Foto: © peopleimages.com/stock.adobe.com

Anhand einer Implementierungsstudie zur Hebammensprechstunde werden verschiedene Methoden der qualitativen und quantitativen Forschung deutlich. Die Studie untersucht in zwei Kliniken, ob die Sprechstunden den Ansprüchen genügen.

Angeregt durch die hohen Interventionsraten bei Geburten in deutschen Krankenhäusern wurde 2014 der Nationale Expertinnenstandard zur Förderung der physiologischen Geburt veröffentlicht (DNQP & Verbund-Hebammenforschung, 2014). Ein zentrales Element dabei ist die Hebammensprechstunde zum Kennenlernen und zur Geburtsplanung vorab. Die Implementierung dieses evidenzbasierten Standards kann zur Förderung der physiologischen Geburt beitragen. So kann eine angemessene und wissenschaftlich aktuelle Gesundheitsversorgung gesichert werden.

Im Rahmen einer Implementierungsstudie zur Hebammensprechstunde wurden Umsetzungstreue (Adhärenz, Reaktion der Beteiligten), Durchdringung (Institutionalisierung, Routinisierung) und Nachhaltigkeit (Nutzen, Weiterentwicklung) untersucht (siehe Kasten »Definition«).

Eine der Forschungsfragen der Studie lautet: Inwieweit ist die Umsetzungstreue, Durchdringung und Nachhaltigkeit der Hebammensprechstunde (HS) in zwei Kliniken erkennbar?

Mixed-Methods-Design

Für die Fragestellung wurde ein Zwei-Phasen-Explanatory-Sequential-Mixed-Method-Design gewählt (Creswell & Plano Clarke, 2011). Hierbei führt man zunächst eine quantitative Untersuchung durch – hier zuerst eine Analyse der Dokumente der Hebammensprechstunde, um dann in einer qualitativen Untersuchung diese Ergebnisse erklären und weiter untersuchen zu können. Dieser Aufbau ist geeignet, um komplexe Konzepte zu untersuchen. Der Vorteil ist, dass die quantitativen Erkenntnisse aus der Dokumentenanalyse in die Vorbereitung der qualitativen Interviews einfließen können. Man bringt also schon eine Idee mit, was in der Hebammensprechstunde thematisiert wird, und versteht, wie diese abläuft, bevor man mit den Beteiligten spricht.

Im Rahmen des Explanatory-Sequential-Mixed-Method-Designs wird ein Vergleich zwischen zwei Kliniken mit Hebammensprechstunde nach Expertinnenstandard angestellt: Klinik A: ärztlich-geleitet, 2.400 Geburten/Jahr. Klinik B: ärztlicher und hebammengeleiteter Kreißsaal, 1.700 Geburten/Jahr. Der Vergleich erlaubt es, Unterschiede in der Implementierung in beiden Kliniken festzustellen. Insgesamt konnten mit drei Expertinnen 31 Merkmale der Hebammensprechstunde identifiziert werden, die zeigen, ob sie so eingeführt wurde, wie es von den Autorinnen des Expertinnenstandards beabsichtigt war. Dabei lassen sich 14 Merkmale als unumstößliche Kernmerkmale festhalten: Formulierung mit »soll erfolgen« beziehungsweise »muss erfolgen« im Expertinnenstandard. 17 gelten als adaptierbare Merkmale (Beispiel: siehe Abbildung 2).

Da es sowohl Merkmale zur Dokumentation als auch zur Durchführung der Hebammensprechstunde gab, waren eine Dokumentenanalyse und eine Befragung notwendig. Beides ist durch das Explanatory-Sequential-Mixed-Method-Design abgedeckt.

Forschungsmethoden

In den beiden Kliniken hatten die Hebammen Formulare für die Durchführung der Hebammensprechstunde und die Weitergabe der Infos an den Kreißsaal entwickelt. Darin hielten sie wesentliche Inhalte der Hebammensprechstunde fest. Diese Dokumentationen (Geburtsplan und Anamnese) wurden genutzt, um mit einer Dokumentenanalyse die Adhärenz zu untersuchen. Zusätzlich wurden qualitative Interviews durchgeführt, um den Implementierungsprozess, die Umsetzungstreue (Adhärenz und Reaktion der Beteiligten), die Durchdringung (Institutionalisierung und Routinisierung) und die Nachhaltigkeit (Nutzen und Entwicklung) in ihrer Komplexität aus Sicht der Beteiligten erfassen zu können.

Explanatory-Sequential-Mixed-Method-Design
Die Studie zeichnet sich durch ein erklärendes beziehungsweise vertiefendes Design aus, das sowohl quantitative als auch qualitative Methoden beinhaltet. Es gibt zwölf Arbeitsschritte, die in Anlehnung an die Beschreibung von Döring und Bortz angewandt wurden (Döring & Bortz, 2016):

  1. Formulierung der Forschungsfragen
  2.  Untersuchungsplanung
  3.  Populationsdefinition
  4.  Stichprobenziehung
  5.  Archivierung
  6.  Aufbereitung des Untersuchungsmaterials
  7.  Entwicklung des Kategoriensystems und des Codebuchs
  8.  Pretest
  9.  Eingabe
  10.  Prüfung der Originaldaten
  11.  statistische Datenanalyse
  12.  Interpretation der Ergebnisse.

Dokumentenanalyse

Die Formulare, die im Rahmen der Hebammensprechstunde in den beiden Kliniken genutzt wurden, umfassten sowohl geschlossene Fragen (zum Beispiel Schwangerschaftswoche der Frau) als auch offene Aspekte (zum Beispiel die Frage: »Mit welchen Gedanken und Gefühlen gehen Sie in die Geburt?«). Sie wurden über vier Monate hinweg gesammelt und anonymisiert. Die quantitative Untersuchung dieser Dokumente der Hebammensprechstunde folgte dann den zwölf Arbeitsschritten von Döring & Bortz (siehe Kasten: Explanatory-Sequential-Mixed-Method-Design, Döring & Bortz 2016):

Die Untersuchungsplanung wie auch die Anzahl der Dokumente wurden vorab festgelegt. Es erfolgte eine Archivierung, Aufbereitung und Anonymisierung der Unterlagen aus der Hebammensprechstunde. Zu den besprochenen Inhalten wurden Kategorien beziehungsweise Überbegriffe entworfen, überprüft und abschließend festgelegt. Danach erfolgte in zwei Schritten die beschreibende statistische Datenanalyse mit Hilfe von Statistical Package für Social Sciences (SPSS, Version 23). Die statistische Datenanalyse umfasste das arithmetische Mittel, Median und Modus. Der Gruppenvergleich wird mit Chi-Square-Test (nominale Variablen) und Mann-Whitney U Test (ordinale Variablen) durchgeführt.

Glossar
Adhärenz: Umsetzungstreue
Statistical Package für Social Sciences (SPSS): eine Analysesoftware, die die Organisation der Daten und die Auswertung unterstützt
Nominale Variablen: Daten, die in keine Reihenfolge gebracht werden können – beispielsweise zur Augenfarbe oder die Patientennummer
Ordinale Variablen: Daten, die in eine Reihenfolge gebracht werden können, allerdings sind die Abstände zwischen den Werten nicht eindeutig, zum Beispiel Präferenzrangfolgen, Zufriedenheit (auf einer Skala von 1 bis 5)
Chi-SquareTest: statistisches Auswertungsverfahren, um einen Zusammenhang zwischen zwei nominalen Variablen zu prüfen
Mann-Whitney U Test: statistisches Auswertungsverfahren, das vor allem verwendet wird, wenn die Daten ordinal skaliert sind (auch Wilcoxon-Rangsummentest genannt)
Problemzentriertes Interview von Andreas Witzel: Erfassung von Problemen und Themen samt Analyse subjektiver Sinnbezüge und Sozialisationsprozesse, halbstrukturiert (oder auch semi-strukturiert): dialogisch-diskursive Gesprächsfragen samt Leitfragen (Witzel, 1989)
S2PS2 Methode: Sammeln, Sortieren, Prüfen, Streichen, Subsumieren
Post-Skriptum: Reflexion der Interviewsituation, zum Beispiel Stimmung, Störungen etc.
Frameworkanalysis von Nicola K. Gale: Analysemethode zur Evaluation von Standards und Leitlinien. Geeignet für die Datenanalyse über mehrere unterschiedliche Untersuchungsgruppen und Datenerhebungsformen hinweg (Gale at al., 2013).
Definition
Was versteht die Implementierungsstudie zur Hebammensprechstunde unter Umsetzungstreue, Durchdringung und Nachhaltigkeit?
Umsetzungstreue bedeutet in diesem Zusammenhang der Grad, in dem die die Hebammensprechstunde in der Praxis so umgesetzt wird, wie es von den Autorinnen des Expertinnenstandards gemeint war. Die Umsetzungstreue umfasst unter anderem die »Adhärenz«– die Einhaltung der Vorgaben der Autorinnen des Expertinnenstandards – und die »Reaktion der Beteiligten«, also die Reaktion und die Akzeptanz durch die Teilnehmer:innen (Dusenbury et al., 2003).
Durchdringung meint die Integration der Hebammensprechstunde in die Klink beziehungsweise die geburtshilfliche Abteilung. Sichtbar wird diese an der Institutionalisierung, also an der Bereitstellung von Klinikstrukturen für die Hebammensprechstunde – zum Beispiel Raum, geplantes Budget, Datenmanagement – und Routinisierung – damit sind zum Beispiel wöchentliche Zeitfenster für die Hebammensprechstunden gemeint (Fleiszer et al., 2015).
Nachhaltigkeit wird definiert als ein Prozess, der sich an die Einführung der Hebammensprechstunde anschließt und in dem sichergestellt wird, dass der Nutzen der Hebammensprechstunde erhalten bleibt und sie sich an verändernde Anforderungen anpasst – zum Beispiel an die Nachfrage durch Schwangere (Fleiszer et al., 2015).

Themenzentrierte Interviews

Eine qualitative Befragung der Beteiligten sowie der Nutzerinnen der Hebammensprechstunde bietet mehrere Vorteile: Es ist eine günstigere und weniger aufwendige Untersuchungsmethode als Beobachtungen, die Datenerhebung kann wichtige Informationen zur Übertragbarkeit auf andere Einrichtungen liefern und Anteile der Hebammensprechstunde, die schwierig umzusetzen sind, können so identifiziert werden (Breitenstein et al., 2010).

Die Interviews mit den Hebammen, die die Sprechstunde durchführen, Frauen, die sie in Anspruch genommen haben, Führungspersonen, die an der Einführung der Hebammensprechstunde beteiligt waren, und Ärzt:innen, die die Schwangeren darauf hingewiesen haben, werden in Form des »problemzentrierten Interviews« durchgeführt, entwickelt von Andreas Witzel (Witzel, 1989. Witzel geht es neben der Erfassung von Problemen und Themen auch um die Analyse subjektiver Sinnbezüge und Sozialisationsprozesse (Flick, 2010). Diese subjektiven Sinnbezüge sowie zusätzliche Sachbezüge und Sozialisationsprozesse sind sowohl bei Implementierungsprozessen als auch bei Implementierungsoutcomes von Interesse.

Leitfragen spielen beim problemzentrierten Interview eine aktive Rolle. Sie gestalten das Gespräch mit, da es beim Interview keinen festen Ablauf gibt. Das Interview sollte jedoch dialogisch-diskursiv erfolgen. Dieses Verfahren nutzt einen Interviewleitfaden als Orientierung (Flick, 2010; Mey & Mruck, 2010; Schorn, 2000; Witzel, 2000). Damit auch unvorhergesehene, neue Themen Raum haben können und der Interviewverlauf dem Gesprächsfluss der Interviewpartner:innen angepasst werden kann, wird ein halb-strukturierter Interviewleitfaden verwendet. Außerdem bietet der Interviewleitfaden eine Richtschnur, um die zentralen Themen des Erkenntnisinteresses zu verfolgen (Flick, 2010). Der Interviewleitfaden wird auf Grundlage der Literatur nach der S2PS2-Methode erstellt (Sammeln, Sortieren, Prüfen, Streichen, Subsumieren) (Kruse, 2014).

Für die Interviews wurden zudem ein Kurzfragebogen, ein Post-Skriptum (Reflexion der Interviewsituation) und eine Audioaufnahme angelegt (Witzel, 2000). Nach der Verschriftlichung der Interviews (Dresing & Pehl, 2015) erfolgte die Datenanalyse mit Frameworkanalysis (Gale et al., 2013). Frameworkanalyis eignet sich für einen umfassenden Überblick und die Bearbeitung über mehrere unterschiedliche Untersuchungsgruppen und Datenerhebungsformen hinweg. Diese Analysemethode wurde entwickelt, um Standards und Leitlinien zu evaluieren (Gale et al., 2013).

Nach der Verschriftlichung machte sich die Erstautorin mit den Interviews vertraut. Danach wurden alle Interviews offen codiert, nach Personengruppen und Klinik geordnet – also eine induktive Herangehensweise, um neue und überraschende Themen herauszuarbeiten. Anschließend wurde deduktiv nach dem Framework codiert. Schließlich wurden in einer Übersicht, der sogenannten Matrix, die Ergebnisse gegenübergestellt (Gale et al., 2013).

Einen Überblick über die ausgewählten Methoden zur Beantwortung der Fragestellung und die Erhebungspopulation gibt Tabelle 2.

Ergebnisse

Die Dokumentenanalyse zeigt überwiegend eine gute Adhärenz in beiden Kliniken – mit einem Unterschied: In einer Klinik ist aus den Dokumenten nicht ersichtlich, welche Bedürfnisse, Sorgen und Ängste die Frauen haben. Demgegenüber zeigen in beiden Kliniken die Ergebnisse der qualitativen Interviews eine gute bis sehr gute Adhärenz.

Strukturelle Anzeichen der Institutionalisierung zeigen sich an der Freistellung von Personal im Kreißsaal für einen Einsatz der Hebammen in der Hebammensprechstunde und am zur Verfügung gestellten Raum. Insbesondere die Raumfindung beinhaltete eine abteilungsübergreifende, langwierige und sehr aufwendige Abstimmung in den beiden Kliniken.

Die Routinisierung beinhaltete die Abläufe der Hebammensprechstunde, zum Beispiel Terminvergabe über die Ambulanz, Anfertigung von Kopien der Dokumentation für den Kreißsaal. Sie ist sehr gut gelungen, erforderte allerdings ebenfalls mehr Aufwand als zuvor angenommen.

Abbildung: Auszug aus dem halb-strukturierten Interviewleitfaden zum Interview von Hebammen.

Die Nachhaltigkeit zeigte sich im »Nutzen« und in der »Entwicklung« in beiden Kliniken. Als Nutzen für die Frauen nannten die Interviewteilnehmer:innen beispielsweise eine Reduktion der medizinischen Interventionen wie Dammschnitte. Ebenso ist aufgefallen, dass die Schwangeren besser informiert und auf die Geburt vorbereitet sind. Auf die individuellen Wünsche, Ängste und Sorgen der Gebärenden könne besser eingegangen werden, denn diese sind dokumentiert und stehen im Kreißsaal zur Betreuung zur Verfügung. Für die zukünftige Weiterentwicklung der Hebammensprechstunde wird als wichtigster Aspekt von allen Interviewteilnehmer:innen aus beiden Kliniken die langfristige Finanzierung genannt. Aber auch die Stellenbesetzung und Motivation der Hebammen in den Kliniken sowie die Unterstützung der Führung müssen weiterhin im Blick behalten und erhalten bleiben. Erst die Kombination der quantitativen Dokumentenanalyse mit themenzentrierten qualitativen Interviews zeigte den Implementierungserfolg im Detail. Eine einzelne Methode alleine hätte diese Ergebnisse nicht zu Tage fördern können.

Nachgefragt

Birgit Heimbach: Sie schreiben, »dass für Ihre Studie eine Dokumentenanalyse und eine Befragung notwendig waren, die beide durch das Explanatory-Sequential-Mixed-Method-Design abgedeckt wurden.« Hätte man sonst noch eine andere oder zusätzliche Methode wählen müssen?

Prof. Dr. Anja Siegle: Ja, zur Erarbeitung der Merkmale hätte man auch eine Delphie-Studie mit allen an der Entwicklung beteiligten Expertinnen durchführen können. Zudem wäre auch eine teilnehmende Beobachtung der Hebammensprechstunde statt der Interviews möglich gewesen. Allerdings hatte die Ethikkommission teilnehmende Beob­achtungen abgelehnt, weil es nur einen Termin vor der Geburt gibt und es ein vertrauliches Gespräch zwischen Frau und Hebamme ist. Da hätte eine Beobachterin wahrscheinlich gestört.

Welcher Forschungsdisziplin entstammen die von Ihnen verwendeten Methoden?

Diese Methoden werden unter anderem in der Pflegewissenschaft, den Sozial- und Humanwissenschaften, der Medizin (eher selten) und Psychologie verwendet.

Haben Sie sich die Methoden in Ihrem Studium angeeignet oder später?

Im Studium erlernt man, wie man sich Methoden aneignet – eben beispielhaft an wenigen Methoden, diese jedoch bis ins Detail. Die vorgestellten Methoden habe ich mir erst danach angeeignet, bezogen auf die Forschungsfragen.

Wo können Hebammen diese Methoden erlernen?

In passenden Methodenbüchern und Artikeln, in Absprache mit Expert:innen und in wissenschaftlichen Teams kann das eigene Methoden­wissen erweitert werden.

Gehören sie heute zum Standard eines Hebammenstudiums?

Grundlegende qualitative und quantitative Methoden werden beispielsweise an der Dualen Hochschule in Baden-Württemberg heute standardmäßig im Hebammenstudium eingeführt. Allerdings ist das vertiefte Forschungswissen eher Bestandteil eines Masterstudiums und nur zu kleinen Teilen Inhalt im primär­qualifizierenden Bachelorstudiengang.

Zitiervorlage
Siegle, A. & Schmidt, K. (2023). Methoden anwenden: Forschungsfeld: Hebammensprechstunde. Deutsche Hebammen Zeitschrift, 75 (10), 34–38.
https://staudeverlag.de/wp-content/themes/dhz/assets/img/no-photo.png