»Meine Kollegin bringt weder ein transportables Wasserbecken noch einen Gebärhocker mit. Die Schwangere, die sich telefonisch bei ihr zur Hausgeburt anmelden wollte, legt dankend wieder auf. Meine Kollegin hat auch keine Zusatzausbildung in Homöopathie, Fußreflexzonenmassage oder Akupunktur. Wenn sie eine Frau betreut, bringt sie in erster Linie etwas anderes mit: die klassischen Tugenden einer Hebamme, von alters her – ihr umfangreiches geburtshilfliches Wissen, Erfahrung, Feinfühligkeit, Menschenkenntnis, Respekt, Zuneigung, Geduld. Sie verströmt unerschütterliche Sicherheit, dass die Frau ihre Geburt aus eigener Kraft bewältigen wird. Medikamente finden sich in ihrem Hebammenkoffer ausschließlich für den Notfall. Der ist nicht übermäßig schwer. Zum Wochenbettbesuch kommt sie immer mit der gleichen Tasche: für die anschließenden Einkäufe im Supermarkt. Nur ihr Portemonnaie ist darin.«
Elfriede Fletterman war es gewesen, die mich vor 20 Jahren zu diesem Editorial für die DHZ inspiriert hatte. Im April 2001 ging es um Naturheilkunde in der Hebammenarbeit und ihre »Nebenwirkungen«. Wir hatten wieder einmal einen angeregten Austausch gehabt: Sie war beunruhigt über eine unübersehbare Entwicklung im Berufsstand und befürchtete, dass das Hebammenhandwerk hinter der zunehmenden Fülle möglichst breiter Angebote zu verschwinden droht. Das »eigentliche« geburtshilfliche Können, das Kerngeschäft der Hebammenkunst, schien nicht mehr auszureichen.
Elf, wie sie kurz und herzlich genannt wird von denen, die sie kennen, beobachtete eine »Bauchladenmentalität«. Schwangere würden von diesen Dienstleistungen der Hebammen und den teilweise noch so gut gemeinten Angeboten eher in ihrem Selbstbewusstsein und ihrer Kompetenz verunsichert und zu falschen Erwartungshaltungen geführt.
Sie selbst hatte das ganze geburtshilfliche Spektrum der Hebammenkunst zu bieten: 1944 in Den Haag geboren, hatte sie als junge Frau Anfang der 1960er Jahre in den Niederlanden ihre Hebammenausbildung absolviert – handwerklich solide und umfassend, wovon sie ihr Leben lang profitierte. Weder CTG noch Ultraschall gab es damals: Sie hatte zu lernen, mit dem Hörrohr und ihren Händen auszukommen, all ihre Sinne einzusetzen und sich darauf zu verlassen.
Von der Klinik- zur Hausgeburt
Ohne Anregungen aus ihrem Familienhintergrund war es eine Fügung gewesen, wie sie zu ihrem Berufswunsch gefunden hat. Als Mädchen war sie durch Zufall bei der Geburt eines Lämmchens dabei gewesen und hatte es aus seiner Eihülle befreit. »Hebamme – das werde ich!«, wusste sie in dem Moment. Bei mehr als 3.000 Geburten hat sie in ihrem Berufsleben geholfen, schätzt sie später: Erst in einer großen Klinik, später bei Hausgeburten. Nach der Ausbildung geht sie mit ihrem damaligen Partner zunächst nach Südafrika, wo die beiden 1966 heiraten. 1968 ziehen sie nach Berlin: Dort arbeitet Elf 16 Jahre lang am St. Joseph Krankenhaus Berlin-Tempelhof.
Sie erzählte über ihre Arbeitssituation dort immer sehr positiv: Ihr zupackender Einsatz, ihre gute Ausbildung und ihre wachsende Erfahrung verschafften ihr als Hebamme Respekt und sie konnte in der Klinik so arbeiten, wie es ihrem geburtshilflichen Selbstverständnis entsprach.
In den 1970er Jahren wächst die Familie: Ihre Tochter Saskia kommt 1974 zur Welt, ihr Sohn Felix drei Jahre später. Elf gönnt sich nur die beiden beruflichen Pausen, die die Mutterschutzzeit vorgibt. Durch berufliche Veränderungen ihres Mannes gibt Elf schließlich ihre sichere Anstellung in der Klinik auf und folgt ihm mit den Kindern 1984 nach Hannover. Hier ist der berufliche Start zunächst alles andere als entgegenkommend: Ihre Diabetes-Erkrankung ist der Grund dafür, dass kein Krankenhaus bereit ist, sie einzustellen. Ein Glück im Rückblick! Notgedrungen beginnt sie sich für die Freiberuflichkeit zu interessieren – die Hausgeburtssituation ist damals von massivem Hebammenmangel und großer Nachfrage der Frauen geprägt. Das neue Hebammengesetz von 1985 mit dem lang ersehnten Wegfall der Niederlassungserlaubnis steht unmittelbar bevor. Bis dahin war die Zulassung von neuen freien Hebammen für Hausgeburten behördlich stark reglementiert.
Der Einstieg in Hannover ist für Elf ein beherzter Sprung ins kalte Wasser: Eigentlich hatte sie die Hausgeburtskollegin Sigrun Marquald, die in ihrer Nachbarschaft wohnte, erst einmal nur kennenlernen wollen, um sich bei ihr über die Freiberuflichkeit zu erkundigen. Die drückt ihr jedoch gleich ihren Hebammenkoffer in die Hand und bittet sie, sie zu vertreten, weil sie wegmüsse. Gesagt, getan. Elf hospitiert bei Sigrun danach noch bei einigen Geburten und macht sich mit der neuen Arbeitsweise vertraut. Dann übernimmt sie zügig selbst Frauen zur Betreuung, häufig im Team mit einer weiteren Kollegin.
Mit Herzblut für die Frauen
Elfriede Chemaitis-Fletterman, wie sie damals noch heißt, ist ein großer Gewinn für die Hausgeburtsszene in Hannover und Umgebung. Die schlanke, drahtige Frau mit kurzen Haaren und häufig mit knallrotem Lippenstift findet schnell Kontakt. Ihre unverblümte, frische Art, den Nagel auf den Kopf zu treffen, der charmante holländische Akzent, das große fachliche Selbstbewusstsein als Hebamme – vor allem aber ihre bedingungslose Solidarität für die Frauen, die sie mit Herzblut betreut: Es dauert nicht lange, bis sich herumgesprochen hat, dass eine neue Kollegin im Einsatz ist.
Wir Hausgeburtshebammen – auch ich war seit 1983 in Hannover in der Hausgeburtshilfe aktiv – hatten damals große Unterstützung von einigen ärztlichen GeburtshelferInnen, insbesondere von Dr. Lothar Kindermann, später auch Marina Kaiser-Springorum und Dr. Ela Stammer.
Gemeinsam mit den ÄrztInnen traut sich Elf auch geburtshilflich anspruchsvolle Einsätze zu, wie Beckenendlagen oder Zwillingsgeburten, als dieses geburtshilfliche Handwerk in den hiesigen Kliniken zugunsten geplanter Sectiones zu verschwinden droht. Sie hat das in den Niederlanden gelernt, wo Hebammen in der Hausgeburtshilfe umfassendere Kompetenzen haben als bei uns. Auch in der Klinik in Berlin gehörte dieses Können zu ihrem geburtshilflichen Alltag.
Dass Qualität in der Hausgeburtshilfe nicht nur an oberster Stelle steht, sondern auch sichtbar gemacht wird, ist ihr immer ein Anliegen. Sie kümmert sich frühzeitig um die Perinatalerhebung im hannoverschen Raum. Dadurch ist sie auch unter den Kolleginnen und im Verband gut vernetzt. Von 1997 bis 2005 ist sie Landeskoordinatorin von QUAG e.V. Etwa in dieser Zeit nimmt sie auch als Gasthörerin an Seminaren von Prof. Dr. Barbara Duden am Institut für Soziologie der Uni Hannover teil – zur Zeitgeschichte der Hebammenarbeit. Sie ist davon sehr inspiriert: In jungen Jahren hatte sie keine Gelegenheit zu studieren, und die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit ihrem Berufsstand fasziniert sie. Als Praktikerin ist sie dort hochwillkommen und trägt zu einem lebendigen, fruchtbaren Austausch bei.
Mit ganzer Kraft – auch in Grenzsituationen
Die Geburten, die sie auf besondere Weise bewegt und gefordert haben, während es gleichzeitig ihre schönsten Erlebnisse waren, sind die ihrer vier Enkelinnen. Als Hebamme ihrer eigenen Tochter in deren »schweren Stunden« zur Seite zu stehen, »das ist nochmal etwas ganz anders«, schildert sie mir einmal. Wenn das eigene Kind Schmerzen leide, könne man sich nicht so abgrenzen, wie man es sonst als Hebamme professionell gewohnt sei. Deshalb holt sie sich dabei jeweils eine befreundete Hebammenkollegin dazu.
Unsere Verbindung ist nicht allein kollegial, sondern auch sehr persönlich: durch die besondere Geburt von Martin, meinem vierten Kind. Nach einer niederschmetternden pränatalen Diagnose für ihn in der Mitte der Schwangerschaft, mit seinen schweren Fehlbildungen ist klar, dass er nicht lange leben wird. Ich entscheide mich zur Hausgeburt, statt zum »angebotenen« späten Schwangerschaftsabbruch. Nach der Absage einer anderen Kollegin, diese Geburt zu betreuen, sagt Elf sofort zu, ohne zu zögern. Im starken Team, gemeinsam mit Lothar Kindermann und Marina Kaiser, sind mein Sohn, meine Familie und ich bei dieser Geburt zu Hause mit dem anstehenden Abschied so bestmöglich beschützt.
Diese direkte Solidarität, auch in Grenzsituationen der Gebärenden mit Herz und Seele zur Seite zu stehen, zeichnet Elfs Haltung in ihrem ganzen Berufsleben aus. Es wird nicht das einzige Mal bleiben, dass sie nach bekannter infauster pränataler Diagnose zur Begleitung einer Familie bereit ist, wo Geburt und Abschied eines Kindes zusammenfallen. Als ich mit meinem autobiografischen Film »Mein kleines Kind« einige Jahre später zu Kinodiskussionen eingeladen werde, sitzt sie mehrfach mit auf dem Podium und stellt sich den Fragen des Publikums.
Pünktlich mit 65 Jahren geht Elf 2009 in Rente: Es ist für sie ein klarer Schnitt. Eine Ausnahme sind die beiden letzten Geburten ihrer Tochter 2010 und 2013 – ihre letzten Einsätze als Hebamme.
Am Ende des Lebens
Wenn wir uns treffen, betont sie, auch wenn sie ihren Beruf geliebt habe, die permanente Rufbereitschaft fehle ihr nicht. Die Entwicklung in der Hausgeburtshilfe mit dem exorbitanten Anwachsen der Berufshaftpflichtversicherung und den zunehmenden juristischen Risiken empfinde sie als bedrückend. Sie sei froh, dass sie unter diesen Umständen nicht mehr arbeiten müsse. Sie hat nun endlich Zeit, im Chor zu singen, und sie genießt das.
Und Elf beginnt, ehrenamtlich Menschen an deren Lebensende zu begleiten. Sie besucht Fortbildungen zur Hospizarbeit. Ob es eine Zigarette ist, die sie einem Schwerstkranken hält, ob sie jemandem etwas vorliest oder einer Frau hilft, Lippenstift aufzulegen: Sie hat bei ihren wöchentlichen Besuchen immer das feine Gespür, womit sie den Menschen einen Wunsch erfüllen kann. Zwei oder drei solcher Besuche macht sie pro Woche in unterschiedlichen Hospizen oder bei den PalliativpatientInnen zu Hause. Manche dieser Begleitungen sind eher kurz, andere erstrecken sich über Jahre – Beziehungen, die immer vertrauter werden.
2019 beendet Elf die ehrenamtliche Hospizarbeit. Es ist das Jahr, in dem wir uns im Sommer das letzte Mal zufällig über den Weg laufen, spontan in ein Café setzen und uns wieder mal aufs Laufende bringen: Gerade denkt Elf über ihre künftige Wohnsituation im Alter nach. Wie immer, gibt es viele Familiendinge zu erzählen: von den Kindern und den inzwischen sieben Enkelkindern – ihr Sohn Felix ist jetzt Vater von drei Söhnen. An deren Leben und Entwicklungen nimmt sie regen Anteil. Die Trennung von ihrem Mann liegt schon viele Jahre zurück, scheint aber manchmal noch schmerzhaft hindurch. Das nächste Mal wollen wir uns in meinem Garten treffen …
Saskia wird mir später erzählen, was ich direkt von Elf nicht mehr erfahren kann: Anfang vergangenen Jahres spürt sie, dass gesundheitlich etwas nicht stimmt: »Mich frisst etwas auf von innen«, sagt sie zu ihrer Tochter. Im Frühjahr wird ihre schwere Erkrankung schließlich diagnostiziert. Die Zeit, die ihr bleibt, ist begrenzt. Ihren 76. Geburtstag feiert sie am 29. August im Kreis der Familie – ihr schönster Tag im ganzen Jahr, sagt sie. Die Klinikaufenthalte sind für sie außerordentlich belastend: Sie, die immer achtsam und solidarisch mit den Frauen umgegangen war, leidet darunter, wie unwürdig und missachtend sie als Patientin in der unpersönlichen Krankenhausroutine behandelt wird.
Weil sie sich nicht mehr allein zu Hause versorgen kann und palliative Pflege braucht, findet der Malteser Hospizdienst, für den sie jahrelang ehrenamtlich gearbeitet hatte, für sie einen Platz im Hospiz in Salzgitter. Sie lebt spürbar wieder auf, seit sie dort ab Ende September zu Gast ist. »Ich werde hier nicht nur fachlich super betreut, sondern auch mit Respekt, Würde und viel Herz umsorgt. Das ist einfach toll«, zitiert die Salzgitter Zeitung Elf in einem Artikel, der am 7. November 2020 über sie erscheint: »Hebamme Elfriede Fletterman hat sich ein Leben lang um Menschen gekümmert, im Hospiz wird sie nun umsorgt.« Ihre Lieblingsspeisen werden dort beispielsweise extra für sie zubereitet. Nicht nur das Sprechen, auch das Essen fällt ihr inzwischen sehr schwer und sie kann alles nur noch püriert zu sich nehmen. Besonders liebt sie Kartoffelbrei mit Butter. Einen Wunsch habe sie noch, äußert Elf in dem Artikel: »Noch einmal alleine aufstehen können. Und mit ihren Kindern Weihnachten feiern.«
Dieser Wunsch wird für sie nicht mehr in Erfüllung gehen. Wenige Tage später, in der Nacht vom 11. auf den 12. November ist Elfriede Fletterman im Hospiz Salzgitter gestorben.