Die Frauen und Familien stehen im Zentrum
Im Zentrum jeder Praxisanleitung stehen die Frauen und Familien. Sie werden von der werdenden Hebamme gemeinsam mit der PraxisanleiterIn begleitet. Ob in der Schwangerenanmeldung, auf der Wochenstation oder während eines gemeinsamen Dienstes im Kreißsaal, die Fallauswahl erfolgt interkollegial zwischen dem Klinikteam, der werdenden Hebamme und der PraxisanleiterIn.
Für die so begleiteten Frauen und Familien zeichnet sich die Praxisanleitung durch die besondere und individuelle Aufmerksamkeit in einer Eins-zu-eins-zu-eins-Begleitung aus. Es gibt Raum für Detailfragen von Seiten der werdenden Hebammen, die sonst unter Umständen unbeantwortet blieben. Beispielsweise im Rahmen eines ausführlichen Anmelde- und Anamnesegesprächs und bei der äußeren Untersuchung, die in der Schwangerenanmeldung deutlich mehr Raum bekommt. Transparenz gegenüber der Frau und Familie über die Ausbildungssituation sowie den damit verbundenen Zeitaufwand sind Grundlage einer vertrauensvollen Zusammenarbeit und positiven Lernatmosphäre.
Die werdende Hebamme erlebt eine praxisnahe Ausbildung in einem geschützten Lernraum, da die PraxisanleiterIn Zeit zur Wissensvermittlung hat. Sie agiert nicht im Dienstalltag, sondern ist exklusiv für die Auszubildende da. Im Sinne des Theorie-Praxis-Transfers kann die werdende Hebamme eigene Handlungskompetenz entwickeln. Sie erhält den Rahmen und die Gelegenheit, eigene Behandlungsstrategien zu entwickeln. Sie übt, diese umzusetzen und mit der PraxisanleiterIn zu überprüfen. So entwickelt sich im Laufe der drei Ausbildungsjahre eine konstruktive, fruchtbare Lern-Beziehung, die in Krisenzeiten auch unterstützende und reflektierende Gespräche einschließt.
Das berufliche Verständnis der PraxisanleiterInnen liegt in der Ausbildungsbegleitung und -förderung. Die Entwicklung der Hebammen zu beobachten und diese hochmotivierten Frauen zu begleiten, ist eine herausfordernde und mit Demut erfüllende Aufgabe. Es sind intensive Lernmomente, die sie nicht nur im Verlauf von gemeinsamen Kreißsaaldiensten erleben. Letztere umfassen einen Achtstundendienst und sind für die hauptamtlichen PraxisanleiterInnen die größte pädagogische Herausforderung, da die Inhalte nicht planbar sind. Standortübergreifend arbeiten sie in verschiedenen Kreißsälen und Stationen, so dass insbesondere in den Level-1-Kreißsälen die sicherheitsspendende Routine fehlt, beispielsweise für Hausstandards oder die Dokumentation in unterschiedlichen EDV-Systemen.
Wiederum erleben die PraxisanleiterInnen in diesen Diensten viel Geduld und Unterstützung durch die KollegInnen vor Ort. Im Laufe der Jahre hat sich das System etabliert. Auch aus diesem Grund schätzen und unterstützen die Teams diese Möglichkeit für die werdenden Hebammen. Viele Teamleitungen und KollegInnen begrüßen es zudem, dass die PraxisanleiterInnen regelmäßig vor Ort sind. Auf kurzem Dienstweg können Fachfragen und Sachverhalte in Zusammenhang mit der Ausbildung geklärt werden. Der Kontakt zur Hebammenschule ist somit lebendig und nicht nur auf formelle Arbeitstreffen beschränkt. Es ist ein gelebter Theorie-Praxis-Transfer für alle Beteiligten.
Lernen durch Beobachten
Zu Beginn der praktischen Ausbildung auf der Wochenstation hat sich das Konzept einer Erstübung nach der Methode »Wochenbettdemonstration mit Beobachtungsauftrag« etabliert: Die werdende Hebamme erhält im Vorfeld einen schriftlichen Beobachtungsauftrag mit 15 Kernfragen, um die Handlungen der PraxisanleiterIn gezielt zu verfolgen. Beobachtungsfragen lauten beispielsweise:
- Welche Dokumente nutzt die Hebamme, um alle relevanten Daten für die Vorstellung der Frau vorzubereiten?
- Was beobachten Sie bei der Kontaktaufnahme in Bezug auf die Sprache und Körpersprache bei der Hebamme?
- Wie bereitet die Hebamme den Wochenbettbesuch nach?
Die PraxisanleiterIn führt nach einer Akteneinsicht und ausführlichen Fallvorstellung einen originären Wochenbettbesuch bei Mutter und Kind durch, wie er in weiteren Praxisanleitungen und dem Examen erwartet wird. Die PraxisanleiterIn agiert als Vorbild und moderiert ihre Handlungen kontinuierlich im Sinne des »Laut-Denkens«, damit die werdende Hebamme die Durchführung und Struktur nachvollziehen kann. Für die Familie erläutert die PraxisanleiterIn alles Fachliche in angemessener Sprache, damit diese im Mittelpunkt aller Untersuchungen und Beratungen bleibt und die werdende Hebamme in ihrer Beobachtungsrolle. Im Anschluss findet die Nachbesprechung statt. In diesem Rahmen werden Fragen aus der Beobachtung geklärt, der Fall fachlich analysiert, die Handlungen der PraxisanleiterIn reflektiert und Lernziele abgeleitet.
Raum zur Aussprache und Reflexion
Ab dem zweiten Ausbildungsjahr werden die Rollen sukzessive getauscht: Die werdende Hebamme übernimmt die Rolle der Handelnden und die PraxisanleiterIn zieht sich von der kooperierenden Rolle in die der BeobachterIn zurück, orientiert am Unterstützungsbedarf der werdenden Hebamme.
In einem Vorgespräch stimmen sich die werdende Hebamme und die PraxisanleiterIn ab. Im ersten Schritt werden der persönliche Ausbildungsstand und die Lernziele beziehungsweise Schwerpunkte beschrieben. Nicht selten kommen in diesen Momenten aktuelle Probleme zur Sprache. Beispielsweise werden berufliche Sorgen thematisiert sowie die persönliche Situation der/des Lernenden und das Zurechtkommen im Dienstalltag. Viele werdende Hebammen sind schließlich neu im Berufsleben. Um eine positive Lernatmosphäre zu begünstigen, bekommen die werdenden KollegInnen hier den Raum zur Aussprache und Reflexion. Inhalte dieser Gespräche sind vertraulich, ebenso wie die der Praxisanleitungen.
Zurück zur konkreten Praxisanleitung: Nach der Rollenklärung der PraxisanleiterIn während der Anleitung (aktiv-kooperativ, situativ unterstützend oder passiv-beobachtend) wird der weitere Ablauf erläutert. Nach ausführlicher Fallvorstellung durch die werdende Hebamme, der Klärung letzter Fachfragen zum vorliegenden Thema und der Materialvorbereitung, beginnt die Durchführung der Wochenbettvisite bei Mutter und Kind. Das Patientinnenzimmer wird mit einem Hinweisschild versehen, dass eine Praxisanleitung stattfindet und um ein störungsarmes Arbeiten gebeten wird.
Nach Abschluss der Wochenbettvisite wird die Familie wieder der zuständigen KollegIn übergeben. Das gibt Raum und Abstand zur Nachbesprechung der Praxisanleitung. Im geschützten Rahmen reflektiert die werdende Hebamme ihre Handlungen und ein ausführliches, wertschätzendes Feedback kann erfolgen. Ein Schwerpunkt liegt auf den Lernzielen, die aus der Praxisanleitung resultieren und die die werdende Hebamme für ihren restlichen praktischen Einsatz nutzen kann. Die Lernziele formuliert sie selbst und hält sie in einem Protokoll fest. So wird die selbstständige Entwicklung von Handlungskompetenzen gefördert.
Gemeinsame Dienste im Kreißsaal
Um die werdenden Hebammen in praktischer Geburtshilfe mit auszubilden, werden ab dem zweiten Ausbildungsjahr zwei gemeinsame Frühdienste im Kreißsaal geplant. Die werdenden Hebammen nennen diese Dienste in der Ausbildungs-Abschluss-Reflexion meist als die wertvollsten der acht Praxisanleitungen. Der Grund hierfür ist sicher, dass die Aufgabe der hauptamtlichen PraxisanleiterIn in diesen Diensten in der Anleitung liegt und sie von üblichen Aufgaben im Kreißsaal freigestellt ist. Der Rahmen für individuelle Lernerfahrungen ist somit eher gegeben als es während eines regulären Dienstes ermöglicht werden kann. So ist es leichter, die werdende Hebamme und die betreute Frau gleichermaßen im Blick zu haben.
Durch die Nähe der hauptamtlichen PraxisanleiterIn zur theoretischen Ausbildung kann ein aktiver Transfer des Erlernten stattfinden. Die Anleiterin übernimmt in juristischem Sinn die Verantwortung für alle Handlungen und Durchführungen der werdenden Hebamme. In der Konstellation der hauptamtlichen Praxisanleitung ist ein vertrauensvolles Übertragen von Aufgaben möglich, da fast alle Tätigkeiten gemeinsam durchgeführt werden. So wird die Handlungskompetenz der werdenden Hebamme in sicherem Rahmen gestärkt.
Die eigene Dynamik einer Geburt erfordert im Gegenzug rasche Rollenwechsel, um die werdende Hebamme auch vor Überforderung zu schützen. Die Entscheidung zwischen »Erfahrungen machen lassen« und »eingreifendem Übernehmen« ist oft ein Drahtseilakt. Wie alle Praxisanleitungen werden diese Situationen gemeinsam und ausführlich erörtert und reflektiert.
Ist bei Dienstübergabe kein geeigneter Fall für eine Praxisanleitung zugegen, hat das Team der hauptamtlichen PraxisanleiterInnen im Laufe der Jahre einen Katalog von Alternativen zusammengestellt. So kann der Medikamentenschrank gemeinsam überprüft und dabei Indikationen, Dosierungen und Hausstandards besprochen werden. Einen großen Lerneffekt erzielt auch die ausführliche Vorstellung einer Schwangeren anhand der kompletten Klinikakte inklusive Laborbefunden, Arztberichten und bisheriger Dokumentation, da das in der Theorie erlernte Wissen mit realen Befunden und Diagnosen verknüpft wird. Weitere Ideen zum Theorie-Praxis-Transfer sind das Ausfüllen eines fiktiven Mutterpasses oder Auswerten von eigens hierfür gesammelten CTG-Streifen.
Bis zur Schließung der Hebammenschule Hamburg im September 2022 bleiben die hauptamtlichen PraxisanleiterInnen nach diesem Konzept tätig. Sie sind in ihren Aufgaben sowohl ein Teil des pädagogischen Teams der Hebammenschule als auch kontinuierliche KollegInnen an den klinischen Standorten.
Aus der jahrelangen Arbeit an und mit diesem Konzept wird deutlich, dass Ausbildung nur in einem kooperierenden Team gelingen kann. Hierfür sind regelmäßige strukturierte Arbeitstreffen, Standortgespräche und MentorInnen-Treffen notwendig. Auch wenn das beschriebene »Hamburger Modell« mit hauptamtlichen PraxisanleiterInnen seit Jahren etabliert ist, werden 98 % der praktischen Ausbildung durch die Kolleginnen in den Kliniken und seit 2016 auch durch die Externats-Hebammen gestaltet. Wohlbemerkt meist ohne entsprechende Lohnaufschläge oder gar »ehrenamtlich«.
Als Praxisanleiterinnen sehen wir in dem neuen Hebammengesetz und der Akademisierung einen großen Gewinn, denn die praktische Hebammenausbildung erhält endlich eine monetäre Wertschätzung. Für die außerklinischen Einsätze erhalten die KollegInnen zukünftig im Rahmen von Kooperationsverträgen eine geregelte Vergütung.
Die 300-stündige Qualifizierung zur PraxisanleiterIn wird derzeit finanziell gefördert. Für alle Hebammen, egal ob in Klinik oder Freiberuflichkeit, bietet diese Weiterbildung ein Gerüst, um pädagogisch fundiert in der Praxis auszubilden. Viele nutzen diese Qualifizierung als Sprungbrett auf ihrem Karriereweg. Die Praxisanleitung ist namentlich sowohl im Hebammengesetz als auch im § 15 der Studien- und Prüfungsverordnung für Hebammen (HebStPrV) als Mitglied des Prüfungsausschusses verankert.
Wir können uns über all das freuen, sollten uns aber nicht ausruhen. PraxisanleiterInnen nehmen eine Schlüsselfunktion im Theorie-Praxis-Transfer ein und können dieser nicht nur mit der Praxisanleitung gerecht werden. Sie sollten darüber hinaus das Hebammenstudium mitgestalten, beispielsweise durch ihr Mitwirken am Auswahlverfahren, bei der Organisation von Praxis-Reflexions-Tagen, bei der Praxis- und Einsatzplanung, in der Entwicklung von ausbildungsbegleitenden Dokumenten oder der Vorbereitung und Begleitung der staatlichen berufszulassenden Prüfungen.
In dem nun vorgegebenen Umfang ist die Praxisanleitung neu. Die Möglichkeiten für eine freigestellte Tätigkeit als PraxisanleiterIn in der Klinik sowie die Chance für eine bezahlte Tätigkeit für freiberufliche Hebammen sind durchaus attraktiv. Denkbar wäre beispielsweise ein System, in dem externe, freiberufliche PraxisanleiterInnen eigenverantwortlich Anleitungssequenzen und praktische Ausbildungstage auf Wochenstationen anbieten. Die Gründung selbstständiger PraxisanleiterInnenpools wäre eine weitere Option, um dem Mangel an ausgebildeten PraxisanleiterInnen in den Kliniken zu begegnen. So können die Lehreinheiten verlässlich und professionell als Dienstleistung angeboten und im Rahmen eines Kooperationsvertrages vergütet werden.
Hochwertig, strukturiert, individuell
Es ist allen am Hebammenstudium Beteiligten bewusst, dass werdende Hebammen ihre Handlungskompetenz nur in den praktischen Einsätzen erlangen können. Vorlesungen, Seminare, Übungen und Skills-Labs können vorbereiten, aber das konkrete Handeln und der Erwerb der notwendigen Handlungskompetenzen findet in der Praxis statt. Praxisanleitung schafft mit einem zukünftigen Stundenanteil von 25 % im Praxiseinsatz einen besonderen Lernraum – mit enormem Potenzial. Diesen Paradigmenwechsel gilt es mitzugehen, damit die praktische Ausbildung nicht dem Zufall überlassen bleibt. Das vielen bekannte, unreflektierte Mitlaufen ohne echten Lerntransfer in der praktischen Ausbildung ist ein Auslaufmodell.
Mit der Akademisierung wird der praktischen Ausbildung der längst notwendige Stellenwert eingeräumt. Dies gibt uns die Möglichkeit, eine qualitativ hochwertige, strukturierte und auf den individuellen Ausbildungsstand ausgerichtete praktische, moderne Ausbildung zu gestalten. Endlich!