Der Interviewte Dr. Bruno Maggi studierte Medizin in Zürich, absolvierte Assistenzen in der Chirurgie und Gynäkologie. Nach der Ausbildung zum Manualtherapeuten bei der Schweizerischen Ärztegesellschaft für Manuelle Medizin (SAMM) lernte er 1993 bei Heiner Biedermann die Behandlung der Säuglinge und Kinder. Er hat eine Hausarztpraxis in Zürich. Von 1980 bis 2006 begleitete er Hausgeburten. Kontakt: bruno.maggi@gmx.ch Foto: © privat

Eine Beckenendlage des Kindes ist eine mögliche Ursache des KiSS-Syndroms. Ein Hausarzt und Manualtherapeut mit Erfahrungen in der Hausgeburtshilfe erläutert die Zusammenhänge. Die Aufgabe der Hebammen sei es, das klinische Bild zu erkennen und die Eltern zu beraten. 

Katja Baumgarten: Wie kann die Beckenendlage des Kindes die Entwicklung einer Kopfgelenk-induzierten Symmetrie-Störung (KiSS-Syndrom) begünstigen?

Bruno Maggi: Die Beckenendlage bedeutet häufig, dass das Kind im Uterus relativ stark in seiner Kopfhaltung fixiert ist. In der Behandlung der KiSS-Babys erhebe ich bei der ersten Konsultation eine ausführliche Schwangerschafts- und Geburts­anamnese. Lag eine Beckenendlage vor, schildern die Mütter in den meisten Fällen, dass der kindliche Kopf sich über Wochen in der gleichen Position im Fundus befand. Besteht wochenlang eine intrauterine Zwangshaltung, ist die Beweglichkeit der kindlichen Halswirbelsäule schon vor der Geburt eingeschränkt. Dies ist selbstverständlich auch bei Schädellagen der Fall, wenn der Kopf mehrere Wochen im mütterlichen Becken fixiert ist.

Welche Auswirkungen hat das für die Geburt?

Die Einschränkung der Kopfbeweglichkeit kann den Geburtsprozess verzögern. Das Kind muss sich unter der Geburt auch selbst aktiv bewegen können, es wird nicht nur passiv »herausgedrückt«. Diese Bewegungseinschränkung kann bei einer vaginalen Geburt aus Beckenendlage zu Schwierigkeiten führen, da diese die Manöver zur Entwicklung des kindlichen Kopfes sowohl bei der Manualhilfe nach Bracht als auch bei der Entwicklung nach Veit Smellie erschweren kann. Die Kopfentwicklung ist bekanntlich auch bei einer normal beweglichen Halswirbelsäule manchmal schwierig. Bei einer Sectiogeburt ist dies weniger der Fall, wobei auch hier die Entwicklung des Kindes durch den Schnitt nach Pfannenstiel schwierig sein kann.

Kann ein KiSS-Syndrom auch auftreten, wenn das Ungeborene in der Schwangerschaft normal beweglich war?

Es zeigt sich, dass in vielen Fällen auch die geburtshilflichen Manöver per se zu einer funktionellen Einschränkung der kindlichen Halswirbelsäule führen können. Dies kommt auch bei vaginalen Geburten aus Schädellage vor, sofern die Austreibungsphase verlängert ist und die Geburt beendet werden muss – sei es mit Kristellerhandgriff, Forceps oder Vakuum. Auch sehr schnelle Geburten können zu einem Trauma der Halswirbelsäule führen. Die Erfahrung zeigt, dass Kinder mit einem KiSS-Syndrom sehr oft eine komplizierte Geburt hatten. Zur Illustration: Von 26 Kindern, die ich mit Verdacht auf KiSS in der Praxis in einem Zeitraum von zwei Monaten untersuchte, hatten acht eine normale, fünf eine protrahierte und vier eine sehr schnelle Geburt. Fünf wurden mit Vakuum und vier per Sectio entbunden. Bei 16 der Kinder erwähnte die Mutter eine mehrere Wochen dauernde intrauterine Zwangshaltung am Schwangerschaftsende. Zwölf Kinder entwickelten die auffällige Haltung erst nach zwei Wochen. In meinem Kollektiv finde ich mehr als nur 5 % Beckenendlagenkinder, was gemäß der allgemeinen Wahrscheinlichkeit dieser Lage zu erwarten wäre.

Worauf muss die Hebamme nach einer Geburt aus Beckenendlage bei der Erstuntersuchung achten?

Ein Neugeborenes mit einer Funktionsstörung der oberen Halswirbelsäule liegt häufig in einer großbogigen skoliotischen Haltung des gesamten Rumpfes und dreht den Kopf bevorzugt in die konkave Seite. Manchmal zeigt sich auch eine Tendenz zum Überstrecken des Rumpfes und des Halses nach dorsal. Die Kinder schreien eher viel, sind schwer an der Brust anzulegen und saugen schlecht. Häufig haben sie auch einen vermehrten Reflux.

Es ist wichtig zu wissen, dass viele Neugeborene zeitweise solche Haltungsmuster zeigen können, ohne dass eine Funktionsstörung vorliegt. Die Diagnose KiSS lässt sich erst im Verlauf stellen. Wenn die Hebamme dieses Muster feststellt, bedeutet das noch nicht unbedingt, dass das Neugeborene das Syndrom hat. Die Hebamme sollte den Eltern dann raten, dass sie bei den ersten Vorsorgeuntersuchungen die Ärztin oder den Arzt darauf aufmerksam machen. Da diese nicht immer bereit sind, den Vorschlägen der Eltern zu folgen, wäre es hilfreich, eine Fachperson zu kennen, der man das Kind mit der Frage nach einer Funktionsstörung der Halswirbel­säule vorstellen kann. Das können Ärzt:innen, Physiotherapeut:innen, Craniosakraltherapeut:innen oder Osteopath:innen sein. Ich selber habe immer wieder direkte Zuweisungen von Hebammen.

Wie ist das weitere Vorgehen?

Es ist sinnvoll, erst einmal einige Wochen abzuwarten, da eine große Selbstheilungstendenz in den ersten zwölf Wochen besteht (Buchmann & Bülow 1983). Selbstverständlich sollte man bei massiven Schlaf- und Trinkstörungen schneller intervenieren. Die Instruktion der Eltern, wie sie ihr Kind lagern und stimulieren können, dass es den Kopf in die eingeschränkte Richtung bewegt, erfolgt am besten durch eine Kinderphysio­therapeutin. Sie kann die Eltern kontrollieren und die Verbesserung oder deren Ausbleiben registrieren. Diese Therapie sollte so bald wie möglich beginnen. Führt dies nicht zum gewünschten Erfolg, braucht das Kind physiotherapeutische Maßnahmen. Hierzu gibt es verschiedene Methoden, je nach Ausbildungsweg der Kinderphysiotherapeut:innen. In der Regel nutzen diese Methoden die bestehende Motorik aus, da man die kleinen Patient:innen ja nicht verbal instruieren und korrigieren kann. Die Therapiestunde sollte in Anwesenheit eines Elternteils erfolgen. Führt dies auch nicht zum Erfolg, ist eine Zuweisung an eine Manualmedizinerin oder einen Manualmediziner indiziert. Nach einer klinischen und radiologischen Untersuchung erfolgt die Manipulation der Kopfgelenke. Die verbesserte Beweglichkeit lässt sich oft unmittelbar überprüfen. Drei Wochen Therapiepause sind indiziert. Danach übernimmt die Physiotherapie die weitere Behandlung. Nur in etwa 20 % der Fälle braucht es eine zweite Manipulation. Diese sollte aber frühestens sechs Wochen nach der ersten durchgeführt werden.

Kann es passieren, dass die Geburtshelfer:innen bei der Entwicklung des Kindes aus Beckenendlage seine Hauswirbelsäule schädigen?

Da ich früher selbst geburtshilflich tätig war, kenne ich die »andere Seite«: Primär will man die Geburt so beenden, dass es am Ende Mutter und Kind gut geht. In gewissen dramatischen Momenten dachte ich nie an die kindliche Halswirbelsäule. Hier gelten andere Prioritäten. Geburtshelfer:innen sollten sich nie für eine KiSS-Symptomatik schuldig fühlen. Hast, Ungeduld und Eile sollte man vermeiden. Aber das gilt für die gesamte Geburtshilfe. Wenn schnell gehandelt werden muss, kann man keine Rücksicht auf die möglichen späteren Störungen der Halswirbelsäulenfunktion nehmen.

Ziele der Manualmedizin
Die Manualmedizin bei Kindern, speziell bei Säuglingen hat das Ziel, individuelle Ursachen für Auffälligkeiten oder Probleme zu finden und daraus eine Basis für die Therapie abzuleiten. Zunächst gilt es im Rahmen der Differentialdiagnose, systemische Grunderkrankungen wie neurologische Störungen, genetische Anomalien, Dysplasien oder Stoffwechselerkrankungen auszuschließen. Bei Säuglingen, die auffällig unruhig sind, viel schreien, Stillprobleme oder Lage- und Bewegungsasymmetrien haben, können funktionelle Störungen des sensomotorischen Systems die Ursache darstellen. Sie können die sensorische und die motorische Spontanentwicklung beeinflussen. Darüber hinaus ergeben sich Wechselwirkungen mit der Verarbeitung von Afferenzen und der Bewertung eigener motorischer Leistungen bis hin zur Entwicklung von Sozialstrukturen wie dem Bindungsverhalten.

Verschiedene Auffälligkeiten der sensomotorischen Organisation des Säuglings können ihren Ursprung in dysfunktionalen Afferenzen des propriozeptiven Systems haben. Dazu zählen etwa konstante Haltungs- und Bewegungsasymmetrien, kombinierte vegetative Auffälligkeiten, Trink-, Schluck- und Saugstörungen, ein- und beidseitige Stillstörungen sowie Entwicklungsverzögerungen (Sacher et al 2012). Geht mit diesen Symptomen eine segmentale Dysfunktion der hochzervikalen Region einher, sprechen wir von KiSS (Kopfgelenk-induzierte Symmetriestörung).

Neben einer genetischen Prädisposition werden peripartale Traumen, intrauterine Zwangslagen und andere Ursachen diskutiert. Sie sind einer manualmedizinischen und/oder osteopathischen Behandlung zugänglich.

Quelle: Stephan Temme, Angaben zum Autor finden Sie auf Seite 51.

Zitiervorlage
Baumgarten, K. (2021). Bruno Maggi zum KiSS-Syndrom bei Beckenendlage: Die Halswirbelsäule mobilisieren. Deutsche Hebammen Zeitschrift, 73 (8), 52–53.
Literatur
Biedermann H: Kopfgelenk-induzierte Symmetrie-Störung: Frühkindliche Fehlhaltungen sind funktional. Deutsche Hebammen Zeitschrift 2020. 11: 72–76

Buchmann J, Bülow B: Funktionelle Kopfgelenksstörungen bei Neugeborenen im Zusammenhang mit Lagereaktionsverhalten und Tonusasymmetrie. Manuelle Medizin 1983. 21:59–62

https://staudeverlag.de/wp-content/themes/dhz/assets/img/no-photo.png