Mehrmals pro Woche arbeitet die Hebamme Alexandra Duthe ehrenamtlich im Camp Grande-Synthe für die Frauen. Foto: © Jelca Kollatsch

Eine Reportage aus dem Flüchtlingscamp in der nordfranzösischen Hafenstadt Grande-Synthe: MigrantInnen aus Afrika und dem Nahen Osten warten dort auf eine Gelegenheit, um nach Großbritannien weiter zu reisen. Staatliche Hilfen gibt es kaum, denn diese Camps sind unerwünscht. Die Hilfsorganisation „Gynécologie Sans Frontières“ (GSF) ist nach der Räumung des sogenannten „Dschungels“ von Calais in vier Camps aktiv. Die Hebammen von GSF kümmern sich um schwangere Frauen, Mütter und junge Familien.

Hütte 54 ist ihr Zuhause. Ein Spanplattenverschlag, bestehend aus einem Zimmer und einem Vorraum. Eine zwölf Quadratmeter große Holzbox, die zwischen identischen Hütten auf einen grauen Kiesboden gesetzt wurde. Wenn Sherine Omar, deren Name geändert wurde, auf den tragbaren Herdplatten kocht, kann sie den Verkehr auf der Autobahn Richtung Belgien rauschen hören. Die 30-Jährige lebt hier mit ihrem Mann und den beiden Kindern, fünf und sieben Jahre alt.

Seit fünf Monaten wartet die Familie auf eine Gelegenheit, um das Flüchtlingslager in der nordfranzösischen Hafenstadt Grande-Synthe zu verlassen. Ihr Ziel ist Großbritannien. Die Reise wird die kurdische Familie wahrscheinlich zu fünft antreten, denn Omar ist im siebten Monat schwanger. Eigentlich hätte sie deswegen heute einen Termin in Alexandra Duthes Sprechstunde gehabt. Die Hebamme arbeitet ehrenamtlich für „Gynécologie Sans Frontières” (Gynäkologie ohne Grenzen, kurz GSF). Die Hilfsorganisation versorgt die Frauen in den Flüchtlingslagern in der Küstenregion.

Weil Omar nicht in Duthes Sprechstunde kam, stattet die Hebamme ihr einen Besuch in der Hütte ab, mitsamt einer Spritze zur Prophylaxe gegen Rhesusunverträglichkeit und der Übersetzerin Halima Abdulhekim. Die drei Frauen sitzen auf einer geblümten Steppdecke im Kreis. Die Tür ist offen, gedämpft dringen die Rufe der Kinder herein, die vor der Nachbarhütte spielen. Duthe hat eine aufgeschlagene Krankenakte, die leere Spritze und Desinfektionsmittel vor sich liegen. Doch für Omars medizinische Werte interessiert sie sich gerade nicht. Ihr Blick wandert aufmerksam zwischen Abdulkehim und der Schwangeren hin und her, die sich in ruhigem Ton auf Kurdisch unterhalten. „Wir sprechen über das, was dort passiert”, erklät Abdulhekim. Dort, das ist der Nordirak, die gemeinsame Heimat der beiden Kurdinnen. „Darüber, dass ein Lastwagen mit einer Schwangeren und drei Kindern bombardiert wurde. Guck, ich hab‘ Fotos von da.” Die zierliche 48-jährige Übersetzerin mit dem dunklen krausen Pferdeschwanz zieht ihr Handy aus der Tasche und zeigt Bilder, die einen jungen Mann in Kampfausrüstung zeigen. „Das ist mein Neffe. Er ist Peschmerga und kämpft gegen den Islamischen Staat.” „Dein Neffe ist im Krieg?”, fragt Duthe entsetzt.

Illegale Zeltstädte

Vor etwa anderthalb Jahre hat die Hebamme realisiert, wie wenig ihr Land ignorieren kann, dass die Krisen dieser Welt vor europäischen Grenzen nicht haltmachen – und wie sehr der französische Staat es dennoch versucht. Duthe lebt in der Region Hauts-de-France, deren nördlicher Teil zwischen der belgischen Grenze, der Nordsee und dem Ärmelkanal liegt. Wegen der Nähe zu Großbritannien ist der Küstenstreifen seit Jahrzehnten ein Anziehungspunkt für MigrantInnen. Tausende Menschen aus Afrika und dem Nahen Osten harren dort oft monatelang aus, um auf meist illegale Weise den Ärmelkanal zu überqueren. Weil sie meistens kein Asyl in Frankreich wollen, gehen sie nicht in offizielle Auffanglager, wo sie sich registrieren lassen müssten, sondern leben stattdessen in illegalen Zeltstädten. Die humanitäre Lage in den Camps führt immer wieder zu Räumungen. Bekanntestes Symbol der Dauerkrise war der „Dschungel” von Calais – das Lager mit seinen zuletzt mindestens 6.000 EinwohnerInnen wurde im Oktober von den Behörden evakuiert und zerstört.

Alexandra Duthe kam im Sommer 2015 zum ersten Mal in eines der Flüchtlingslager. Die Hebamme arbeitet ehrenamtlich für die Feuerwehr. Die Rettungshelfer wurden damals zu einem Notfall ins Camp in Norrent-Fontes gerufen, einem kleinen Ort etwa 70 Kilometer von der Küste entfernt. „Die Lebensbedingungen haben mich schockiert”, so Duthe. „Die Menschen lebten in Zelten im Schlamm. Es gab kein fließendes Wasser, nur Wannen, wie für Kühe.” Unter den etwa 200 BewohnerInnen waren viele Frauen aus Nordostafrika, einige waren schwanger. Eine Möglichkeit, ins nächste Krankenhaus zu kommen, gab es nicht. Nur ein Allgemeinarzt, der ehrenamtlich seine Dienste anbot, kam zwei Mal in der Woche vorbei, schildert die 36-Jährige. „Ich wollte einer Frau, die kurz vor der Geburt stand, Blut abnehmen. Sie war noch nie untersucht worden.” Andere Helfer brachten die Hebamme zu einer Schwangeren, die einen Abbruch wollte und nicht wusste, an wen sie sie sich wenden sollte. „Da habe ich gedacht, alleine kann ich nicht viel ausrichten.”

Duthe beschloss, GSF zu kontaktieren, für die sie damals schon ehrenamtlich arbeitete. Im Auftrag der Hilfsorganisation klapperte sie auch die anderen Camps ab und befragte die HelferInnen vor Ort nach der Anzahl und den Bedürfnissen der Frauen in den Lagern. „Die haben da erst gemerkt, dass es gar keine Hilfsangebote für Frauen gibt.”

Das neue Lager von Grande-Synthe: Die Nachbarstadt von Calais hat es zusammen mit „Ärzte ohne Grenzen“ in Anlehnung an UN-Lager errichtet.

Ein Vorzeigeprojekt

Im November 2015 begann die Hilfsmission. Für GSF ist es der erste Einsatz im eigenen Land und zugleich der bisher schwerste. Für Auslandsmissionen wie etwa im jordanischen Zaatari hätten sie 300.000 Euro vom Außenministerium bekommen, so GSF-Vizepräsident Richard Matis. Für den Einsatz in Frankreich gab es zunächst keinen Cent vom Staat. Die Hilfsmission seitens GSF wird fast ausschließlich von Privatspenden getragen. Die Finanzierung ist wacklig. Matis rechnet regelmäßig damit, dass der Einsatz in ein paar Monaten eingestellt werden muss. Doch bisher kamen immer wieder ausreichend Spenden zusammen. Auf öffentliche Gelder für die Arbeit von GSF hofft der Gynäkologe schon nicht mehr. Die Politik gehe davon aus, dass die Flüchtlinge wieder verschwinden würden, wenn man ungünstige Bedingungen schaffe, so Matis. „Das ist idiotisch. Die Menschen sind seit Jahren hier. Dass man sie im Schlamm leben lässt, hat daran bisher auch nichts geändert.”

GSF ist nach der Räumung des „Dschungels” von Calais noch in vier Camps aktiv. Das größte ist die Hüttenstadt in Grande-Synthe. Bei deren Errichtung lebten dort laut Stadtverwaltung etwa 1.300 Menschen, zwischendurch waren es nur etwa 600. Eigentlich sollte das Lager mit der Weiterreise der BewohnerInnen nach Großbritannien nach und nach geschlossen werden. Doch nach der Räumung des „Dschungels” sei die Bewohnerzahl wieder auf mehr als 1.000 angestiegen, so Matis. Die Menschen, die dort leben, sind hauptsächlich Kurden. Etwa 15 Prozent sind Frauen.

Die Finanzierung des Flüchtlingslagers in Grande-Synthe
Der französische Staat hat die Finanzierung des Lagers in Grande-Synthe übernommen. Errichtet wurde es von den Städten Grande-Synthe, Dunkerque und der Hilfsorganisation „Ärzte ohne Grenzen”. Die Hilfsorganisation Gynécologie Sans Frontières (GSF) ist vor Ort präsent, sie ist allerdings nicht Trägerin des Lagers. GSF trägt die Kosten für die Wohnung, in der die Freiwilligen, die von weiter her kommen, wohnen. Außerdem übernimmt sie die Ausgaben für Fahrzeuge, Medikamente, medizinische Utensilien und anderes mehr.

Das Lager Grande-Synthe ist ein Vorzeigeprojekt: Die Hütten sind beheizbar. Es bietet eine Infrastruktur mit Toiletten, Duschen, Waschmaschinen, Gemeinschaftsräumen und Sprachkursen. Die Flüchtlinge können hier wohnen, ohne sich registrieren zu lassen. Gebaut wurde das Camp auf Initiative der Stadt Grande-Synthe und der Hilfsorganisation „Ärzte ohne Grenzen”, denn die Zustände im ursprünglichen wilden Lager waren laut Stadtverwaltung im vergangenen Winter unhaltbar geworden. Es wurde damals nur „Camp der Schande” genannt, erzählt Duthe: Schleuserbanden verriegelten die Dusch- und Toilettenkabinen mit Vorhängeschlössern und zwangen die Flüchtlinge zum Bezahlen. Die MigrantInnen flickten ihre Zelte, die bei Wintertemperaturen im Schlamm standen, notdürftig mit Pflastern.

Die Stadt hatte das Innenministerium vergeblich um Unterstützung für den Bau gebeten, die Kosten wurden schließlich von „Ärzte ohne Grenzen”, der Stadt Grande-Synthe sowie der Nachbarstadt Dunkerque gestemmt. Doch drei Monate nach Eröffnung des Lagers übernahm der Staat die laufenden Kosten. Für Duthe ein Beweis dafür, dass eine andere Flüchtlingspolitik möglich ist. Grande-Synthe bleibt aber eine Ausnahme. In den anderen kleineren Lagern, in denen GSF aktiv ist, leben die Menschen weiterhin in Zelten. Die Camps liegen in den kleinen Orten Angres, Norrent-Fontes und Steenvorde im Landesinneren.

Den Zugang bekommen

GSF hat die Arbeit in den Lagern unterschiedlich organisiert: In Grande-Synthe hat die Organisation ein Sprechzimmer, in dem sie kleinere medizinische Behandlungen durchführt. Dort ist von Montag bis Samstag jeweils ein Team aus zwei Freiwilligen im Einsatz, die aus der Region stammen und regelmäßig ein bis zwei Tage pro Woche übernehmen. Für die anderen Lager sind zwei Zweierteams zuständig, die jeweils zwei Wochen lang für GSF arbeiten und meist von weiter her anreisen. Sie klappern die illegalen Camps mit einem ehemaligen Krankenwagen ab, in dem sie kleinere Untersuchungen vornehmen können.

Zu den Frauen, die nach der Räumung des „Dschungels” in Flüchtlingscamps in andere Regionen in Frankreich gebracht wurden, hält die Organisation telefonisch Kontakt. „Wir versuchen, eine Hebamme oder Gynäkologin vor Ort zu finden, die sich um sie kümmern kann”, so Matis. Denn die Frauen seien dort von neuem isoliert, eine spezielle Betreuung gebe es für sie nicht. Alle Einsatzkräfte arbeiten ehrenamtlich. 70 Prozent sind Hebammen, 30 Prozent Gynäkologinnen. Fast alle sind Frauen.

Dadurch sei es leichter für die Organisation, Zugang zu den Migrantinnen zu bekommen, erklärt Duthe – dennoch müssten sich die Helferinnen immer wieder um deren Vertrauen bemühen. In Situationen, wie beim Besuch bei Sherine Omar in Hütte 54 in Grande-Synthe, ist das relativ einfach, da Halima Abdulhekim dabei ist. Die Kurdin kann nicht nur übersetzen, sondern auch kulturelle Brücken bauen: Sie floh vor 30 Jahren aus dem Nordirak und erlitt damit das gleiche Schicksal, das Omar und ihre Familie heute durchmachen. Die Frauen und vor allem ihre Männer sind dadurch weniger ängstlich oder misstrauisch gegenüber den Fremden, deren Sprache sie nicht sprechen und die Behandlungen durchführen wollen, die die Migrantinnen zum Teil nicht kennen. Oft sind die französischen Hebammen aber auch auf sich allein gestellt und müssen mit Englisch sowie mit Händen und Füßen zurechtkommen.

Kleine Erfolge

Ihr Rezept gegen die Verständigungsschwierigkeiten ist Hartnäckigkeit. „Auf Beutetour gehen” nennen sie es, wenn sie mit ihren GSF-Westen die Runde über das Gelände machen. Duthe ist heute zusammen mit ihrer Kollegin Pascale Robiquet in Grande-Synthe unterwegs. Die Frauen steuern auf eine Reihe von Hütten zu, unter ihren Füßen knirscht der graue Kies. Familien sitzen vor den Eingängen. Aus Gittern, Holzpappe oder Plastikplanen haben sie sich Vorhöfe gebaut. An den Wäscheleinen trocknen Bettlaken und Kinderhosen. Robiquet und Duthe bleiben stehen, als ihnen ein junges Paar entgegenkommt. Die Frau ist schwanger. „Wir sind Hebammen”, sagt Duthe auf Englisch. Der Mann guckt misstrauisch. Er und seine Frau unterhalten sich auf Kurdisch. Die Schwangere habe eigentlich jetzt gerade einen Termin mit den Hebammen, sagt ihr Mann auf Englisch. „Ach, Sie sind das”, ruft Robiquet aus. „Wir müssen einen Bluttest machen und dafür ins Krankenhaus. Kann sie mit?” Der Kurde diskutiert wieder mit seiner Frau und einem weiteren Paar, das hinzugekommen ist. Schließlich nickt er: „Okay.” In ein paar Minuten sei die Schwangere fertig.

Ein kleiner Erfolg für die Helferinnen. Die Kurdin ist im sechsten Monat schwanger. Die Hebammen haben sie seit zwei Wochen nicht mehr im Camp gesehen, erzählt Robiquet. „Das ist oft so. Die Schwangerschaft hat bei den Frauen nicht Priorität. Für sie ist es das Wichtigste, hier weg zu kommen.” Nachts suchten die Flüchtlinge nach Lastwagen, mit denen sie nach Großbritannien übersetzen wollen, so die Hebamme. „Tagsüber schlafen sie.”

Dazu kommen viele weitere Gründe, die den Kontakt schwierig machen: Die Migrantinnen können nicht unabhängig von ihrem Mann entscheiden. Sie können nicht einfach die Sprechstunde besuchen oder ins Krankenhaus mitkommen, weil sie auf die Kinder aufpassen müssen. Sie sind misstrauisch gegenüber Menschen, die sie dazu bringen wollen, ihre Unterkunft oder das Lager zu verlassen, denn im Laufe ihrer Flucht wurden sie mitunter mehrfach von der Polizei abtransportiert. „Wir sind froh, wenn wir die Frauen wiederfinden”, sagt Robiquet. Denn die Organisation verfolgt mit ihrer Arbeit ein klares Ziel: „Wir wollen, dass die Migrantinnen die gleiche Behandlung bekommen wie französische Frauen auch”, erklärt Duthe.

Das ist möglich, weil Standardbehandlungen für Bedürftige in französischen Krankenhäusern kostenlos sind. Auf sich allein gestellt, würden die meisten Frauen den Weg jedoch nicht machen, so Duthe. Deswegen fahren die Helferinnen die Migrantinnen zu den regelmäßigen Blutabnahmen im Rahmen der Schwangerschaftsvorsorge. Sie organisieren Vorgespräche für die Geburt, vereinbaren Impftermine für Neugeborene, holen Spritzen wie die für Sherine Omar in Hütte 54 ab. Zudem legen sie eine Schwangerschaftsakte an, die die Migrantinnen auf ihrer weiteren Flucht mitnehmen können.

Frauen, die ihr Kind nicht behalten wollen, beraten die Hebammen auf dem Weg zur Abtreibung und vermitteln sie ins Krankenhaus. Immer wieder treffen die Helferinnen auch auf Frauen, die missbraucht wurden oder sich auf ihrer Flucht prostituieren mussten. Diese begleiten sie ins Krankenhaus, um sie zum Beispiel auf Geschlechtskrankheiten untersuchen zu lassen. GSF erledigt all diese Aufgaben mit Bedacht nicht selbst, sondern sorgt dafür, dass die Frauen die kostenlose Behandlung bekommen, die ihnen zusteht. „Wir erinnern den Staat an seine Verantwortung”, sagt Duthe.

Die Hebamme Elisabeth Baineux behandelt eine 20-Jährige, die auf der Flucht eine Fehlgeburt hatte. Foto: © Jelca Kollatsch

Zurück zur ursprünglichen Hebammenarbeit

15 Monate nach Beginn der Mission ist die Arbeit für die Hebammen leichter geworden. Die Migrantinnen erkennen die Helferinnen, sprechen sie auch von sich aus an oder kommen in die Sprechstunde. Das zeigen auch die Zahlen: Zu Beginn der Mission führte GSF in allen Camps etwa 60 Behandlungen durch, im vergangenen Sommer waren es mehr als 200. Seit der Räumung des „Dschungels” sind es mehr als 500. Auch missbrauchte Frauen schöpfen inzwischen Vertrauen zu den Helferinnen und bitten sie um Hilfe. Für Alexandra Duthe ist das der schönste Lohn für ihr Engagement: „Die Frauen sind völlig isoliert. Ich freue mich, wenn ich für sie eine Vertrauensperson sein kann. Wenn die Frauen uns wiedererkennen, anlächeln und auf uns zugehen: Was braucht man mehr?”, sagt die 37-Jährige, die neben dem Schichtdienst im Krankenhaus in Grande-Synthe als Freiwillige arbeitet und zudem als Koordinatorin für die Hilfsmission für die Freiwilligen telefonisch erreichbar ist.

„Die Arbeit hier ist völlig anders als das, was man als Hebamme im Krankenhaus macht”, sagt Pascale Robiquet. Die 56-jährige Frührentnerin hat ihre Stelle in einer Klinik aufgeben, weil sie dort fast nur noch Verwaltungsaufgaben erledigt habe, und widmet sich jetzt ganz der Freiwilligenarbeit. Das Wichtigste dabei sei der Aufbau einer persönlichen Beziehung. Robiquet sagt: „An manchen Tagen haben wir gar nicht viel gemacht, außer mit den Frauen gesprochen.”

Auch Elisabeth Baineux hat ihren Brotjob in der Krankenhausverwaltung aufgegeben und ist mit der Arbeit bei GSF wieder zur „ursprünglichen” Hebammenarbeit zurückgekehrt, wie sie sagt. Gerade hat die 54-Jährige im kleinen Behandlungszimmer in Grande-Synthe Halina Duran (Name geändert) behandelt, die mit ihrer kleinen Tochter vorbeigekommen ist, weil das Verhütungsimplantat im Oberarm ein paar Tage nach dem Einsetzten noch juckte. Die Hebamme hat der jungen Kurdin eine Babytrage, eine Decke und Spielzeug für ihr Neugeborenes mitgegeben.

Viele Bedrohungen für Frauen

Die meisten der Patientinnen wirken resolut. Sie kommen oft mit alltäglichen Beschwerden in die Sprechstunde und scherzen mit den Hebammen. „Die Frauen sind stark, aber es gibt auch Momente, in denen die Verzweiflung hoch kommt”, sagt Baineux. Etwa, wenn die Migrantinnen berichten, dass sie ihre Kinder zu Hause zurücklassen mussten oder auf der Flucht verloren haben, dass sie in den von Männern dominierten Camps auf sich alleine gestellt sind, Gewalt und Krieg erlebt haben. Meistens stimme sie die Dankbarkeit der Frauen positiv, so Baineux. „Aber es gibt auch schwere Momente, wenn sie in meinen Armen zu weinen beginnen.” Zweimal sei ihr das bisher passiert. „Einmal habe ich einer Frau gesagt, dass sie wahrscheinlich schwanger ist, und man hat gemerkt, wie bei ihr auf einmal alles zusammenbricht.”

Auf ihrer Flucht und im Lager seien die Frauen vielen Bedrohungen ausgesetzt, erklärt Alexandra Duthe: häuslicher oder sexueller Gewalt, psychischen Misshandlungen oder dem Vorgehen der Polizei, die die Zelte in den kleineren Camps immer wieder zerstöre. Um diesen Frauen besser helfen zu können, hat GSF die Mission in den vergangenen Monaten weiterentwickelt. Die Hilfsorganisation arbeitet mit einer Frauenberatungsorganisation zusammen, die sich um Opfer von häuslicher und sexueller Gewalt kümmert, und sorgt dafür, dass betroffene Frauen gerichtsmedizinisch untersucht werden. Mehrere Migrantinnen hätten bereits Anzeige erstattet, so Duthe. Zudem hat die Organisation in der Region eine Notunterkunft errichtet, in der missbrauchte und traumatisierte Frauen und ihre Kinder für ein paar Tage Unterschlupf finden können. Seit Februar sind GSF-Helferinnen auch in Flüchtlingscamps in Paris aktiv.

In Grande-Synthe ist GSF mittlerweile die einzige Hilfsorganisation, die noch die Stellung hält. „Ärzte ohne Grenzen” hat das Camp verlassen, weil sie nicht länger die Aufgaben erledigen wollen, die der Staat ihrer Meinung nach übernehmen sollte. GSF sieht sich gezwungen zu bleiben: „Wenn wir uns nicht um die Frauen kümmern”, sagt Duthe, „dann macht es niemand.”

Das CTG ist dem kleinen Jungen zu langweilig. Die Hebamme Léa Burel spielt mit ihm. Foto: © Jelca Kollatsch

Die Hebammen kommen häufig bei Halima Omar (Name geändert) zur Nachsorge vorbei und haben sie mit dem Nötigsten ausgestattet. Foto: © Jelca Kollatsch

Vorgestellt

Gynécologie Sans Frontières (GSF) ist eine kleine Hilfsorganisation mit rund 400 Mitgliedern. Sie wurde 1995 gegründet, existiert nur in Frankreich und hat keine gemeinsamen Strukturen mit „Ärzte ohne Grenzen” (Médecins Sans Frontières, MSF). Ziel der Arbeit von GSF ist es, Frauen medizinisch, psychologisch und sozial zu unterstützen. Sie will die Sichtbarkeit von Frauen zu erhöhen, da diese als Opfer oft unsichtbar seien, obwohl sie für die Entwicklung ihrer Länder oft eine zentrale Rolle spielten. Die Hilfsmissionen führen die Organisation normalerweise ins Ausland, in Krisen- und Entwicklungsländer wie Kosovo, Burundi, Kongo oder Afghanistan. Dort hat GSF an Einsätzen teilgenommen, bei denen auch andere, größere Hilfsorganisationen wie MSF beteiligt waren. In Frankreich hatte die Organisation vor dem Einsatz in den Flüchtlingslagern in Grande-Synthe und Umgebung nur Aufklärungsarbeit über genitale Beschneidung oder Gewalt gegen Frauen geleistet. GSF sucht aktuell Freiwillige und nimmt Spenden entgegen. Nähere Informationen und eine Dia-Show zum Projekt auf der Homepage: http://gynsf.org/.

Die Fotografin

Jelca Kollatsch studierte Fotojournalismus an der Hochschule Hannover. Ihre Arbeiten konzentrieren sich auf soziale und politische Situationen unserer Zeit. Für ihren Essay über den Widerstand gegen die Auswirkungen der Krise in Andalusien wurde sie 2015 mit dem CNN Journalist Award der Kategorie Foto ausgezeichnet.
www.kollatsch.com

Zitiervorlage
Küter C: Hebammenarbeit in einer nordfranzösischen Flüchtlingsunterkunft: Kulturelle Brücken. DEUTSCHE HEBAMMEN ZEITSCHRIFT 2017. 69 (4): 82–86
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