Die Berliner Krankenhausbewegung, ein gewerkschaftsnaher Zusammenschluss von Menschen aus dem Gesundheitswesen, unterstützt auch die Anliegen der Hebammen beim Streik. Foto: © Berliner Krankenhausbewegung
Bettina Salis: Frau Wowretzko, als BHV haben Sie zusammen mit dem DHV im vergangenen Jahr die Berliner Kreißsaal-Kolleginnen unterstützt, die – gemeinsam mit anderen Gesundheitsberufen – die landeseigenen Kliniken Charité und Vivantes bestreikt haben. Wie kam es zum Streik?
Ann-Jule Wowretzko: Die Situation in den Kreißsälen und anderswo in den Kliniken war – und ist – so prekär, dass die dort arbeitenden Menschen gesagt haben: So geht es nicht weiter, es muss sich grundlegend etwas ändern und wir müssen uns Gehör verschaffen. Die Alternative wäre, dieser Arbeit den Rücken zu kehren.
Dem Streik ging ein 100-Tage-Ultimatum voraus. Wie lauteten dort die Forderungen?
Der Forderungskatalog wurde auf dem Platz vor dem Roten Rathaus überreicht, anwesend waren damals die Gesundheitssenatorin und die gesundheitspolitischen Sprecher:innen der verschiedenen Fraktionen. Kernstück der Forderung war ein »Tarifvertrag Entlastung« in der Pflege und bei den Hebammen, in dem einerseits die Personalmindestbesetzung pro Schicht festgelegt und auf der anderen Seite beschrieben wird, was passiert, wenn diese Mindestbesetzung nicht eingehalten wird.
Das Ultimatum verstrich, ohne dass etwas geschah. Daraufhin begannen die Beschäftigten – unter ihnen auch die Hebammen – im August 2021 mit ersten Warnstreiks.
Vivantes hat dann versucht, per einstweiliger Verfügung, das Streikrecht zu unterbinden und in erster Instanz wurde dem Klinikbetreiber Recht gegeben. Die zweite Instanz kippte das Urteil – und es kam zunächst zu Warnstreiks.
Die Kliniken argumentierten ja, die Personalbemessungsgrundlage sei gar nicht Sache der Kliniken, sondern der Politik.
Solche Dinge lassen sich auch in einem Tarifvertrag regeln – und dafür sind die Kolleg:innen auf die Straße gegangen.
Gab es denn konkrete Vorschläge, was passiert, wenn die Mindestbesetzung nicht eingehalten werden kann?
Ja. Wer in einer unterbesetzten Schicht arbeitet, kann Punkte sammeln – und bekommt dafür entweder Freizeitausgleich oder Geld.
Streik und Arbeitskampf sind ja Sache der Gewerkschaft – und nicht der Berufsverbände. Wie kommt der Berliner Hebammenverband (BHV) hier ins Spiel?
Hebammen sind eine sehr kleine Berufsgruppe – auch innerhalb der Gewerkschaft. Wir als Verband haben uns sehr schnell mit den Kolleg:innen vernetzt, Unterstützung angeboten und alles, was wir an Ressourcen hatten, zur Verfügung gestellt: in Form von Wissen, Plakaten oder was auch immer.
Welches Wissen war das zum Beispiel?
Zum Beispiel, welche Leitlinien hier relevant sind und welche Modelle von Personalberechnung es für den speziellen Bereich der Geburtshilfe gibt. Ich nenne das Wissenstransfer.
Am Ende haben die Hebammen 31 Tage gestreikt. Es heißt, das sei der längste Arbeitskampf im Gesundheitswesen in Deutschland gewesen.
Bis dato war dies der längste Streik im Gesundheitswesen. Allerdings dauerte der kurz darauffolgende Streik an den Uni-Kliniken in NRW noch länger. Er verlief nach demselben Prinzip (Organizing, Entlastungstarif-Verträge etc.). In Berlin dauerte der Arbeitskampf bei den Vivantes-Häusern länger als bei der Charité, die sich eher verhandlungsbereit zeigte.
Wie war der Streik organisiert? Man kann ja nicht einfach den Kreißsaal dichtmachen.
In einem Akutbetreib wie dem Kreißsaal ist es schwierig, die Arbeit komplett niederzulegen und zu streiken. Es gab also eine Notdienstvereinbarung – die entsprach der am schlechtesten besetzten Schicht aus den vergangenen drei Monaten. Alles, was planbar war, wie Sectiones oder Einleitungen, sollte abgesagt beziehungsweise verlegt werden. Die Frauen mussten in andere Kliniken gehen, die nicht vom Streik betroffen waren.
Den Streik selbst hat ja ver.di organisiert. Haben die Kolleg:innen mit der Trillerpfeife auf einem Platz gestanden und Plakate hochgehalten?
Nicht nur. Wir haben hier in der Stadt die Berliner Krankenhausbewegung. Das ist ein gewerkschaftsnaher Zusammenschluss von Menschen aus dem Gesundheitswesen, die etwas bewegen und verändern wollen – die Aktionen planen. Die haben bei diesem Streik die Organisation in den unterschiedlichen Einheiten übernommen. Dabei bedienen sie sich einer Methode, die Organizing heißt und von us-amerikanischen Aktivist:innen stammt. Ein wesentlicher Bestandteil ist, in allen Abteilungen auf alle Menschen zuzugehen und sie mit ins Boot zu holen – um schlagkräftiger zu werden.
Was bedurfte es sonst noch an Organisation?
Natürlich gab es auch Streikposten. Wir vom BHV haben die Kolleginnen dort besucht und auch mal was Süßes vorbeigebracht.
Außerdem gab es eine Gruppe von Hebammen, die an den Verhandlungen teilgenommen hat – die Kolleg:innen saßen direkt mit in den Verhandlungen; es gab aber auch sogenannte Rückfallgruppen aus Hebammen, die die Verhandlerinnen beraten haben. Dieses Engagement war enorm wichtig und hat letztlich auch zu den guten Ergebnissen für den Bereich der Geburtshilfe geführt – denn Kreißsäle funktionieren anders und Hebammen arbeiten anders als Pflegekräfte auf Stationen. Ohne ein tiefes Verständnis für diese besonderen Bedingungen wären die Hebammen sicher, wie so oft in den Kliniken, wieder hinten runtergefallen.
In Pflege- oder auch Sorgeberufen kommt ein Streik ja einem Tabubruch gleich; zu groß scheint der Konflikt mit den eigenen Werten. Keiner will die ihr oder ihm Anvertrauten im Stich lassen. Sind Kolleg:innen mit solchen Sorgen auch auf den Verband zugekommen?
Für die Kolleginnen – und auch für uns als Verband – war klar, dass die Versorgung der Frauen ohnehin nicht gut war. Der Streik hat also nicht zur Verschlechterung beigetragen, sondern die beklagenswerten Zustände öffentlich gemacht. Probleme gab es häufig innerhalb der Teams: Einige waren für den Streik, andere nicht – viele konnten sich eine konkrete Verbesserung auch nicht vorstellen. Zudem erlebten etliche Kolleg:innen großen Druck, so viele Tage nicht im Beruf arbeiten zu können. Das war für viele sehr anstrengend. Es heißt ja nicht umsonst Arbeitskampf. Es ist wirklich ein Kampf. Das ist den Hebammen sehr bewusst gewesen.
Irgendwann hat sich die Mühe ausgezahlt und erst zeigte sich die Charité verhandlungsbereit, später auch Vivantes. Was meinen Sie, ging es den Konzernen beim Einlenken eher darum, den wirtschaftlichen Schaden abzuwenden oder den Imageverlust möglichst gering zu halten?
Die Kliniken werden am Ende keinen wirtschaftlichen Schaden haben. Die politischen Entscheidungsträger in Berlin hatten sich recht früh nach Beginn des Streiks bereiterklärt, die Mehrkosten zu übernehmen, die sich aus so einem neuen Tarifvertrag ergäben. Ich glaube, die oberen Etagen der Konzerne glauben nach wie vor, sie könnten die Bedingungen vorgeben und Pflegepersonal und Hebammen sollten und würden sich anpassen. Dass beides rares Gut ist, das man hegen und pflegen sollte, und dass Personalentwicklung durchaus etwas ist, das man proaktiv betreiben kann, der Gedanke scheint in vielen Köpfen noch nicht angekommen.
Wie war das mit dem wirtschaftlichen Schaden durch den Streik? Die Notbesetzung, die abgesagten Sectiones?
Ich glaube eher noch, es war ein Imageproblem. Irgendwann entstand in der Öffentlichkeit das Bild von Versorgungslücken; die Hebammen waren medial sehr präsent während des Streiks. Unabhängig davon war der Kreißsaal in Neukölln damals wegen Personalmangels teilweise geschlossen. Das ist ja eine sehr große Klinik und die Einschränkung hat für großen Wirbel gesorgt. Die Presse hat das aber nicht getrennt, so dass viele in der Stadt sich sorgten, wo sie überhaupt noch gebären könnten.
Es gab zwei Verhandlungsgruppen, einmal für die Charité und einmal für Vivantes. Sind die Ergebnisse beider Verhandlungsgruppen gleich?
Es gibt zwei verschieden Tarifverträge, aber beide sind gut. Sie unterscheiden sich in der Herangehensweise. Die Berechnungsgrundlage, wie viele Hebammen pro Dienst vor Ort sein müssen, ist anders, weil die Systematik jeweils eine andere ist.
Hat es die Kolleginnen beflügelt, dass sie spürten, etwas bewegen zu können, dass sich der Kraftakt, der Kampf lohnt? Das Entgegenkommen der Charité hat ihnen vielleicht Mut gemacht, für Vivantes weiter zu streiken?
Auf jeden Fall. Vor allem vor dem Hintergrund, dass sie mit dem Rücken an der Wand standen. Viele Kolleg:innen die mitgemacht haben, sagten: Wenn es jetzt keine entscheidenden Verbesserungen gibt, dann gehe ich.
Das Charité-Ergebnis war ein Lichtblick. Die Kolleg:innen wussten, es könnte etwas kommen, was gut ist. Das war wichtig, die Konflikte im Team und harten Verhandlungen auszuhalten, hat über Durststrecken getragen und geholfen durchzuhalten.
Was sagen Sie als Berufspolitikerin: Sind beide Tarifabschlüsse – zumindest auf dem Papier – so, dass Hebammen damit gut arbeiten können?
Ja.
Nun sollte der ausgehandelte Tarifvertrag an der Charité am 1. Januar 2022 und bei Vivantes am 1. April 2022 in Kraft treten. Hat das funktioniert?
Ja und nein. Die Implementierung des Tarifvertrags verläuft – freundlich formuliert – ausgesprochen zäh.
Es gibt nach wie vor nicht ausreichend Personal. Und es fehlen Bemühungen vonseiten der Kliniken, Konzepte zu entwickeln und zu implementieren, um Personal zu rekrutieren und zu halten. Der Tarifabschluss gibt eigentlich die Grundlage für gute Arbeitsbedingungen im Kreißsaal, aber er muss auch mit Leben gefüllt werden und hierzu brauchen wir ernsthafte Bemühungen vonseiten der Klinikkonzerne.
Zum Beispiel mehr Hebammen ausbilden?
Das ist es ja: 2018 gab es in Berlin das »Aktionsprogramm sichere Geburt«, in dem Zusammenhang wurden die Ausbildungszahlen in Berlin um mehr als 60 % hochgeschraubt. Dieses Mehr an Hebammen müsste sich doch mittlerweile in den Kreißsälen abbilden. Dem ist aber nicht so.
Wenn die politischen Entscheidungsträger zugesagt haben, die Mehrkosten zu übernehmen, warum fehlt denn dann immer noch so viel Personal?
Ich weiß es nicht. Und ich verstehe es nicht.
Der Fachkräftemangel im Gesundheitswesen erfordert dringend Konzepte, um Personal zu halten und zufriedenzustellen, also gute Arbeitsbedingungen zu sichern. Ich kann nicht verstehen, wie heute noch so nachlässig mit dem Personal umgegangen wird.
Haben sich schon Kolleginnen gemeldet, denen langsam die Luft ausgeht und die nun doch Tischlerin werden oder irgendetwas studieren wollen?
Wir bekommen gute Rückmeldung aus den Kreißsälen, aus ganz Berlin, und ich habe nicht das Gefühl, dass es flächendeckend besser wird.
Im Moment überlegen sich viele Kolleginnen, ob sie sich nicht doch umorientieren oder in die Freiberuflichkeit gehen.
Würden Sie als Berufspolitikerin dennoch sagen, der Streik hat sich gelohnt?
Auf jeden Fall. Wir dürfen nichts unversucht lassen. Und wir bleiben da jetzt dran. Wir haben in Berlin bald wieder eine Wahl, da versuchen wir das zum Thema zu machen. Am Ende ist es so, dass unsere Gesundheitssenatorin im Aufsichtsrat von Vivantes und Charité sitzt. Außerdem steht im Koalitionsvertrag der Regierung des Bundeslands Berlin, dass sie eine leitliniengerechte Geburtshilfe wollen. Da könnte man ja schon mal in den landeseigenen Betrieben anfangen. Auch mit Konzepten.
Ist der aktuelle Stand frustrierend oder demotivierend?
Nö! Eher provoziert er Kampfbereitschaft. Wir bleiben da dran!
Als Berufspolitikerin können Sie mahnen, aber nicht verhandeln. Sie können den Kolleginnen den Rücken stärken.
Vor allem kann ich versuchen, politisch immer wieder auf die Probleme aufmerksam zu machen. Das sehe ich als meine Aufgabe. Und ich kann die Umsetzung eng begleiten.
Berlin ist eine wachsende Stadt. Wir brauchen eine Geburtshilfe, die für alle funktioniert und qualitativ hochwertig ist. Das ist einfach so.
Würden Sie nach all diesen Erfahrungen, auch mit der zähen Umsetzung dieses Entlastungstarifvertrags, den Kolleg:innen in anderen Orten empfehlen, den Streik als Mittel in Betracht zu ziehen?
Auf jeden Fall. Hebammen müssen sich vernetzen, sich organisieren und das Streikrecht als eines wahrnehmen, das auch ihnen zur Verfügung steht.
Frau Wowretzko, vielen Dank für das Gespräch und alles Gute für die weitere politische Arbeit.
Flyer »Tarifvertrag Entlastung jetzt umsetzen« vom 15.3.2022: https://berliner-krankenhausbewegung.de/wp-content/uploads/2022/03/Fragen_und_Antworten_TV_PPV_16_03.pdf
Organizing: https://de.wikipedia.org/wiki/Organizing