«. Die entsprechenden Professionen arbeiten in unmittelbarer Nähe am gleichen Standort. Die Hebammenzentren, bestehend aus Hebammenambulanz und Hebammensprechstunden, werden von Hebammenkoordinatorinnen geleitet. Für diese Aufgabe wurden vom Landkreis drei 25 %-Stellen eingerichtet. Von zentraler Bedeutung ist eine enge Kooperation mit der geburtshilflichen Abteilung und den regional freiberuflich tätigen Hebammen. An jedem Werktag wird die Anzahl der Wöchnerinnen ohne gesicherte Hebammenversorgung evaluiert und eine aufsuchende Betreuung organisiert. Zusätzlich ist die direkte Kontaktaufnahme für Familien und Kooperationspartner vormittags über eine Telefonhotline und zu Bürozeiten über E-Mail gesichert.

Die Familien erhalten nach Zuordnung einer verfügbaren Hebamme eine aufsuchende Wochenbettbetreuung über maximal vier Wochen. Anschließend wird die Versorgung in die Hebammensprechstunden übergeleitet. Werktags finden diese offenen Sprechstunden bilateral an den FGZ statt. Eine gute Erreichbarkeit mit kurzen Anfahrtswegen aus verschiedenen Bereichen des LK ist somit gesichert. Neben dem Wochenbett sind die Hebammen Ansprechpartnerinnen für alle Fragen und Belange, vom Kinderwunsch bis zum Ende des ersten Lebensjahres, und tragen so zu einer ganzheitlichen Betreuung bei. Um die Gesundheitskompetenz bereits in der Schwangerschaft zu stärken, wurde der Flyer »Schwanger und gut informiert« erstellt. Die Benutzer:innen finden über QR-Codes und Links evidenzbasierte Antworten zu den häufigsten Fragen rund um die Schwangerschaft (siehe Links: Landkreis Sigmaringen).

Durch die niederschwellige Kontaktaufnahme via Hebammensprechstunde können (werdende) Mütter und Familien mit erhöhtem Unterstützungsbedarf bereits in der Schwangerschaft, spätestens nach der Geburt, gemeinsam mit der Fachstelle Frühe Hilfen »Familie am Start« betreut werden. Bei Bedarf wird an weitere Beratungsstellen vermittelt (siehe Abbildung 2) . Der Vorteil dieser Vorgehensweise ist eine Entlastung der medizinischen Berufe von zeitintensiven psychosozialen Aufgaben. Jeder Fachbereich kann sich auf die eigenen originären Tätigkeiten fokussieren (Hart, 2022). Die Hebammen arbeiten autonom und rechnen ihre erbrachten Leistungen nach der Hebammenvergütungsvereinbarung ab (§134a SGBV Hebammenhilfe).

Grafik: © Landkreis Sigmaringen. Erschienen in: Hart, 2022.

Positive Effekte

Im Jahr 2019, in der Implementierungsphase des Konzepts, bewarb sich der LK Sigmaringen für Fördermittel des Landes Baden-Württemberg zur Einrichtung von Gesundheitszentren mit geburtshilflichem Schwerpunkt. Diese wurden bewilligt. Bereits nach einem Jahr erfolgte ein zweiter Förderaufruf des Landes. Der LK bewarb sich erneut erfolgreich und konnte inzwischen ein FGZ an einem dritten Standort aufbauen. Nach Ablauf der Förderphase wird der LK die weitere Finanzierung übernehmen.

Die Evaluation der Gesamtbetreuung in Struktur-, Prozess-, und Ergebnisqualität erfolgt nach dem Total Quality Management (TQM) und dem Europäischen Praxismanagement (EPA). Da die Qualitätsansprüche der Hebammenarbeit den Vorgaben nach DIN EN ISO unterliegen und keine Qualitätsindikatoren (QI) für den postpartalen Bereich vorhanden waren, wurden nach der RAND/UCLA Appropriateness Method aus dem EPA entsprechende QI zur Evaluation aus frauenorientierter Sicht entwickelt. Mit der Delphi-Methode konnten die QI nach »Relevanz«, »Praktikabilität« und »Klarheit/Verständlichkeit« validiert werden (Hepner, 2020). Auf Grundlage der erstellten QI wurde ein Fragebogen entwickelt. Nach Abschluss der Betreuung bekommen die betreuten Frauen und Familien eine Einladung zur Teilnahme an einer Online-Befragung.

Das Konzept wird von allen Beteiligten sehr gut angenommen. Abbildung 3 zeigt eine Übersicht über die Betreuungsarten im Jahr 2021. Im Verlauf des Jahres reduzierten sich die Anfragen, da bereits viele Schwangere im Vorfeld über die offenen Hebammensprechstunden vermittelt werden konnten. Die freiberuflichen Hebammen wurden entlastet, die ambulante Betreuung über die Sprechstunden ausgeweitet. Die Ergebnisse der ersten Evaluation (n=9 betreute Personen, 26 bis 39 Jahre) zeigen: Die Öffnungszeiten der FGZ werden durchweg mit »gut« bewertet. Teilnehmende gaben an, die Hebammen informierten »sehr gut« über gesetzliche Leistungsansprüche, Datenschutzbestimmungen, Behandlungsvertrag, Schweigepflicht, Erreichbarkeit und Vertretungsregelung im Akutfall. Die Kommunikation und Miteinbeziehung in Entscheidungen und Aufklärungen wurde mit »sehr gut« bewertet (Ordinalskala: sehr gut bis ungenügend).

Das Angebot wird als bedürfnisorientiert, verständlich und hilfreich beurteilt. Die Auswertungen zeigen, dass mütterliche Beratungsthemen am häufigsten die Milchbildung und das Stillen, Übernahme der Elternrolle, Eingliederung des Kindes in das Familienleben, Organisation des Alltags und Sorgen/Ängste bei der Kinderbetreuung betreffen. Die Bedürfnisse bei kindlichen Beratungsthemen sind die Neugeborenenpflege, Ernährung, Schreien, Schlafen, Wachstums- und Verhaltensentwicklung.

Die erhaltene Hebammenbetreuung wurde mit »sehr gut« bewertet. Die Teilnehmenden fühlten sich in ihren Bedürfnissen und Wünschen respektiert, ihr Selbstvertrauen wurde gestärkt und sie berichteten, dass die Hebammen ausreichend Zeit hatten. Die Anzahl an wechselnden Ansprechpersonen/ Hebammen wird einheitlich mit n=2 angegeben.

Die Beteiligung an der ersten Evaluation war mit n=9 Teilnehmenden gering. Die Mitarbeitenden suchen nach Lösungen, um eine repräsentative Stichprobengröße zu erreichen. Eine Befragung der freiberuflichen Hebammen ist geplant (Hart, 2022).

Betreuungskontinuität und Entlastung

Durch das Konzept »Guter und gesunder Start ins Leben« erreicht der LK Sigmaringen eine bedarfsgerechte Betreuung von Familien, die Hebammenhilfe ist für alle gesichert. Die Effektivität und Effizienz in der Hebammenversorgung und psychosozialen Betreuung konnte gesteigert werden. Durch enge Zusammenarbeit und regelmäßige Austauschtreffen der Professionen erweitert sich das Verständnis der Familiengesundheit durch bedarfsgerechte Weiterbetreuung nach dem Wochenbett. Das Ziel, Hebammen zu entlasten und eine Betreuungskontinuität mit geringem Wechsel der Ansprechpersonen, wurde erreicht. Die attraktiven Arbeitsbedingungen im FGZ erregen großes Interesse. Durch die bereits vorhandene Telemedizinstruktur via Telefonsprechstunde konnte auch in der Pandemie nahtlos auf vorhandene Strukturen zurückgegriffen und diese konnten ausgebaut werden.

Zur Optimierung des Konzepts sind noch einige Herausforderungen zu beachten. Die Umstellung von einer umfänglich aufsuchenden Wochenbettbetreuung auf Sprechstunden nach Ablauf von vier Wochen ist sowohl für Hebammen als auch für die Familien neu und benötigt weiterhin Motivation. Die Rahmenbedingungen für innovative Konzepte sollten in den Gebührenziffern für die Abrechnung entsprechend angepasst werden. Eine weitere Herausforderung ist die Einbindung der niedergelassenen Gynäkologen: innen. Die Zeitressourcen sind aktuell gering und die Netzwerkarbeit wird nicht ausreichend honoriert (Hart, 2022).

Der Ausbau des Konzepts bleibt ein stetiger Prozess. Die Verantwortlichen und Mitarbeitenden sind weiterhin motiviert. Das Projekt »Guter und gesunder Start« wird unterstützt durch das Ministerium für Soziales, Gesundheit und Integration aus Mitteln des Landes Baden-Württemberg.

Zitiervorlage
Hepner, Y. (2023). Hebammenversorgung im Landkreis Sigmaringen: »Guter und gesunder Start ins Leben«. Deutsche Hebammen Zeitschrift, 75 (4), 12–15.
Links
Landkreis Sigmaringen: Schwanger und gut informiert: Gesund durch die Schwangerschaft und die Zeit danach, https://www.landkreis-sigmaringen.de/ceasy/resource/?id=7055&download=1
Literatur
Bundesministerium für Gesundheit (Hrsg.). (2017). Nationales Gesundheitsziel. Gesundheit rund um die Geburt, Berlin: 7–48.

Bundesministerium der Justiz und Verbraucherschutz/Bundesamt für Justiz. (2019). Gesetz über das Studium und den Beruf von Hebammen (Hebammengesetz- HebG), http://www.gesetze-im-internet.de/hebg_2020/HebG.pdf.

DESTATIS. (2022). Veränderung der Lebengeborenen zum jeweiligen Vorjahr. https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/Geburten/Tabellen/lebendgeborene-differenz.html.

Hart, U. (2019). Praxisbeispiel Landkreis Sigmaringen »Guter und gesunder Start ins Leben«, Sigmaringen: 3-4.

Hart, U. (2022). Guter und gesunder Start ins Leben. Abschlussbericht. Aufbau der Familiengesundheitszentren Sigmaringen und Bad Saulgau unterstützt durch das Ministerium für Soziales und Integration aus Mitteln des Landes Baden-Württemberg.

Hebammenverband Baden-Württemberg. (2019). Studie zum Hebammenmangel, https://www.hebammen-bw.de/studie-zum-hebammenmangel/.

Hepner, Y. (2020). Entwicklung von Qualitätsindikatoren zur Evaluation des Konzepts »Guter und gesunder Start ins Leben«. Bachelorarbeit.

Kohler, S.; Bärnighausen, T./Heidelberger Institut für Global Health. (2018). Entwicklung und aktuelle Versorgungssituation in der Geburtshilfe in Baden-Württemberg. Bericht für den Runden Tisch Geburtshilfe in Baden-Württemberg. Heidelberg: 14-62.

Rouhi, M.; Stirling, C.; Ayton, J.; Crisp, E.P. (2019). Women’s help-seeking behaviours within the first twelve months after childbirth: A systematic qualitative meta-aggregation review. Midwifery, 72 (2019): 39-49. https://doi.org/10.1016/j.midw.2019.02.005.

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