Die Autorin berichtet über den von ihr erlebten Fall eines Harnverhaltes größeren Ausmaßes zum Geburtsbeginn. Aufgrund der seltenen Situation stellen sich Fragen zu einer optimalen Betreuung einer außergewöhnlichen und von der Schwangerschaft zunächst unabhängigen Erkrankung. Ein Urologe hilft bei der Einordnung der Diagnose und erklärt die notwendigen Therapiemaßnahmen.

Eine 25-jährige IV. Gravida, O Para stellt sich neun Tage nach dem erwarteten Geburtstermin für die weitere Geburtsplanung in der Klinik vor. Sie ist aufgrund ihrer Vorgeschichte mit drei Frühaborten bei gewünschten Schwangerschaften sehr ängstlich. Mit ihr wird verabredet, dass sie zwei Tage später zur Geburtseinleitung kommen kann, wenn das Kind bis dahin nicht geboren ist. Noch am gleichen Abend meldet sie sich mit Wehen und stehender Fruchtblase in der Klinik. Die Herztöne des Kindes sind gut, sie bekommt zu ihrer Sicherheit sogar ein Aufnahme-CTG – der Muttermund ist noch nicht geöffnet. Sie geht erstmal nach Hause, obwohl sie es schon sehr schwer hat, die Wehen auszuhalten und sich zu bewegen.

Am folgenden Morgen kommt sie gegen 8.30 Uhr in den Kreißsaal, die Wehen sind kurz und nicht effektiv, aber sehr plagend. Aufgrund ihrer Beschwerden wird in Abstimmung mit der Frau und einer Ärztin beschlossen, die Geburt einzuleiten. Der Hebamme fällt auf, dass die Herztöne recht weit oben zu hören sind und sie empfiehlt der Frau ein Klistier vor Einleitungsbeginn mit der Idee, ihre Beschwerden könnten auch von einer Verstopfung herrühren. Ich übernehme die Frau um 10 Uhr zur weiteren Betreuung, auch mit dem Hinweis der Kollegin, da könnte etwas mit der Blase sein.

Die Frau hat nun aufgrund der über Nabelhöhe sitzenden Herztöne Angst, dass das Kind sich in Beckenendlage gedreht haben könnte. Ich verspreche ihr, das sofort zu untersuchen, damit sie sich diesbezüglich entspannen kann. Als die Frau sich für die Untersuchung auf ein Bett legt, fällt auf, dass sie sich schwer setzen und hinlegen kann, auch das Drehen auf den Rücken schmerzt sie sichtlich. Dabei ist sie schlank und körperlich gesund. Für eine Frau mit Wehen fallen diese Bewegungen zunächst nicht aus dem Rahmen des Normalen.

Abbildungen 1: Blickdiagnose vor Palpation: Urinretention oder drohende Uterusruptur? Abbildung: Haandbog For Jordemødre von E. Hauch, Gylendalske boghandel Kopenhagen, 1938, 2. Auflage, S. 122

Abbildung: Haandbog For Jordemødre von E. Hauch, Gylendalske boghandel Kopenhagen, 1938, 2. Auflage, S. 122

Abbildung 3: Die Schüssel enthält 2.200 ml aus der Blase entnommenen Urin. Abbildung: Haandbog For Jordemødre von E. Hauch, Gylendalske boghandel Kopenhagen, 1938, 2. Auflage, S. 122

2.200 Milliliter Urin aus der Blase entleert

Für die Bestimmung der Kindslage dreht sich die Frau auf den Rücken und schon beim ersten Betrachten des Bauches fällt auf, dass dieser sich an der Taille einschnürt (siehe Abbildung 1 und 2). Im Zusammenhang mit den nicht zum Geburtsbefund passenden Schmerzen, war meine erste Differenzialdiagnose eine sichtbare Bandelsche Fursche als Zeichen einer möglicherweise drohenden Ruptur. Beim vorsichtigen Palpieren des Bauches lässt sich deutlich ein großes »Wasserkissen« in Nabelhöhe tasten.

Der Verdacht, da könnte etwas mit der Blase sein, scheint sich zu bestätigen. Die Frau kann sich nicht erinnern, wann sie in den letzten zwei Tagen zuletzt richtig Wasser gelassen und die Blase vollständig geleert hat.

Mit dem Verdacht einer sehr vollen Blase nehme ich für die Katheterisierung zusätzlich zur Nierenschale eine große Schüssel mit – eine weise Entscheidung, wie sich später herausstellen sollte (siehe Abbildung 3). Nach Legen des Katheters werden 2.200 ml Urin aus der Blase entleert.

Die Frau ist sofort schmerzfrei und kann sich wieder bewegen. Der Bauch erhält seine normale Form zurück (siehe Abbildung 4). Ehemann und Hebammen sind beeindruckt von der unerwartet großen Menge Urin.

Abbildung 4: Nach Entleeren der Blase sieht der Bauch wieder ganz normal aus. Abbildung: Haandbog For Jordemødre von E. Hauch, Gylendalske boghandel Kopenhagen, 1938, 2. Auflage, S. 122

Wenig Drang zur Blasenentleerung

Im Gespräch mit der Frau und ihrem Mann stellt sich heraus, dass der Bauch sich bereits am Vortag so präsentierte, die Frau aber nicht beunruhigt war, dass sie nicht zur Toilette musste. Bereits ihr ganzes Leben spürte sie selten den Drang zur Blasenentleerung. Während alle Freundinnen zum Beispiel bei einem Kneipenbummel mehrfach zur Toilette müssten, könnte sie ohne Blasenentleerung nach Hause gehen, sich schlafen legen und erst am nächsten Morgen Wasser lassen.

Die geplante Einleitung wird für zwei Stunden ausgesetzt, um ein spontanes Einsetzen effektiver Wehen abzuwarten, was leider nicht geschieht (siehe DHZ 5/2017, Seite 24ff.).

Um 12.15 Uhr wird mit 25 µg Cytotec per os begonnen, was dann sechs Mal in Folge alle zwei Stunden fortgesetzt wird.

In den ersten drei Stunden nach der Entleerung der Blase konnte die Frau zwei Mal spontan Wasser lassen. Um 13.00 Uhr erhält sie gemäß der Klinikleitlinien für eine Urinretention von mehr als 1.000 ml einen Dauerkatheter bis zur Geburt. Es zeigte sich erneut eine Retention geringeren Ausmaßes. Der Katheter wird abgeklemmt und alle zwei bis drei Stunden geöffnet, um die Blase zu entleeren. Auf einen Urinbeutel wird verzichtet, um das normal zu erwartende Völlegefühl der Blase nicht zu stören und der Frau die größtmögliche Bewegungsfreiheit zu erlauben.

Bis zum nächsten Tag entwickelt die Frau erneut eine Retention von 1.900 ml, die sich nur damit erklären lässt, dass aufgrund von erhöhtem Arbeitsanfall im Kreißsaal, der Katheter nicht regelmäßig geöffnet wurde und die Frau es erneut nicht registriert hatte.

Das Kind wird am Folgetag mittags um 14 Uhr nach 3,5 Stunden vollständiger Muttermundseröffnung und tief im Becken sitzendem Kopf per Vakuumextraktion und Episiotomie geboren. Der Junge ist 3.450 g schwer und gesund. Der Dauerkatheter soll mindestens für die nächsten drei Tage liegen bleiben.

Abbildung 5: Die gefüllte Harnblase der Gebärenden ist deutlich oberhalb des Symphyse sichtbar, a - Uterus, b - Harnblase. Eine einprägsame Zeichnung aus einem dänischen Lehrbuch aus dem Jahr 1938. Abbildung: Haandbog For Jordemødre von E. Hauch, Gylendalske boghandel Kopenhagen, 1938, 2. Auflage, S. 122

Wochenbett mit Dauerkatheter

In Absprache mit den UrologInnen der Universitätsklinik wird für das Wochenbett bestimmt, dass die Frau den Katheter für die nächsten drei bis vier Wochen behalten soll. Sie kann ihn alleine entleeren und wird auf das Wochenbett mit Dauerkatheter zu Hause vorbereitet. Ein abschließendes urologisches Konsil nach Abheilen aller Geburtsverletzungen steht noch aus.

In meiner mehr als 30-jährigen Berufspraxis ist mir so ein Fall von antepartaler Urinretention dieses Ausmaßes nie begegnet.

Ob es sich wirklich um eine Pathologie im Sinne einer neurogenen Blasenfunktionsstörung oder einfach um eine anatomisch-physiologische Besonderheit dieser Frau handelt, kann noch nicht abschließend beurteilt werden. Bis zum Eintritt in die Geburt hat die Frau die Sammelfähigkeit ihrer Blase jedenfalls nicht als Pro­blem, geschweige denn als krankhaft empfunden.

Resümee für die Praxis
Der beschriebene Fall ist in mehrfacher Hinsicht besonders und wirft Fragen für die angemessene Behandlung auf:

  • Erheblichen Bewegungseinschränkungen einer sonst gesunden Erstgebärenden kann im Einzelfall auch eine Urinretention zugrunde liegen. Eine Frage nach der letzten vollständigen Blasenentleerung erfordert in diesem Zusammenhang wenig Aufwand.
  • Über Nabelhöhe sitzende Herztöne des Kindes können ebenfalls ein Hinweis für eine volle Harnblase sein.
  • Selbstkritisch muss man fragen, ob den Hebammen nicht beim Erstbesuch im Kreißsaal die volle Blase hätte auffallen können, wenn sie die Frau palpatorisch untersucht hätten. War die Aufnahmeuntersuchung nicht sorgfältig genug?
  • Trotz der vermuteten Wehenschwäche aufgrund der extrem vollen Blase setzten nach der Entleerung die Wehen nicht wieder effektiv ein.
  • Wäre es in diesem Fall sinnvoll gewesen, nach 500 ml Entleerung der Blase, den Katheter zu entfernen und zunächst abzuwarten, um eine Blutung der Blasenschleimhaut durch relativen Unterdruck zu vermeiden, allerdings mit dem Risiko durch erneut notwendiges Katheterisieren das Infektionsrisiko zu erhöhen?
  • In Abwägung des Risikos der iatrogen verursachten Cystitis wäre zu überlegen, beim nächsten Mal bei einer derart hochstehenden Blase gleich einen Dauerkatheter für die Blasenentleerung zu verwenden und ihn entweder sofort wieder zu entfernen oder gegebenfalls liegen zu lassen.
  • Wie konnte es geschehen, dass eine Frau in klinischer Betreuung mit einem liegenden Dauerkatheter erneut 1.900 ml Urinretention entwickeln kann?
  • Wäre ein Urinbeutel für den permanenten Ablauf des Urins für die 26 Stunden bis zur Geburt die bessere Lösung gewesen?

Nachgefragt

Peggy Seehafer: Wäre es in diesem Fall sinnvoll gewesen, nach 500 ml Entleerung der Blase, den Katheter zu entfernen und zunächst abzuwarten, um eine Blutung der Blasenschleimhaut durch relativen Unterdruck zu vermeiden?

Lars Weisbach: Grundsätzlich kann aufgrund einer zügigen Entlastung der Harnblase beispielsweise im Rahmen eines Harnverhaltes eine petechiale Blutung aus der Blasenschleimhaut einsetzen. Des Weiteren kann es im Falle eines Rückstaus bis in die Nierenbeckenkelchsysteme zu einer Polyurie – einer krankhaft erhöhten Urinausscheidung > 2 l/24 h) – kommen, so dass in solch einem Fall eine Bilanzierung durchgeführt werden sollte. Im Rahmen des Geburtsvorgangs ist eine akute Entlastung der Blase sicherlich indiziert und ein Dauer­katheter nicht angezeigt, da dieser im kleinen Becken Raum für sich beansprucht, der möglicherweise zum Geburtshindernis wird. Nach der Geburt des Kindes ist eine Dauerkatheter-Einlage sinnvoll, um auf der einen Seite eine Bilanzierung (Einfuhr-Ausfuhr-Kontrolle) durchzuführen und auf der anderen Seite eine Retonisierung der Blase zu erreichen.

Die Polyurie erklärt, dass sich eben doch noch einmal 1900 ml in kurzer Zeit sammeln konnten. Welches Krankheitsbild kann hinter so einer Blasenfunktionsstörung stehen und wie entsteht so eine »Riesenblase?

Wahrscheinlich liegt eine Erkrankung vor, welche einerseits zu einer Ob­struktion (beispielsweise Cystocele, Detrusosphinkter-Dyskoordination oder selten eine Harnröhrenstriktur) oder andererseits zu einer unzureichenden Blasenentleerung auf dem Boden eines hypotonen Blasenmuskels (M. detrusor vesicae) führt. Eine neurogene Blasenentleerungsstörung, welche zu einem hypotonen Detrusor führt, kann beispielsweise im Rahmen einer neurologischen Erkrankung, wie einer Multiplen Sklerose (MS) oder Stoff­wechsel­erkrankungen wie einem Diabetes mellitus, auftreten.

Handelt es sich um eine Pathologie im Sinne einer neurogenen Blasenfunktionsstörung oder vielleicht einfach um eine anatomisch-physiologische Besonderheit dieser Frau?

Ein Harnverhalt mit über 2.000 ml Urin ist nicht mehr als »physiologisch« im Rahmen einer Geburt oder kurz vor der Geburt, wie sie im Rahmen eines Ödems im Bereich des Blasenhalses und der Harnröhre auftreten kann, zu sehen. Aus diesem Grund sollte eine weitere Abklärung mittels Sonografie der Nieren, Laborkontrolle (Retentionsparameter, Kreatinin) und im Verlauf mittels Cystoskopie, vaginaler Einstellung und Urodynamik (Blasendruckmessung) erfolgen.

Was ist das Ziel der von den Urologen angeordneten drei- bis vierwöchigen Dauerkatheterisierung? Und was kommt auf die junge Mutter dann zu?

Unter der Dauerableitung ist mit einer Retonisierung der Blase zu rechnen. Nach Entfernung des Katheters sollte eine Harnstrahlmessung und eine sonografische Restharnkontrolle durchgeführt werden. Der genaue Verlauf kann aber erst nach Durchführung der oben genannten Diagnostik abgeschätzt werden.

Ich danke Ihnen für Ihre Erklärungen. Für die Frau hoffe ich, dass es eine Heilung für ihre Blase gibt und sich nicht etwa eine ernsthafte Stoffwechselstörung hinter dem Problem verbirgt.

Zitiervorlage
Seehafer P: Fallgeschichte: Blasenfundus auf Nabelhöhe. DEUTSCHE HEBAMMEN ZEITSCHRIFT 2017. 69 (12): 68–71
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