Gekonnte Nichtintervention
Bei der physiologischen Geburt wird die Gesundheit von Mutter und Kind durch die gekonnte Nichtintervention gefördert, deswegen wird diese Betreuungsform empfohlen (NICE, 2023; WHO, 2018; AWMF, 2020). Die Hebamme begleitet ruhig die Gebärende, sitzt vielleicht stundenlang neben ihr. Spricht beruhigende und ermutigende Worte, immer und immer wieder. Bereitet ein Entspannungsbad vor, ermutigt die Gebärende, das warme Wasser als Schmerzlinderung auszuprobieren, oder massiert sie. Geburtshilfliche Untersuchungen werden sorgfältig, bedacht und langsam durchgeführt: Das Wohlbefinden wird immer und immer wieder erfragt, beobachtet, berücksichtigt und gefördert, durch eine Vielzahl verschiedener Maßnahmen.
Der Geburtsverlauf wird immer und immer wieder in seinem Gesamtablauf eingeschätzt, die Qualität und Veränderung der Wehentätigkeit wird immer und immer wieder beurteilt. Das Wohlbefinden des Kindes steht dabei ebenfalls im Fokus der Achtsamkeit. Die Herztöne werden immer und immer wieder erhoben und in den Zusammenhang zur Gesamtsituation der Gebärenden gestellt.
Die gekonnte Nichtintervention ist ein Wortkonstrukt, das die praktische Umsetzung der aktuellen theoretischen Evidenzlage beschreibt. Professionelle Hebammenbetreuung mag beim Gebären zunächst als »scheinbares Nichtstun« anmuten, wie de Jonge und ihr Team zu bedenken geben, ist jedoch weitaus mehr (de Jonge et al., 2021). Ein Verständnis für die gekonnte Nichtintervention verdeutlicht, dass gerade eine geduldige, vertrauensvolle Begleitung ohne überflüssige Interventionen häufig eine besondere Art an Entscheidungen erfordert: Entscheidungen gegen ein überflüssiges Eingreifen. Entscheidungen, auf mögliche anderweitige Interventionen zu verzichten.
Dies ist herausfordernd, weil solch ein Agieren nur möglich ist, wenn die Physiologie des Geburtsverlaufs immer wieder bestätigt wird. Diese Bestätigung der Physiologie über den gesamten Verlauf einer Geburt erfordert neben der Hebammenpräsenz die fachliche Kompetenz, die Physiologie von der Pathologie abgrenzen zu können. Somit ist der Verzicht auf überflüssige Interventionen in vielfältige Entscheidungen und Kompetenzen eingebettet und damit höchst aktives Hebammenhandeln. Es handelt sich bei der fachgerechten gekonnten Nichtintervention um zeitintensive, begründete und umgesetzte Hebammenkunst.
Vertrauen vermittelt Sicherheit
Eine Hebamme leistet bei einer Eins-zu-eins-Betreuung durch eine gekonnte Nichtintervention emotional und fachpraktisch umfassende, kontinuierliche und kostbare Arbeit. Diese ist in eine umfassende emotionale Präsenz und Begleitung integriert. Eine Hebamme ist bei einer Eins-zu-eins-Betreuung im Sinne von de Jonge und ihren Kolleginnen ganz bei der Gebärenden. Sie begegnet ihr: Die Hebamme ist da. Dies bewirkt Vertrauen bei der Gebärenden in ihre eigene Fähigkeit zu gebären. Das entstehende Vertrauen vermittelt der Gebärenden Sicherheit. Bei jeder einzelnen Wehe, jeder einzelnen Herausforderung im Umgang mit dem Geburtsschmerz. Die Gebärende entwickelt dadurch ein Gefühl der Zuversicht in ihre eigene Gebärfähigkeit und trägt damit selbst zum weiteren physiologischen Verlauf ihrer Geburt bei. Sie lässt zu. Sie selbst will gebären.
Viele Vorgänge laufen während einer Geburt ab, die nicht messbar, nicht dokumentierbar sind. »Watchful attendance« beschreibt die Vielzahl an feinen, unsichtbaren, beziehungsorientierten und geburtsfördernden Betreuungsaspekten. Darin enthalten sind sowohl die Verantwortung der Hebamme sowie die Eigenverantwortung der Gebärenden während des Geburtsverlaufs. Ank de Jonge und Kolleginnen kritisieren, dass zeitliche Normen das Handeln von Hebammen häufig negativ beeinflussen, Vertrauensbildung stören und somit negative Geburtsverläufe zur Folge haben können (de Jonge et al., 2021). Dem »bürokratischen Imperativ« der geburtshilflichen Ungeduld stellen sie »being with woman« mit Vertrauen, Empathie, Zeit und Geduld gegenüber. Sei bei der Gebärenden: Begleite wachsam, geduldig und achtsam.
Weniger Interventionen, besseres Outcome
Hochrangige Leitlinien empfehlen, das Gebären in Form einer Eins-zu-eins-Betreuung zu begleiten (NICE, 2023, WHO, 2018, AWMF, 2020). Wird Gebären in einer Eins-zu-eins-Betreuung von einer Hebamme begleitet, werden weniger überflüssige geburtshilfliche Interventionen durchgeführt (Bohren, 2017, Renfrew et al., 2014), Frauen und Kinder haben bessere Outcome-Parameter (Bohren, 2017; Renfrew et al., 2014; Kearney et al., 2023) und Gebärende verfügen über eine bessere mentale Gesundheit (Cibralic et al., 2023).
Evidenzbasierte Hebammenbetreuung macht einen Unterschied, weil in allen Phasen der Geburt Parameter beeinflusst werden, die zu besseren mütterlichen und kindlichen Outcome-Parametern führen (Bohren, 2017; Renfrew et al., 2014).
Eine systematische Übersichtsarbeit unter 461 Publikationen zeigt, dass durch evidenzbasierte Hebammenbetreuung 56 relevante Outcome-Parameter verbessert werden können (Renfrew et al., 2014). Hierzu zählen beispielsweise die mütterliche Sterblichkeit, das Schmerzempfinden, perineale Schmerzen sowie das postpartale Depressionsrisiko. Aufgezeigt wurden weniger überflüssige Interventionen, wenn eine Eins-zu-eins-Betreuung stattfand: Beispielsweise erfolgte seltener eine Geburtseinleitung (Hodnett et al., 2012), Gebärende erhielten seltener pharmakologische Schmerzmittel sub partu (Sandall et al., 2016) und es wurden seltener Episiotomien durchgeführt (Sandall et al., 2016; Hodnett et al., 2012).
Eine andere systematische Übersichtsarbeit mit 26 Publikationen zeigt, dass Gebärende bei einer kontinuierlichen Betreuung häufiger eine Spontangeburt und seltener eine Entbindung per Sectio hatten, seltener pharmakologische Schmerzmittel erhielten und ihre Kinder höhere Apgar-Werte fünf Minuten nach der Geburt hatten (Bohren, 2017).
Eine registerbasierte Kohortenstudie unter erstgebärenden Frauen aus Dänemark zeigte als Gegenbeispiel, dass eine Praxis des »too much too soon« in Form einer interventionsreichen Begleitung auf physiologischer Geburtsverläufe negative Auswirkungen haben kann (Rydahl et al., 2021). Eine Übermedikalisierung kann für Gebärende mehr Schaden als Nutzen bewirken, weil sich daraus Interventionskaskaden entwickeln können. Diese können nicht nur kurz-, sondern auch langfristige negative Folgen haben.
Bessere mentale Gesundheit
Eine systematische Übersichtsarbeit zeigt, dass die psychische Gesundheit von Frauen während der Schwangerschaft, der Geburt und dem Wochenbett besser war, wenn sie eine Eins-zu-eins-Betreuung von einer Hebamme erlebten (Cibralic et al., 2023). Evaluiert wurden Daten von 3.493 Frauen aus acht Studien, die bis März 2021 publiziert wurden. Frauen, die während der Schwangerschaft kontinuierlich von Hebammen betreut wurden, hatten signifikant weniger Angst vor der Geburt und konnten besser mit Stress umgehen als Frauen, die keine kontinuierliche Hebammenbetreuung hatten.
Depressive Probleme in der Postpartalzeit wurden in vier der eingeschlossenen Studien untersucht: Hier zeigten zwei Studien keine signifikanten Unterschiede zwischen Frauen auf, die eine Eins-zu-eins-Betreuung erhielten. Zwei weitere Studien zeigten nach einer kontinuierlichen Hebammenbetreuung eine langfristig signifikant bessere mütterliche psychische Gesundheit nach vier und zwölf Monaten. Die Autor:innen schlussfolgern, dass eine kontinuierliche Hebammenbetreuung eine sinnvolle und effektive Prävention darstellt, mit der mütterliche Ängste, Sorgen und Depressionen während Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett reduziert und vermieden werden können.
Grenzen und Hürden der Eins-zu-eins-Betreuung
Grenzen und Hürden existieren. Manches kann durch eine Eins-zu-eins-Betreuung nicht erreicht werden. So zeigt eine randomisiert-kontrollierte Studie aus Australien beispielsweise, dass eine kontinuierliche Hebammenbetreuung während der Schwangerschaft nicht dazu beitragen konnte, die Re-Sectio-Rate bei Frauen nach einem vorausgehenden Kaiserschnitt signifikant zu senken (Homer et al., 2021).
Manche Evidenzen werden zudem in der geburtshilflichen Realität nicht umgesetzt: Die Perinataldaten in Deutschland belegen seit Jahren eine medikalisierte und interventionsreiche Geburtshilfe (IQTIG, 2022). Nicht die Hebamme, sondern das Cardiotokografie-Gerät (CTG) ist in der Realität häufig der treuste Begleiter einer Gebärenden. So wird das CTG als »Babysitter« beschrieben (Jepsen et al., 2022) oder die PDA als »Hebammenersatz« diskutiert (Aune et al., 2021).
Personalknappheit und eklatanter Hebammenmangel werden seit Jahren als Ursache kritisiert. Es ist notwendig, die Arbeitssituation von Hebammen zu verbessern, damit sie eine Eins-zu-eins-Betreuung leisten können (DHV, 2020).
CTG als Babysitter?
Die Aussage von Ingrid Jepsen und ihrem Team beruht auf einer qualitativen Studie unter 31 Hebammen und drei Studierenden der Hebammenwissenschaften aus Australien, Neuseeland, Dänemark und Norwegen (Jepsen et al., 2022). Die Teilnehmerinnen wurden im Rahmen von Fokusgruppengesprächen dazu befragt, warum Hebammen trotz gegenteiliger Evidenzlage überdurchschnittlich häufig das CTG bei Frauen mit geringem geburtshilflichem Risiko anwenden. Neben der Wahrnehmung des CTG als Babysitter wurde das CTG als »Partner der Hebamme«, »Beschützer, der den Rücken freihält«, »Garant der gemeinsamen Verantwortung« sowie »Störfaktor bei einer physiologisch verlaufenden Geburt« und »angeforderter Gast« beschrieben.
Dabei umfasst die Wahrnehmung als »Babysitter«, dass die CTG-Überwachung durch Hebammen in anstrengenden Betreuungssituationen eingesetzt wurde, um eine lückenlose Überwachung zu gewährleisten, obwohl nur eine sporadische Anwesenheit der Hebamme erfolgte. Eine Hebamme aus Norwegen beschreibt: »Du bist nicht bei der Gebärenden … Du legst nur das CTG an … Das CTG fungiert dann wie eine Art Babysitter, was natürlich nicht Sinn und Zweck sein sollte…«.
Eine dänische Hebamme sagt: »Es wäre für mich ein größerer Aufwand, ein Pinard-Stethoskop oder einen Doppler zu verwenden, als einfach ein CTG anzulegen«. Zudem können CTG-Daten außerhalb des Gebärraums von Ärzt:innen und Hebammen eingesehen werden, ohne dass sie den Raum betreten müssen.
Aus forensischer Sicht ergänzt eine Hebamme aus Dänemark: »Wir benötigen eine Dokumentationsform, bei der die Verantwortlichkeit mit anderen Mitgliedern des geburtshilflichen Teams geteilt werden kann.« Das CTG als »Beschützer, der den Rücken freihält«, wird als Nachweis dafür beschrieben, dass etwas getan wurde. Dabei geht die Verwendung des CTG für eine neuseeländische Hebamme mit dem Wunsch einher, »…sich selbst zu schützen«.
PDA als Hebammenersatz
Die Aussage, dass eine PDA als Hebammenersatz durchgeführt werde, beruht auf einer qualitativen Studie von Ingvild Aune und Kolleginnen (Aune et al., 2021). Sie führten eine qualitative Studie unter zehn Hebammen in Norwegen durch, indem sie Tiefeninterviews zur PDA als Schmerzlinderungsmethode unter der Geburt evaluierten. Ihre Ergebnisse zeigten verschiedene Erfahrungen und Einstellungen der befragten Hebammen. Hebamme Carina bringt darin zum Ausdruck: »Ich biete manchmal eine PDA an, um das Ziel der Schmerzlinderung unter der Geburt zu erreichen.« Die Hebamme Elida gibt zu bedenken: »Ein Punkt, an dem wir falsch denken, wenn eine PDA verwendet wird, ist, wenn alles gut zu sein scheint, weil die Gebärende relaxed in ihrem Bett liegt: Wir vergessen, dass wir zu arbeiten haben…«. Die Hebamme Ingrid meint: »Wenn die Gebärende eine PDA hat, brauchst du als Hebamme nicht so intensiv mit ihr arbeiten…«.
Die Autor:innen geben zu bedenken, dass die Entscheidungsfreiheit einer Gebärenden geachtet werden sollte – so wie es die Hebamme Melina umsetzt: »Wenn die Gebärende sagt, dass sie eine PDA möchte, dann setze ich alles daran, ihr diesen Wunsch zu erfüllen.« Jedoch befürworten sie die Einstellung, die die Hebammen Shelly und Aase in der Praxis umsetzen: »Ich habe eine berufliche Verpflichtung, nicht die einfachste Lösung zu wählen, ihr eine PDA zu ermöglichen, weil es einfacher für mich ist, sondern weil es der Gebärenden dient.«
»Manchmal existieren Alternativen (zum Einsatz einer PDA), die besser sind, und du musst alles daran setzen, diese der Gebärenden aufzuzeigen.«
Fazit: Gerade in schwierigen Situationen
Fakt ist: Eine Eins-zu-eins-Betreuung findet derzeit nicht bei jeder Geburt statt (IQTIG, 2022), obwohl dies der Fall sein sollte (NICE, 2023; WHO, 2018; AWMF, 2020). Die geburtshilfliche Realität ist herausfordernd, es gibt Grenzen und Hürden. Jedoch hat sich in den vergangenen Jahren die Evidenzlage stetig weiterentwickelt: Wir haben heute Publikationen, die den Wert und die Relevanz der Eins-zu-eins-Betreuung klar aufzeigen und sich in anerkannten Leitlinien widerspiegeln. Eine Herausforderung besteht darin, die Theorie in der Praxis umzusetzen. Auch und gerade in schwierigen Situationen.
Die S3-Leitlinie Vaginale Geburt am Termin bringt zum Ausdruck: »Frauen sollten ab der aktiven Eröffnungsphase unter der Geburt eine Eins-zu-eins-Betreuung durch eine Hebamme erhalten« (AWMF, 2020, S.29). NICE empfiehlt eine Eins-zu-eins-Betreuung bei jeder Geburt, in jedem Setting: »One-to-one care in all birth settings« (NICE, 2023, 1.4.5). Dabei sollten Gebärende besonders ab der aktiven Eröffnungsphase gar nicht mehr oder nur auf ihren Wunsch für kurze Zeitabschnitte allein gelassen werden: »Do not leave a woman in established labour on her own except for short periods or at the woman´s request.« (NICE, 2023, 1.4.6). Der Deutsche Hebammenverband spricht sich dafür aus, die Physiologie zu fördern und eine Eins-zu-eins-Betreuung abzusichern (DHV, 2023).
Soll evidenzbasiert betreut werden, ist und bleibt die Eins-zu-eins-Betreuung nicht nur unersetzbar, sondern ist zentraler Ausgangspunkt für komplexe Geburtsverläufe und Betreuungssituationen. Die Relevanz der Eins-zu-eins-Betreuung liegt darin begründet, dass viele andere evidenzbasierte Empfehlungen nur umgesetzt werden können, wenn eine Eins-zu-eins-Betreuung erfolgt.
Klare Zusammenhänge lassen sich dabei auch umdrehen: Erfolgt keine Eins-zu-eins-Betreuung, können hilfreiche Interventionen häufig nicht angewendet oder umgesetzt werden, die Gebären sicher machen. Hierzu zählen beispielsweise die aufrechte Gebärhaltung und Bewegung (Lawrence et al., 2013; Gupta et al., 2017) oder das Entspannungsbad in der Eröffnungs- oder Geburtsphase (Aughey et al., 2021; Nutter et al., 2014).
Eine Gebärende kann nicht zu aufrechter Gebärhaltung und Bewegung ermutigt werden, wenn die Hebamme keine Zeit hat. Eine Gebärende kann nicht in ihrem eigenen Rhythmus der Geburt unterstützt werden, wenn keine Hebamme da ist, die sich auf ihren individuellen Rhythmus einlassen und diesen professionell einschätzen kann. Geburtshilfliche Probleme können nicht vorausschauend erkannt und gelöst werden, bevor sie Folgeprobleme nach sich ziehen, wenn eine Hebamme keine Zeit hat, diese zu erkennen und ihnen zu begegnen. Eine Vertrauensbasis kann nicht aufgebaut werden, wenn Zeit, Geduld und Ruhe zu kurz kommen oder fehlen. Damit lässt sich auch die Kernaussage umdrehen: Ohne Eins-zu-eins-Betreuung wird nicht evidenzbasiert betreut.
Eine Eins-zu-eins-Betreuung sollte somit nicht nur weiter als Maßstab gesetzt, sondern im Bewusstsein der herausfordernden geburtshilflichen Realität fokussiert und gemeinsam bei jeder Geburt in der Praxis umgesetzt werden. Professionelle Hebammenarbeit in Form einer Eins-zu-eins-Betreuung macht bei jeder Geburt einen Unterschied (Renfrew, 2017), weil dies für die Mutter und das Kind Sicherheit bedeutet: Midwifery matters.