Die Didaktik der Bilder und Sinneseindrücke
Im 17. und 18. Jahrhundert, also vor dem Einsatz von Röntgen, Ultraschall oder dergleichen Gerätschaften, bestand reges Interesse an der Erforschung des menschlichen Körpers. Dazu wurden tote Körper geöffnet und seziert. Parallel hielt ein Anatomiezeichner diese Schritte detailgetreu und dreidimensional fest.
Für diesen Zweck ergaben anatomische Präparationen, künstlerische Zeichnungen und wissenschaftliche Texte eine einstimmige, in sich schlüssige Synergie (Lauer 2013: 204). Detailgetreue Anatomiezeichnungen erleichterten es, mechanische Zusammenhänge zu erfassen, die im Körperinneren verborgen sind. Dies ist bei der anatomischen Orientierung am lebenden Körper hilfreich.
»Nichts ist im Verstand, was nicht zuvor in der Wahrnehmung wäre«, so lautet ein arabisches Sprichwort. Bilder können Informationen über anschauliche Merkmale und räumliche Zuordnungen oft besser vermitteln als jeder Text (Niehoff & Wenrich 2007: 56). Sie ziehen die Aufmerksamkeit der Augen auf sich und werden gut im visuellen Gedächtnis behalten. Die Didaktik des Bildes soll komplexe Zusammenhänge im Text auf einen Blick verständlich strukturieren, veranschaulichen und auf den Punkt bringen.
Manuelle Untersuchungen wie die äußere Untersuchung der schwangeren Frau machen Anatomie erfahrbar, das heißt Beurteilung der Michaelisraute, äußere Beckenuntersuchung, Beurteilung von Wirbelsäule, Rectusdiastase oder Beinen, Leopold-Handgriffe oder eine innere Beckenaustastung. Greifen und Begreifen stehen im direkten Lernprozess miteinander, sie verstärken die räumliche Wahrnehmung und Vorstellung des Geburtsvorganges (Sehlheim 1932: 451).
Wer über mehrere Sinnesorgane synchron Informationen aufnimmt, lernt, versteht und erinnert sich besser. Diese Erfahrung wird im Gehirn analysiert und mit dem Gesehenen (Bild) in Verbindung gebracht.
Bereits Friedrich Schiller (1759–1805) setzte sich für ästhetische Bildung ein. Der Arzt, Dichter und Philosoph befürchtete einen Rückschritt für die Wissenschaft, falls Wissensaneignung ausschließlich rational stattfindet und abgespalten wird von Emotionen, die sich aus Fühlen, Denken, Abschätzen ergeben (vgl. Niehoff & Wenrich 2007: 57). Heute, gut 200 Jahre später, bestätigt das moderne Zeitalter mit digitaler Bilderflut einen Teil dieser Theorie. Lernen abgelöst von Emotionen führt zu motorischen Störungen, fehlender Empathie sowie falscher Einschätzung von Folgen des eigenen Handelns (Legler 2011: 346). Der zunehmende Einsatz von technischen Geräten führt dazu, dass Menschen den Messungen eines Apparates mehr vertrauen als den eigenen Sinnen. Dieser Zustand nimmt einen enormen Einfluss auf die heutige Geburtshilfe.
Digitale Technologien und Patientensimulatoren
Durch den einseitigen Einsatz digitaler Technologien treten bewusst oder unbewusst manuelle Untersuchungen und haptische Fähigkeiten in den Hintergrund. Zweidimensionale Darstellungen vermitteln ein unrealistisches Bild von dynamischen Prozessen in körperlichen Räumen (Kopp 2013: 53). Es besteht die Gefahr, dass unrealistische Bilder und mangelnde manuelle Fertigkeiten zu einem großen Verlust von diagnostischem Vermögen führen können. So geht die Vorstellungskraft dafür verloren, wie sich der Fetus innerhalb des mütterlichen Beckens positioniert. Diese Fähigkeit war vor der Etablierung des Ultraschalls das wichtigste diagnostische Mittel in der Geburtshilfe.
Auch aktuelle Fachliteratur bestätigt eine Notwendigkeit des genauen Vorstellungsvermögens räumlicher Verhältnisse, abgeleitet von innerer und äußerer Untersuchung (BFH und ZHAW 2013:38).
Im Skills Lab sollen hochspezialisierte Patientensimulatoren der Vermittlung von geburtshilflichem Fachwissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten dienen, den Theorie-Praxis-Transfer ermöglichen, sowie Soft Skills schulen (wie Kommunikation, interdisziplinäres Agieren im Team und so weiter).
Der Ganzkörpersimulator SimMom der Firma Laerdal zum Beispiel ist äußerlich detailliert gestaltet. Beweglichkeit in den großen Gelenken, Simulation von Flüssigkeitsabgang und verschiedenes Zubehör können unterschiedliche geburtshilfliche Szenarien sowie einige Regelwidrigkeiten und Notfälle darstellen. Unterschiedliche programmierte Modi von pathologischen Zuständen der Herz-Kreislauf-Funktion ermöglichen ein fachübergreifendes Notfalltraining.
Die geburtshilfliche Anatomie wird im Patientensimulator vereinfacht und schematisch dargestellt, einige Strukturen fehlen: Der weiche Geburtsweg beschränkt sich auf Muttermund und Beckenboden, im knöchernen Geburtsweg werden lediglich Kreuzbein und Spinae ischiadicae schematisch dargestellt.
Vorprogrammierte Geburtsverläufe bieten standardisierte Lehrsituationen. Die automatische Entbindung soll unter anderem zur Prüfung der Auszubildenden eingesetzt werden, entsprechend § 29 Studien- und Prüfungsverordnung für Hebammen (HebStPrV) vom 8. Januar 2020.
Lernen aus neurowissenschaftlicher Sicht
»Das Gehirn (…) kann eines nicht: nicht lernen!« (Spitzer 2012: 15). Neuroplastizität beschreibt die Anpassungsfähigkeit von Synapsen, Nervenzellen und ganzen Hirnarealen an die jeweiligen Nutzungsbedingungen. Zum einen regen Veränderungen der Umwelt den Umbau der morphologischen Struktur des Gehirns an. Zum anderen wirkt sich wiederholte spezifische Beanspruchung stimulierend auf bestimmte neuronale Netzwerke aus (Schwing 2011:14).
Das Gehirn ist fähig, Nervenzellen, neuronale Netzwerke und die Aktivierungsmuster der Reizübertragung immer wieder zu verändern (Bauer 2013; Hüther 2001, 2004; Kandel 2008). Der Neurobiologe Gerald Hüther hat emotionale Reaktionen bei Lernprozessen und die neurobiologische Verankerung von Erfahrungen erforscht. Er bezeichnet das menschliche Gehirn als zeitlebens programmierbare Konstruktion (Hüther 2001:37ff.):
- Durch wiederholte Aktivierung entstehen neue Verknüpfungen der Nervenzellen untereinander und neue neuronale Netzwerke, sie werden »komplexer, dichter und bisweilen sogar größer« (Hüther 2001:85).
- Auch das Aktivierungsmuster kann durch intensive Nutzung verstärkt werden (Pippke & Dannenberg 2015: 51).
- Die Nervenbahnen verstärken durch vermehrte Anreize ihre Leitungsgeschwindigkeit.
- Ebenso nimmt die Anzahl der Synapsen einer einzelnen häufig aktivierten Nervenzelle zu (Bauer 2002:60f.).
- Häufige Erregung der Nervenzelle führt auch zu einer verbesserten Aktivierbarkeit ihrer Synapsen (Hüther 2001:119; Schwing 2011:14).
Über das Langzeitgedächtnis resümiert der Nobelpreisträger für Medizin Eric Kandel: »Einspeicherung in das Langzeitgedächtnis geschieht dann besonders gut, wenn die Inhalte wichtig sind, wenn sie emotional geladen sind und wenn sie oft wiederholt werden« (Kandel 2008).
Auf wiederholte Reize hin vermehren sich synaptische Verbindungen, neue Neuronen bilden sich aus und entwickeln neue Strukturen und Netzwerke. Gerald Hüther beschreibt es bildhaft: »…aus vorhandenen Trampelpfaden werden Autobahnen« (Hüther 2008, zit. in: Bonney 2011:14).
Je aufwendiger und intensiver ein Sachverhalt bearbeitet wird, desto besser ist der Lerneffekt (Spitzer 2012:94f.).
Laufend wirken neue Reize auf das Gehirn ein. Verstärkend auf die neuronalen Netzwerke wirken sie dann, wenn sie für die betreffende Person neu sind, unerwartet oder in einer Kombination mit anderen Sinnesreizen auftreten, die sie bisher so noch nicht erfahren hat (Hüther 2004:23). Diese Art von Sinneseindrücken erregen ältere Hirnbereiche, die auch körperliche Funktionen steuern, wie beispielsweise Stressreaktionen. Dies führt zu einer besonders tiefen Verankerung des Lerninhalts im Gehirn (Hüther 2004:22).
Zur Vertiefung der Lernerfahrung führt das Interesse am Lernstoff, ebenso wie neue Herausforderungen (Kandel 2008; Spitzer 2012:58f.).
Darüber, ob Lerninhalte als besonders wichtig eingestuft werden, entscheidet insbesondere die Erfahrung, die jeder Mensch in seinem bisherigen Leben gemacht hat. Gelingt die Integration des neuen Lerninhalts, spricht Hüther vom kohärenten Zustand des Gehirns (Hüther 2016), der glücklich macht und für Lernmotivation sorgt.
Der geschützte Raum eines Skills Labs bietet grundsätzlich günstige Lernbedingungen für eine intensive Wahrnehmung und vertiefte Auseinandersetzung mit dem Lernstoff. Die Hebammenschülerin kann ohne Angst vor Fehlern üben und ihre Fähigkeiten vervollkommnen.
Am Simulator ist das Erlernen des geburtshilflichen Befundes allerdings auf einige wenige Kriterien reduziert und standardisiert. Geburtshilfliche Befunde müssen jedoch vollständig erhoben und im Kontext beurteilt werden.
Darin liegen die Grenzen des Simulators: Für die angehenden Hebammen erschließen sich logische Zusammenhänge oft nicht, zum Beispiel der Zusammenhang zwischen Wehentätigkeit, Geburtsfortschritt und Vitalität des Kindes. Sie können nur einige wenige, selektierte Fähigkeiten üben. Für bereits ausgebildete Hebammen liegt dagegen ein klarer Vorteil darin, dass sie sich auf eine spezielle Fertigkeit fokussieren können. Für angehende Hebammen aber ist das Verknüpfen, Erkennen und Abgleichen des Lerninhaltes am Simulator nur bedingt möglich.