Mögliche Antworten auf viele Fragen
Als wir in den Akten blätterten, schlugen unsere Forscherinnenherzen um einiges schneller. Durch eine Auswertung der Akten hätten wir erfahren können, wer die Frauen waren, die sich in der Zeit von 1876 bis 1992 für eine Ausbildung zur Hebamme entschieden. Wie gestalteten sich Ausbildungsinhalte und -verläufe? Wie wirkte sich die nationalsozialistische Politik in der Landesfrauenklinik aus? Wie gestalteten ÄrztInnen und Hebammen nationalsozialistische Gesundheitsversorgung auf lokaler Ebene im Nordstadtkrankenhaus und an der Hebammenschule in Hannover mit?
Anhand dieser Akten hätten aber auch Modernisierungsprozesse der Geburtshilfe über einen Zeitraum von 100 Jahren anhand der hannoverschen Landesfrauenklinik beschrieben werden können. Wie nahm das Personal technische und pharmazeutische Neuerungen auf und wie wurden sie umgesetzt? Wie sah der Alltag der Klinik aus Sicht des Klinikpersonals aus, was für Probleme gab es und wie wurden sie gelöst? Dienstanweisungen und Protokolle von Dienstbesprechungen in der Klinik hätten dazu Auskunft geben können.
Wir waren uns einig, die Akten müssten ins Niedersächsische Hauptstaatsarchiv, um sie Forschung und Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Der damalige Archivleiter, Manfred von Boetticher, teilte unsere Begeisterung. Er versprach im Frühjahr 2012, die Akten ins Archiv zu holen. Das Heben unseres Aktenschatzes gestaltete sich allerdings zäh und schwierig.
Die Akten gehören ins Hauptstaatsarchiv
Die Mitarbeiter des Hauptstaatsarchives und wir hakten monatelang immer wieder beim Klinikum nach und baten um Herausgabe der Akten – nichts geschah. Dabei hätte die Klinik die Akten laut Gesetz längst – spätestens 30 Jahre nach der letzten inhaltlichen Bearbeitung – dem Landesarchiv zugänglich machen müssen. Das Niedersächsische Archivgesetz von 1993 verpflichtet alle Dienststellen dazu, dem Archiv Unterlagen regelmäßig anzubieten, wenn diese für den Dienstgebrauch nicht mehr benötigt werden. Zudem hatten das Stadtarchiv Hannover sowie das Niedersächsische Hauptstaatsarchiv erst 2005 mit dem Klinikum Region Hannover, dem Träger von insgesamt sieben Kliniken, eine Vereinbarung getroffen. Darin verpflichtete sich das Klinikum, alle bis dahin entstandenen Unterlagen den Archiven anzubieten. Vorausgegangen war diesem Abkommen ein jahrelanges Ringen um die Abgabe der historischen PatientInnenakten der Psychiatrie in Langenhagen, das das Archiv schließlich für sich entscheiden konnte (Regin 2015).
Endlich, im Sommer 2013, also fast zwei Jahre nach unserem Treffen mit Prof. Bader, der damals schon nicht mehr in Hannover arbeitete, bot das Nordstadtkrankenhaus den Bestand der »Patientinnenakten« dem Niedersächsischen Hauptstaatsarchiv zur Prüfung an. Der Mitarbeiter des Hauptstaatsarchives überlegte nicht lange und transportierte die für die Archivierung ausgewählten Patientinnenakten ins Archiv, wo sie aufwändig restauriert, gereinigt, erfasst und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden. Das Archiv nimmt in der Regel eine Bewertung der angebotenen Akten vor und trifft nach festgelegten Kriterien eine Auswahl – alle entstehenden Akten kann selbst ein Archiv nicht aufbewahren.
Ein langjähriges Tauziehen
Ende gut, alles gut, könnte man jetzt denken und erleichtert aufatmen. Leider war dies aber nur ein Teilerfolg. Die Personal- und Verwaltungsakten lagen immer noch im Keller der Klinik. Diese Akten – es handelte sich immerhin um drei vollgestopfte Kellerräume – hatte die Klinikleitung dem Archiv nicht angeboten. Der Mitarbeiter des Archives hatte noch nicht einmal die entsprechenden Räume betreten dürfen. Es folgte ein langjähriges Tauziehen um die Herausgabe der Verwaltungs- und Personalakten.
Zunächst äußerte die Klinik datenschutzrechtliche Bedenken. Nachdem unsere Nachfragen mehrere Monate ohne Reaktion geblieben waren, riss uns der Geduldsfaden und wir wandten uns Ende 2013 an den Aufsichtsrat des Klinikums Region Hannover. Der Aufsichtsrat intervenierte und kurze Zeit später hatten sich alle Bedenken der Klinik aufgelöst. Einer Übernahme der Akten schien nichts mehr im Wege zu stehen – dachten wir. Damit, dass es Klinikleitung und Archiv über ein Jahr lang nicht gelingen würde, einen Termin für die Prüfung der Akten zu vereinbaren, hatten wir allerdings nicht gerechnet. Als wir bei der Klinikleitung nachfragten, woran die Übergabe der Akten scheitere, hieß es 2014: »Das historische Gut soll am Klinikum Nordstadt verbleiben.«
Wir wandten uns erneut an den Aufsichtsrat des Klinikums. Dieser versprach, sich für unser Anliegen einzusetzen. Zwei Jahre und diverse Nachfragen später gelang es dem Mitarbeiter des Hauptstaatsarchives im Mai 2016 endlich, Zugang zu den Akten zu bekommen. Er prüfte die vorhandenen Akten und traf eine Auswahl für das Archiv. Endlich, endlich schien alles auf einem guten Weg zu sein. Schließlich ging es nun nur noch darum, mit der Klinik einen Termin zur Abholung der Akten zu vereinbaren. Man einigte sich auf den 2. Februar 2017.
Als der Archivmitarbeiter jedoch am 2. Februar 2017 mit einem Laster bei der ehemaligen Landesfrauenklinik vorfuhr, fand er statt Aktenbergen nur noch leere Räume. Von den Akten fehlte jede Spur. Wie sich herausstellte, waren sie bereits im Dezember 2016 vernichtet worden.
Für uns ist es ein Rätsel, warum das Archiv ein dreiviertel Jahr bis zur Abholung der Akten verstreichen ließ, obgleich bekannt war, dass die Klinikleitung sie nicht abgeben wollte. Ebenso war bekannt, dass das Gebäude bereits größtenteils leer war und der Verkauf an einen Investor kurz bevorstand.
Aus dem Verlust lernen
Der »Aktenschatz« der Landesfrauenklinik und Hebammenschule Hannover ist unwiederbringlich zerstört. Lapidar erklärte der Pressesprecher der Klinik Steffen Ellerhoff dazu, es sei wohl bei der Räumung des Gebäudes zu Absprachefehlern gekommen (Hilbig 2017).
Die Zerstörung der Akten ist ein Riesenverlust für die frauengeschichtliche, hebammen-, sozial- und medizinhistorische Forschung. Es ist eine ungeheuerliche Vernichtung wertvollen Kulturguts. Die Personal- und Verwaltungsakten hätten die geretteten Patientinnenakten kontextualisieren und viel erzählen können über die Geschichte des Hebammenberufs, über Frauengesundheit, über Kinderkriegen und den Betrieb der Hebammenschule und Landesfrauenklinik, die in ihrer Blütezeit ein Aushängeschild moderner Medizin für Frauen war.
Für die Landesfrauenklinik und Hebammenschule Hannover konnten die Personal- und Verwaltungsakten nicht gerettet werden. Aber vielleicht gibt es in Kellern anderer Hebammenschulen noch historische Akten? Aus den Erfahrungen in Hannover lernend, sollten wir versuchen, diese Unterlagen zu retten, um mehr über die Geschichte der Geburtshilfe, über die Geschichten von Müttern und ihren Hebammen herauszufinden!