Ein Gespräch mit der Hebamme und Pflegewissenschaftlerin über ihren beruflichen Werdegang bis hin zur Habilitation. Sie schildert ihr Interesse, den Dingen auf den Grund gehen zu wollen, den manchmal steinigen Weg und die glücklichen Umstände.
PD Dr. Eva Cignacco: „Das Studium hat mir etwas Weltläufiges, Weltoffenes gegeben – ich kann aus dem vollen Reichtum des Wissens schöpfen." Foto: © Heiner Hitz, Basel
Ein Gespräch mit der Hebamme und Pflegewissenschaftlerin über ihren beruflichen Werdegang bis hin zur Habilitation. Sie schildert ihr Interesse, den Dingen auf den Grund gehen zu wollen, den manchmal steinigen Weg und die glücklichen Umstände.
Katja Baumgarten: Gratulation! Sie sind die erste habilitierte Hebamme in der Schweiz. Wie sind Sie dorthin gekommen?
Dr. Eva Cignacco: Der Weg zu meiner Habilitation war ein anderthalbjähriger Prozess an der Universität Basel. Ich bin dort seit 2005 als Dozentin tätig und habe ein Forschungsprogramm zur Schmerzbehandlung bei Frühgeborenen aufgebaut. Eine Habilitation hatte ich gar nicht angestrebt, es schien mir viel zu anstrengend. Ich hatte auch keine Vorbilder – niemanden, der einen berät oder pusht. Mein Kollege, auch ein Pflegewissenschaftler, mit dem ich am Institut zusammenarbeite, erzählte mir eines Tages, er werde jetzt an der Uni die Vorabklärungen für seine Habilitation auf den Weg bringen. Das hat mich aufgeschreckt. „Das könnte ich doch auch?”, fragte ich mich. Würde ich jetzt mitmachen, wären wir zu zweit und könnten uns gegenseitig motivieren und unterstützen.
Wir haben dann das mehrstufige Verfahren gemeinsam vorbereitet: Entscheidende Kriterien sind, dass man promoviert ist und dass man in den letzten Jahren ein Forschungsthema fokussiert wissenschaftlich bearbeitet hat. Diese Forschungsergebnisse müssen in mindestens fünf hochrangigen, englischsprachigen, wissenschaftlichen Journals publiziert worden sein. Mein Kollege wurde abgelehnt, weil er nur vier Publikationen vorzuweisen hatte. Ich musste noch nachweisen, wie viele Master- und Doktorarbeiten ich betreut und wie viele Lehrveranstaltungen ich gehalten hatte. Man muss auch vorweisen, in welche Netzwerke man eingebunden ist, wie viel Drittmittel man für einzelne Studien generiert und welche Studien man bislang durchgeführt hat.
All meine Unterlagen wurden von der Habilitationskommission positiv beurteilt. Darüber hinaus gab es noch zwei externe Gutachten von einer amerikanischen Pflegeprofessorin und einem Schweizer Neonatologen. Als auch diese Stufe bestanden war, musste ich im Januar dieses Jahres vor der Habilitationskommission einen zehnminütigen öffentlichen Vortrag halten. Man kommt in einen alten Hörsaal mit steilen Stufen – ich war die einzige Frau unter den sieben Habilitanden und die einzige Pflegewissenschaftlerin neben den ärztlichen Kollegen. Ich habe schon viele Vorträge gehalten, aber dies war für mich ein historisches Ereignis. Ich habe ja an der medizinischen Fakultät habilitiert und musste mich vor der Ärztegilde als Frau und als Pflegewissenschaftlerin bewähren. Die Kommission bestand nur aus Medizinprofessoren. Nach meinem Referat wurden mir erstaunlich viele, sehr interessante und wohlwollende Fragen gestellt. Ich habe das Interesse gespürt, keine Ablehnung, weil ich Hebamme und Pflegewissenschaftlerin und nicht Medizinerin bin.
Hat Ihr Vortrag den Medizinern eine andere Perspektive eröffnet?
Ja, ein Professor, den ich nicht kannte, meldete sich gleich zu Wort und sagte, bevor er seine Frage stellte: „Ich danke Ihnen, dass Sie sich dieser vulnerablen Patientengruppe annehmen.” Es schien mir, als hätte ich ihn berührt mit der Thematik des Schmerzes bei Frühgeborenen. Im letzten Schritt musste die ganze Versammlung der medizinischen Fakultät an der Universität über alle sieben Habilitationen entscheiden. Sie besteht aus 56 Professoren. Ich hatte ein sehr gutes Ergebnis: 50 positive Stimmen, drei negative und drei Enthaltungen. Am 14. März hatte ich dann den offiziellen Bescheid meiner Habilitation im Briefkasten.
Dies war der letzte Abschnitt eines Weges, den ich 1993 begonnen hatte. Als Schweizerin kommt mir dieser Vergleich: die letzte Etappe einer Bergtour. Du hast schon die ganze Ausrüstung im Rucksack den Berg hoch geschleppt bis zu einer Alphütte, wo du erstmal Pause machst. Nun musst du noch die letzten 100 Meter schaffen. Gerade die sind besonders mühsam, weil du eigentlich schon sehr müde bist.
Du überlegst, was hat die medizinische Fakultät eigentlich mit mir als Hebamme zu tun? Du fühlst dich dem ja innerlich nicht verbunden und es gibt keine Lobby für eine Hebamme und Pflegewissenschaftlerin unter den Medizinern.
Wie fühlten Sie sich, als Sie nach der langen Tour auf dem Gipfel angekommen waren?
Es war ein gutes Gefühl, ich bekam von meinen Kolleginnen viele Gratulationen und Blumen. Man ist auch ein bisschen einsam: Man steht auf diesem Gipfel und denkt, eigentlich hat niemand eine Ahnung, was es geheißen hat, diese letzte Etappe zu gehen.
Als Pionierin fehlten Ihnen Professorinnenkolleginnen aus Ihrer Berufsgruppe, die Sie in ihren Kreis hätten aufnehmen können?
Genau, Kolleginnen, die sagen, jetzt machen wir diese Reise gemeinsam weiter, die einen einbinden können. Man hat einfach nie das Gefühl, man kommt irgendwo nach Hause, man ist angekommen. Auf einem Gipfel steht man ja nicht lange, man muss weitergehen.
Wie ist Ihre Perspektive? Gibt es Vorbilder jenseits der Schweizer Grenzen?
In der Schweiz bin ich die einzige Hebamme, die sich habilitiert hat, in Deutschland ist Mechthild Groß die einzige, aus Österreich habe ich bislang von keiner Kollegin gehört. Die Habilitation ist ja etwas sehr Deutschsprachiges. Im angelsächsischen Raum gibt es diese Qualifikationen nicht. Mit dem Titel Privatdozentin habe ich nun eine offizielle Lehrbefugnis der Universität Basel, bin aber auch bis zu meiner Pensionierung verpflichtet, dort während des Semesters eine festgelegte Anzahl von Vorlesungen zu halten. Sonst verliere ich diesen Titel wieder, sofern ich nicht auf eine Professorenstelle berufen werde.
Wie hält man diese Disziplin im universitären Wettbewerb über so lange Zeit durch?
Man muss von seinem Forschungsprojekt überzeugt sein, davon dass die Ergebnisse in der Praxis relevant sind. Man entwickelt ein inneres Feuer für eine Fragestellung, die man gut mit den PraktikerInnen im klinischen Setting abspricht. Ich habe das Glück, dass ich seit Jahren mit der Neonatologie Bern zusammenarbeite. Forschung sollte interdisziplinär angelegt sein, Monodisziplinarität hat heute bei Geldgebern keine Chance. Und sie sollte nicht auf einen Ort beschränkt sein, sondern mindestens national von Relevanz sein.
Woran arbeiten Sie zurzeit?
Ich leite eine Studie über Palliativpflege in der Pädiatrie. Eine Ärztin aus Zürich kam dabei auf mich zu: So ein Riesenprojekt könnte man niemals alleine bewältigen, vor allem nicht eine Medizinerin alleine. Die Kompetenz der Pflege ist dabei so zentral. Unsere Forschungsfrage lautet: Wo sterben Kinder in der Schweiz – zu Hause oder im Spital, und wie gestalten sich die letzten vier Lebenswochen? Wie wird mit Symptomen wie Angst, Schmerz, Durst, Hunger und Übelkeit umgegangen? Wie werden die Eltern in Entscheidungen mit einbezogen, ob man die Therapie weiter führt oder abbricht? Wir werden auch 800 Eltern befragen, die 2011 und 2012 ein Kind verloren haben.
Erst im Januar dieses Jahres ist es uns gelungen, das Projekt mit einer halben Million Franken finanziell abzusichern. Wir hatten zwei Jahre Anlaufphase durchzustehen mit Ablehnungen und neuen Versuchen. Gleichzeitig muss man das Forschungsprojekt vorwärts bringen. Es braucht ein gewisses Risikoverhalten. Die mühsame Geldsucherei kann man sich als praktisch arbeitende Hebamme kaum vorstellen – was es heiß, dass man sich zunächst auf unsicherem Terrain bewegen muss. Es war eine Riesenerleichterung, als unsere Studie endlich finanziert wurde!
Hatten Sie bei der Akquise von Fördergeldern Beratung – beispielsweise Texter – wo heutzutage alles mit Werbung, Marketing und Kundenorientierung zu tun hat?
Nein, externe Beratung hatten wir nicht. Nach der ersten Ablehnung haben wir überlegt: Wie können wir die Botschaft, die hinter unserem Forschungsanliegen steckt, so vermitteln, dass sie besser verstanden wird? Spätestens als wir den Informationsbrief an die Eltern verfassen mussten, ist uns aufgefallen, wir brauchen eine ganz andere Sprache als die wissenschaftliche. Wie sprichst du Eltern an, die vor zwei Jahren ein Kind verloren haben? Das war der Schlüssel – auch gegenüber den Geldgebern.
Wie kamen Sie zum Hebammenberuf und wie wurden Sie Wissenschaftlerin?
Nach einer dreijährigen Ausbildung zur Sozialarbeiterin hatte ich zunächst in einem öffentlichen Fürsorgeamt im Strafvollzug für Frauen gearbeitet. Dort wurde ich mit so vielen Problemen konfrontiert und habe darunter gelitten, dass ich den Menschen nur punktuell helfen konnte. Nach vier Jahren habe ich mich umorientiert: Ich habe dann von 1990 bis 1993 eine Hebammenausbildung in Bern absolviert. Schon damals habe ich mich sehr mit Pränataldiagnostik auseinandergesetzt und las kritische Artikel darüber. Weil ich mich für Themen interessierte, von denen die Klinikhebammen meinten, dass mich das noch nicht interessieren dürfte, bekam ich immer wieder Schwierigkeiten. Bei einer Praktikumsbeurteilung wurde beispielsweise einmal ein Abzug damit begründet, dass ich mich mit Büchern und mit Fragen beschäftigte, die noch nicht meinem Ausbildungsniveau entsprächen.
Sie hatten doch bereits Erfahrung in Ihrem anderen Beruf.
Genau. Die Leiterin meiner Hebammenschule musste mich oft bei meinen Praktikumsstellen in Schutz nehmen, wenn ich mit konservativen Haltungen der Hebammen oder Pflegenden in Konflikt geriet. Beim letzten Praktikum 1993 in der Universitätsfrauenklinik des Inselspitals in Bern bin ich dann aufgeblüht, weil da die Arbeit so vielfältig war: die physiologische Geburt, die hoch pathologischen Geburten, Frauen, die ein Kind verloren hatten, Frauen mit Präeklampsien. Dort konnte ich mit meinen Fähigkeiten als Sozialarbeiterin systematisch arbeiten. Wenn eine Frau mit einer hohen Komplexität im geburtshilflichen Befund eintraf, war es meine Stärke, schnell eine ordnende Struktur zu finden, wie ich die Frau oder die Familie als Hebamme durch das Chaos begleiten konnte. Ich erhielt dann das Angebot, zu bleiben und war überglücklich. Meine wissenschaftliche Arbeit ist eigentlich von dieser Hebammenarbeit ausgegangen. Wenn ich diese Frauen auf die Wochenstation verlegt habe, stellte ich mir Fragen: Wie geht es bei ihnen wohl weiter? Wie kommen sie damit zurecht, was sie in diesen letzten vier bis fünf Tagen erlebt haben? Mich interessierte das Verborgene, was dahinter steckt.
Um zu erfahren, wie es diesen Frauen weiter ergeht, habe ich als junge Hebamme eine Selbsthilfegruppe für Frauen nach Präeklampsie ins Leben gerufen. Etwa zwölf Paare haben sich gemeldet. Ich hatte noch keine Ahnung von Bewältigungsstrategien, von Belastungserleben, von Ängsten, von Verlustsituationen, wie lange Trauerphasen dauern. Ich saß mit den Eltern zusammen und habe sie gebeten: „Erzählen Sie mir, wie es Ihnen gegangen ist.” Aus den Gesprächen habe ich die ganze Dimension einer solchen Erkrankung erfasst. Mir eröffnete sich eine Welt, die mir vorher verborgen war. Das war der Auslöser, bei dem ich dachte, das sind so spannende Fragen!
Wann war das?
1994, es war ein Jahr nach dem Hebammendiplom. Ich habe einen Artikel darüber verfasst, mir gefiel die vertiefte Auseinandersetzung mit einer hochkomplexen Dramatik. Es gab einen zweiten Schlüsselmoment: Ich konnte als junge Hebamme keine Dammschnitte schneiden. Nicht technisch, sondern ich konnte nie diese innere Barriere überwinden. In all meinen Jahren als geburtshilflich aktive Hebamme habe ich einen einzigen Dammschnitt gemacht. Ich traute mich nicht, das zu verbalisieren – man sprach ja nicht darüber. Bei einer Geburt kündigte ich einmal dem anwesenden Oberarzt an, ich wolle versuchen, dass der Damm intakt bleibt. Dann gab es einen Dammriss dritten Grades. Anschließend hat er mich herauszitiert, mit dem Zeigefinger auf mich gezeigt und gesagt: „Wenn diese Frau inkontinent bleibt, bist du Schuld!” Ich bin zusammengesackt und war auch gegenüber dieser Frau so beschämt. Dann habe ich gezweifelt: „Das kann doch nicht sein.” Nach einigen schlaflosen Nächten dachte ich, es muss doch die Möglichkeit geben, herauszufinden, ob das wirklich so ist. Von wissenschaftlichen Datenbanken hatte ich damals keine Ahnung. Mein Mann riet mir: „Geh doch einmal in die Universitätsbibliothek und frage dort.”
Am Schalter der Universitätsbibliothek Basel lud mich die Bibliothekarin ein, als ich sie nach Literatur über Dammschnitte fragte: „Wir machen heute einen zweistündigen Kurs in Medline. Sie können sich am Nachmittag anschließen. Dann können Sie das selbst suchen.” Das war meine erste Literaturrecherche vor über 20 Jahren, völlig naiv, zum Thema Dammschnitte. Mir wurde erst jetzt bewusst: Die ganze Literatur zu meinem Thema gab es nur auf Englisch. Ich habe sie zusammengesucht, durchgearbeitet und in einem Dossier zusammengestellt. Dann habe ich dem Oberarzt den ganzen Ordner in die Hand gedrückt und gesagt: „Das stimmt ja gar nicht, was du mir gesagt hast.” Er war beeindruckt, hat wirklich alles gelesen und ein oder zwei Wochen später ist er auf mich zugekommen und hat gesagt: „Du hast mich überzeugt.”
Das war mein Schlüsselerlebnis, wo mir klar wurde, ich muss lernen zu argumentieren und geburtshilfliche Routinen zu hinterfragen. Das war zwar spannend, hat mir aber ein einige Probleme im Hebammenteam bereitet, weil ich andere Fragen stellte.
Wie konnten Sie Ihren Wissensdurst zufriedenstellen?
Ich habe dann nach einer Weiterbildung gesucht und im Hebammenwesen nichts gefunden, was mich interessiert hat. Bei einer Berufsberatung habe mich erkundigt: „Ich bin Hebamme und möchte mich mehr mit theoretischen Dingen auseinandersetzen.” So bekam ich eine Broschüre über die Pflegeexpertinnenweiterbildung an der höheren Fachschule, die mich sofort angesprochen hat: Dabei sollte es um das systematische Angehen von pflegerischen Problemen, Konzeptentwicklung, Qualitätssicherung oder Umgang mit Forschungsergebnissen gehen. Genau das, was ich suchte. Diese zweijährige berufsbegleitende Ausbildung 1996 bis 1998 war für mich ein Highlight, weil ich dort mit Fragen der Pflege und des Umgangs mit schwierigen Situationen geschult wurde und auch mit der Forschung. Gleichzeitig habe ich zu 90 Prozent weiter im Kreißsaal gearbeitet.
Wie kamen Sie dann zum Studium?
Als ich diese Ausbildung abgeschlossen hatte, blieb ich im Inselspital und wurde Pflegeexpertin für Geburtshilfe. Zu 40 Prozent war ich weiterhin in der Geburtshilfe im Kreißsaal tätig, zum anderen war ich Pflegeexpertin und musste Konzepte entwickeln, Hebammen schulen oder Qualitätssicherungsprojekte durchführen.
Während meiner Pflegeexpertinnenausbildung erfuhr ich, dass man in Aarau neuerdings Pflegewissenschaften studieren kann. Ich war eine der ersten Hebammen in der Schweiz, die studierte – mit dem Abschluss des Masters of Nursing Science. Mit den KollegInnen aus dem Pflegebereich zusammenzukommen, hat meinen Horizont durch wichtige Fragestellungen, wie Sterbebegleitung oder den Umgang mit psychisch Kranken noch mehr erweitert. Auch in der Geburtshilfe haben wir mit psychischen Erkrankungen zu tun. Die Erkenntnisse aus der Palliativpflege haben mir im Hinblick auf sterbende Neugeborene sehr geholfen. Gesprächsführung, Pflegediagnosen, Pflegeintervention, Public Health, Fragen der öffentlichen Gesundheit – bei mir gingen dauernd neue Fenster auf.
Ich wollte nun definitiv wissenschaftlich tätig sein und musste mich von der pragmatischen Hebammenarbeit ein bisschen verabschieden. Ich hatte mich im Kreißsaal immer rechtfertigen müssen und wurde ausgegrenzt. Aufstieg heißt auch Abschied. Ich musste mich vom Herkömmlichen verabschieden, damit ich weitergehen konnte. Das war schmerzhaft – im Nachhinein aber goldrichtig.
Was haben Sie als Wissenschaftlerin für die praktische Hebammenarbeit gelernt?
Ich würde Frauen heute viel freier und individueller betreuen. Ich würde mich auch nicht scheuen, Fragen zu stellen, die vorher eher untergingen. Wenn ich früher bei Wöchnerinnen eine Beziehungsproblematik bemerkt habe, habe ich das nicht direkt angesprochen. Ich würde heute die Frauen in ein Gespräch einbinden, wo sie darüber sprechen könnten, wenn sie sich allein und überfordert fühlen.
Sind Sie durch Ihre zusätzliche Ausbildung auch in der Gesprächsführung besser geschult?
Ja. Wenn ich als junge Hebamme mit Frauen nach einer Frühgeburt auf die Neonatologie gegangen bin, haben sie sich manchmal kaum getraut, ihr Kind zu berühren. Wenn die Frauen dann weinten, habe ich das nicht richtig einordnen können und habe sie etwas hilflos getröstet. Heute weiß ich, was dahinter steckt, dass das Bonding unterbrochen wurde.
Das Studium hat mir etwas Weltläufiges, Weltoffenes gegeben, ich kann aus dem vollen Reichtum des Wissens schöpfen. Ich scheue keine Situationen: Ich kann mir vorstellen, physiologische Geburten allein zu leiten, auch vor hochkomplexen und schwierigen pathologischen Situationen habe ich keine Angst. Auch nicht vor Verlustsituation oder schwierigen ethischen Gesprächen, beispielsweise Fragen zum Thema Schwangerschaftsabbruch bei Fehlbildungen, zur Ultraschalldiagnostik oder Schwangerenvorsorge mit Migrantinnen. Es ist so ein Reichtum an Leben, den dieses Fach uns vermittelt, für all diese Erfahrungen fühle ich mich jetzt gerüstet.
Sie erwähnten, Ihre Kolleginnen im Kreißsaal waren damals weniger an der Forschung interessiert. Wo konnten Sie sich mit Hebammekolleginnen über wissenschaftlichen Fragen austauschen?
Ich fuhr seit 2001 regelmäßig zu den Hebammenforschungsworkshops nach Fulda, um dort ein Netzwerk von Hebammen zu finden, die anders denken und sich akademisch weiterbilden wollten. Das waren ja alles Pionierinnen – dort fühlte ich mich immer heimisch und es sind viele Kontakte mit Kolleginnen daraus entstanden, die dann alle ihre akademische Laufbahn fortgesetzt haben.
Wir haben uns dort 2001 zum ersten Mal getroffen, als Sie Ihre Masterarbeit vorstellten. Ich war damals von Ihrer Arbeit tief beeindruckt.
Im Masterstudium hatte sich ein glücklicher Zufall ergeben: Eine Kollegin, eine Pflegeexpertinnen aus der Neonatologie, sprach mich an, sie hätten den „Berner Schmerz Score” entwickelt. Er liege jetzt aber in der Schublade, weil er nicht validiert sei. „Wäre das nicht etwas für deine Masterarbeit?”, fragte sie: „Das würde uns sehr helfen, wenn er sich als gutes Instrument erweist und wir ihn verwenden könnten.” Ich fing sofort Feuer. Es war zwar ein Thema aus der Neonatologie und über Schmerz wusste ich damals noch nicht viel. Ich habe mich auch gar nicht gefragt, ob das jetzt spezifische Hebammenforschung sei. Ich fand es interessant, dass ich mich als Hebamme mit dem Schmerz von Frühgeborenen noch nie auseinander gesetzt hatte. So wurde das meine erste wissenschaftliche Arbeit.
Der „Berner Schmerzscore” war das erste deutschsprachige Instrument zur Schmerzerfassung von Neugeborenen, das validiert wurde. Seitdem arbeiten wir in der Schweiz damit. Seit dem Jahr 2001 hat das eine Thema das andere ergeben. Das war mein roter Faden und auch mein Glück für die Habilitation, dass ich nachweisen konnte, dass ich mich seit zwölf Jahren immer mit dem Thema Schmerz von Neugeborenen in seinen unterschiedlichsten Facetten beschäftigt habe. Ich finde, dieses Wissen ist absolut wichtig für Hebammen.
Gibt es eine Schere zwischen der wissenschaftlich arbeitenden Hebammenzunft und der Praxis?
Auf meiner persönlichen Ebene erlebe ich diese Schere nicht mehr. Ich arbeite seit 15 Jahren bei all meinen Forschungen mit einer Pflegeexpertin auf der Neonatologie zusammen. Mir war die Umsetzung der Forschungsergebnisse in der Klinik immer besonders wichtig.
Aber generell denke ich, dass es diese Schere manchmal gibt und das macht mir Sorgen. Das eine ergänzt ja das andere. Die praktisch tätigen Hebammen sollten Interesse daran haben, dass ihre Fragestellungen von den akademisch tätigen Hebammen untersucht werden. Und die akademisch tätigen sollten fragen, was braucht ihr für eine gute geburtshilfliche Versorgung?
Im Moment beobachte ich manchmal eine Konkurrenz, dass die praktisch tätigen die akademisch tätigen Hebammen eher kritisch sehen, als hätten diese das Hauptaugenmerk auf ihrer Karriere – und dass sie nicht so sehr den Gewinn für die Praxis sehen würden. Deshalb ist es gut, wenn akademisch tätige Hebammen mit einem Standbein im klinischen Alltag stehen und versuchen, die Verbindung herzustellen.
Manchmal scheint mir, dass sich Forschungsergebnisse durch die spezialisierte, sperrige akademische Sprache einer normalen praktisch tätigen Hebamme nicht leicht erschließen.
Da muss noch Arbeit geleistet werden, eine gemeinsame Sprache zu sprechen. Als praktisch tätige Hebamme habe ich früher viele Geschichten eins-zu-eins erzählt über das, was ich erlebt hatte. Je mehr du dich bildest, desto abstrakter wird dein Denken und desto abstrakter wird auch dein Erzählen. Hebammen im akademischen Setting reden darum manchmal im Austausch mit praktisch tätigen Kolleginnen aneinander vorbei. Du musst als Akademikerin diesen Geschichten den entsprechenden Stellenwert geben und genau hinhören, dann findet man eine gemeinsame Ebene. Darum würde ich so gerne wieder in der Praxis arbeiten, weil ich aus diesen Geschichten jetzt mehr heraushöre und ganz andere Fragen stelle.
Die Geburtshilfe selbst, das ist für mich das schönste Berufsgebiet, was man haben kann. Es ist das Leben pur. Mit diesem Leben sorgfältig und mit gutem Wissen umzugehen, das war mir immer wichtig.
Danke, liebe Eva Cignacco, für diesen persönlichen Einblick, wie Sie Ihren Weg als Hebamme und Wissenschaftlerin gefunden haben. Gute Wünsche weiterhin!