Etwa 200 Hebammen aus der Schweiz, Österreich und Deutschland kommen nach Winterthur zum Symposium. Foto: © Milad Ahmadvand

Zum fünften Mal gab es Mitte Januar das Winterthurer Hebammensymposium nahe Zürich. Die Einflüsse in der Schwangerschaft auf Mutter und Kind sowie die langfristigen Wirkungen daraus standen im Mittelpunkt der interessanten Tagung.

Andrea Stiefel, Moderatorin der Tagung Foto: © Milad Ahmadvand

Epigenetik – Mama ist an allem schuld?« – nicht das Motto des 5. Winterthurer Hebammensymposiums an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) war es gewesen, das mich gelockt hatte, in die Schweiz zu reisen: Es erschloss sich mir weder fachlich noch mit Humor. Ungeachtet dessen hatten sich an die 200 Hebammen am 19. Januar zur Fortbildungsveranstaltung im 25 Kilometer entfernten Nachbarort von Zürich eingefunden. Dort erwartete sie, anders als es der Titel vermuten ließ, ein interessantes eher bunt gemischtes Programm, das sich nur in einem, dafür fachlich umso hochkarätigerem Vortrag intensiv mit Epigenetik auseinandersetzte. Zum Glück wurde dabei nach der Schuld von Müttern nicht gefragt.

Die meisten Kolleginnen waren aus der Schweiz gekommen, einige aus dem angrenzenden Österreich und Deutschland. Bis auf Prof. Dr. Andreas Gerber-Grote, der als Direktor des Departements Gesundheit kurz zur Begrüßung auftauchte, und einen jungen Fotografen, waren die Frauen den ganzen Tag unter sich. Andrea Stiefel, MSc Midwifery, die auf 40 Berufsjahre zurückblickt und nach ihrer jahrelangen Tätigkeit an der ZHAW seit kurzen ein neues Tätigkeitsfeld in der Hebammenausbildung in Berlin gefunden hat, war gerne wieder nach Winterthur angereist, wo sie die Veranstaltung souverän moderierte. Ihre persönliche, herzliche Vorstellung aller Referentinnen sorgte für eine gute, gastliche Stimmung.

Prof. Dr. Ulrike Ehlert vom Psychologischen Institut der Universität Zürich

Epigenetik – nur einer von vielen Faktoren

»Die Rolle der Epigenetik für die Schwangerschaft« erläutere die Leiterin für Klinische Psychologie und Psychotherapie Prof. Dr. Ulrike Ehlert vom Psychologischen Institut der Universität Zürich. Psychoendokrinologie und Stress seien die Forschungsschwerpunkte ihres Lehrstuhls. »Ich arbeite nun seit gut 20 Jahren zu diesem Thema – Sie müssen nicht denken, dass ich alles zum Thema ›Stress‹ im Griff habe!«, begann sie sympathisch salopp. Die Epigenetik zeige das Zusammenspiel von Mensch und Umwelt, sei aber nur ein Teilaspekt. In einem der Forschungsprojekte ihres Instituts zum Thema »Gesundes Altern« habe man beispielsweise 124 Risiko-Gen-Schalter ausgemacht. Man müsse aber bedenken, dass ein Chromosomensatz aus 20.000 bis 30.000 Genen bestehe, die unter gewissen Umständen an- und abgeschaltet werden könnten. Auch die Lesbarkeit und die Häufigkeit, mit der ein Gen abgelesen werde, variiere. Die Forschungsmethode, bestimmte Merkmale zuzuordnen, gleiche der berühmten Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen.

Darüber hinaus gebe es 20 verschiedene Mechanismen, die ein Gen »abschalten«, so dass es schlechter ausgelesen werden kann. Es gebe aber auch Reparaturmechanismen neben der Vermischung der genetischen Merkmale von Vater und Mutter. Ehlert erklärte zunächst konzentriert die Grundlagen der Epigenetik und spornte ihre Zuhörerinnen an, ihr bei der anspruchsvollen Materie zu folgen, denn das sei unerlässlich für das Verständnis der Zusammenhänge. Die Epigenetik beziehe sich auf Mechanismen und Konsequenzen vererbbarer Chromosomenveränderungen, die nicht auf einem Abweichen von der regulären DNA-Abfolge beruhten. Diese Mechanismen seien vielfältig und würden aktuell weiter erforscht. Dazu gehörten Veränderungen der Methylierung, die Anlagerung oder das Fehlen von Methylgruppen an Basen der DNA oder Histonmodifkationen, chemische Veränderungen an Histon-Proteinen, die Einfluss auf die DNA-Transkription hätten. Nicht nur beim Ungeborenen oder bei der Schwangeren könne man epigenetische Veränderungen nachweisen, sondern auch in der Plazenta. Lebensstilfaktoren der Eltern wie Rauchen, Alkoholkonsum, Essgewohnheiten oder sportliche Aktivität könnten diese Veränderungen auslösen. Manche Faktoren hätten günstige epigenetische Effekte für die Schwangerschaft. Sie könnten aber eben auch genau gegenteilige Effekte bewirken. Beispielsweise gebe es Hinweise darauf, dass Stress und traumatische Lebenserfahrungen epigenetische Auswirkungen haben könnten. Sehr bekannt sei die Forschung über die Auswirkungen des niederländischen Hungerwinters 1944/45 anhand von Untersuchungen an 60 Menschen, die damals geboren wurden. Auf die spätere Gesundheit von Ungeborenen, deren Mütter im dritten Trimenon betroffen waren, habe der Hunger sich nicht ausgewirkt, außer, dass die Kinder mit einem zu geringen Geburtsgewicht geboren worden waren. Jedoch in den ersten zehn Schwangerschaftswochen habe das Hungern auf die Gene der Ungeborenen gewirkt: Sie seien dann zwar mit normalem Geburtsgewicht geboren worden, hätten aber lebenslang übermäßig insulinähnliche Wachstumsfaktoren produziert, weil damals das dafür verantwortliche Gen abgeschaltet worden sei. Dadurch hätten sie langfristig eine erhöhte Krankheitsanfälligkeit entwickelt.

»Die Gene erklären nicht alles«, relativierte Ehlers und schloss: »Es gibt so viele weitere Einflussfaktoren. Die Epigenetik ist nur ein Marker.«

Prof. Lesley Page, Gastprofessorin für Hebammenwesen aus London Foto: © Milad Ahmadvand

Lebenslange Liebe zum Beruf

Schon zur Begrüßung am Morgen hatte die Leiterin des Instituts für Hebammen, Beatrice Friedli, der Gastprofessorin für Hebammenwesen aus London Prof. Lesley Page zu ihrem 75. Geburtstag nochmal vor der versammelten Hebammenschaft gratuliert. Lesley Page hatte ihn am Vorabend gemeinsam mit ihren Gastgeberinnen gefeiert. »Es ist so schön zu sehen, mit welchem Feuer sie sich noch immer für die Geburtshilfe einsetzt!«, begeisterte sich Friedli. Zweifellos war Lesley Pages Vortrag über »Die Auswirkungen der Humanisierung und der physiologischen Geburt auf die Gesundheit – Konsequenzen für die Praxis« der Höhepunkt des Tages. Durch ihre sprühende Liebe zum Beruf, die sie wunderbar mit Worten auszudrücken vermochte, rührte die warmherzige, ältere Dame bei den meisten Anwesenden an die eigenen Ideale und trieb ihnen Tränen in die Augen. »I love being a midwife«, begann die international renommierte Hebamme und Wissenschaftlerin, die die erste Professorin für Hebammenwesen in Großbritannien gewesen war. Von 2012 bis 2017 war sie Präsidentin des Royal College of Midwives gewesen und 2014 war sie mit der Ernennung als Commander of the British Empire (CBE) geehrt worden. Wer die Serie »Call the Midwife« kenne, fragte sie in die Runde und zeigte ein Bild von sich als blutjunge Hebamme im kommunalen Gesundheitsdienst: »Genauso habe auch ich in den 1960er Jahren in Schottland gearbeitet.«

Die grundlegende Bedeutung der Humanisierung bestehe darin, eine nachhaltigere Welt und Gesellschaft zu entwickeln. Für die Geburt heiße dies, den eingeengten Blick auf die Geburt als ein von Medizin geprägtes Ereignis zu öffnen hin zu einer breiteren Sichtweise. Humanisierte Geburt erkenne die Bedeutung der Geburt für die Einzelnen an, für Familien und für die Gesellschaft. Sie beinhalte eine Betreuung, die die Gesundheit und das Wohlbefinden des Babys, der werdenden Mutter, des Vaters oder anderer Elternteile und den Schutz der gesamten Familie verbessere. Dies betreffe sowohl die kurz- als auch die langfristige Gesundheit. Für eine Strategie und Praxis der humanisierten Mutterschaftspflege müsse man mehrere wissenschaftliche Disziplinen einbeziehen, darunter die Physiologie der Geburt, die Bindungsforschung, die Epigenetik und Epidemiologie sowie das Verständnis der Einflussfaktoren von Gesundheit und Wohlbefinden. Um den erforderlichen Paradigmenwechsel besser zu verstehen und die Humanisierung des Gesundheitswesens voranzubringen sollten wir unsere Art zu Denken etwas ändern: weg von »Schwarz-Weiß-Denken« hin zu einem »Sowohl-als-auch-Denken«. Lesley Page plädierte außerdem für eine menschliche Beziehung in der persönlichen Betreuung: In Großbritannien sei die Schwangerenbetreuung sehr häufig fragmentiert. Die Schwangere sollte »ihre« Hebamme vertrauensvoll kennenlernen können durch ein Konzept der »continuity of care« in einem möglichst kleinen Team.

Spannende, praxisnahe Kurzvorträge

In einem Veranstaltungsblock nach dem Mittagessen gab es zahlreiche praxisnahe Kurzvorträge in vier parallelen Blöcken, bei denen die Auswahl schwerfiel: »Zeit für Neues – der Lehrplan Hebamme BSc wird überarbeitet«, schilderten Gabriele Hasenberg, MSc, und Mona Schwager, MSc, von der ZHAW. »Das Hebammennetzwerk Familystart Zürich bringt Vorteile für Mütter, Spitäler und Hebammen«, warb Dr. Susanne Grylka, Hebamme und Epidemiologin von der ZHAW. Zur »Förderung der physiologischen Latenzphase« regten Eliane Wolf und Prisca Walter an, beide Bachelor-Studentinnen aus Hamburg.

Mit der Studie »BRIDGE« stellten Gabriele Hasenberg, und Paola Origlia Ikhilor, MSc aus Bern, die barrierefreie Kommunikation in der geburtshilflichen Versorgung von Migrantinnen vor, die sich nicht in der Landessprache verständigen können. »Individuelle Tragdauer – die Reife ist nicht errechenbar« erläuterte die Münchner Hebamme Dorothea Zeeb, MSc, ihre Masterarbeit an der Hochschule Salzburg. Auch eine Posterpräsentation erwartete die Teilnehmerinnen.

Michèle Oberholzer, Hebammenstudentin der ZHAW

Gedanken einer Studentin

Zum Abschluss der Tagung hatte traditionell auch in diesem Jahr wieder eine Hebammenstudentin der ZHAW das Schlusswort: »Gedanken einer Studentin« nannte Michèle Oberholzer die sehr persönliche und für sie schmerzhafte Schilderung ihres Werdegangs bis zur Hebamme BSc. Sie habe sich oft gefragt, welche Auswirkung die schwierige Zeit auf sie gehabt habe, als ihre Mutter mit ihr schwanger gewesen sei – manches von dem, was heute in den Vorträgen zu Sprache gekommen sei, vielleicht auch epigenetische Einflüsse, könne bei der Erklärung helfen. Sie habe keine leichte Kindheit und Jugend erlebt, habe mit einer Lernbehinderung zu kämpfen gehabt, bis sie nun am Ende ihres Studiums zur Hebamme angekommen sei. Gelernt habe sie dennoch, vielleicht gerade durch die vergangenen Schwierigkeiten: Empathie. Und dies sei ihr nun in ihrem Beruf als Hebamme die wertvollste Gabe. Die warmherzige Anteilnahme aller im Raum war ihr sicher, Andrea Stiefel bedankte sich bei ihr direkt: »Es ist ein Privileg, wenn jemand seine persönlichen Erfahrungen mit einem teilt.«

Das 6. Winterthurer Hebammensymposium wird in zwei Jahren an einem anderen Ort stattfinden: Im »Haus Adeline Favre«, einem neuen Hochschulgebäude, benannt nach der bekannten Schweizer Hebamme (1908–1983) aus dem Val d’Anniviers, die durch ihre Lebenserinnerungen unvergesslich geworden ist.


Hinweis: Hauptvorträge online

Ein Abstract und drei Referate zu den vier Hauptvorträgen von Prof. Dr. Annick Bogaerts, Prof. Dr. Ulrike Ehlert, Martina König-Bachmann und Prof. Lesley Page können auf der Internetseite der ZHAW zur Veranstaltung www.zhaw.ch heruntergeladen werden.


Zitiervorlage
Baumgarten K: 5. Hebammensymposium in Winterthur: „Eine humane Geburt wirkt lebenslang“. DEUTSCHE HEBAMMEN ZEITSCHRIFT 2019. 71 (3): 92–94
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