Blick von oben in die weitläufige Halle im Landgericht Bochum – Ebenen, Treppen, gläserne Fahrstühle Zeichnung: © Nikolaus Baumgarten

Am dritten Verhandlungstag, dem 14. August, tritt vormittags als zweite Sachverständige die gynäkologische Hauptgutachterin Dr. Christiane Nübel auf. Sie ist Chefärztin für Frauenheilkunde und Geburtshilfe am St. Johannisstift Paderborn. Schon häufiger sei sie Gutachterin gewesen, allerdings noch nicht in einem Strafprozess, schickt sie voraus. Der Vorsitzende Richter Josef Große Feldhaus erläutert, im Strafprozess würden Gutachten in der Hauptverhandlung mündlich so verwertet, dass auch medizinische Laien sie verstehen. Die Frauenärztin beginnt, ihr Gutachten vom 15. August 2022 zum Todesfall der Mutter vorzutragen.

Der Fall und die Vorgeschichte
Am 1. September 2023 wurde am Landgericht Bochum der Strafprozess gegen eine 60-jährige freiberufliche Hebamme wegen fahrlässiger Tötung am fünften Verhandlungstag überraschend eingestellt – gegen die Zahlung von 12.000 Euro an den Bochumer Kinderschutzbund. Die Staatsanwaltschaft hatte der Hebamme zur Last gelegt, verantwortlich für den Tod einer Mutter zu sein. Die 45-jährige Zweitpara hatte am 10. September 2020 um 6.24 Uhr bei einer zunächst physiologisch verlaufenen Hausgeburt ihren gesunden Sohn zur Welt gebracht. Später bekam sie zunehmende Kreislaufprobleme, die sich dramatisch ausweiteten bis hin zu einem Herzstillstand. Um 7.39 Uhr war der Rettungsdienst eingetroffen und sie war unter Reanimation in die Klinik verlegt worden. Dort wurde die Plazenta manuell gelöst.

Die frisch Entbundene hatte dann am Vormittag massive atonische Nachblutungen mit Gerinnungsstörungen entwickelt, die auch mit einer Hysterektomie nicht zu beherrschen gewesen waren. Etwa 20 Stunden nach der Geburt war sie an einem Multiorganversagen gestorben.

Am 7. August 2023 wurde die Hauptverhandlung eröffnet. Am ersten Verhandlungstag sagten als Zeuginnen die Witwe der verstorbenen Mutter sowie eine Freundin aus, die bei der Geburt dabei gewesen waren. Beide sind ausgebildete Notärztinnen und beriefen sich darauf, nur in der privaten Rolle anwesend gewesen zu sein. Als sich die Kreislaufsituation der Mutter zuspitzte, hatten sie die Wiederbelebungsmaßnahmen übernommen. Die Ehefrau hatte schließlich auch den Notarzt gerufen, was die Mutter lange Zeit abgelehnt und auch die Hebamme zunächst nicht für nötig gehalten hatte. Die Mutter hatte nach einer traumatischen Erstgeburt in der Klinik unter allen Umständen ihr zweites Kind zu Hause zur Welt bringen wollen. Zwei Kriminalbeamtinnen schilderten am zweiten Verhandlungstag, dass die Ärzt:innen im Krankenhaus zunächst von einem schicksalhaften Geschehen mit natürlicher Todesursache ausgegangen seien. Erst nach Intervention der Witwe hätten sie im Totenschein »unklare Todesursache« angekreuzt.

Die Videoaufzeichnung der polizeilichen Vernehmung der Hebamme vom 8. November 2022 wurde im Gerichtssaal vorgeführt. Darin wurde sie von den Kriminalbeamtinnen offensiv befragt, ob sie den Blutverlust nach der Geburt nicht unterschätzt hätte. Die Hebamme wies das zurück und stand zu ihren Entscheidungen.

Am dritten Verhandlungstag erstattete die Pathologin Prof. Dr. Andrea Tannapfel ihr Gutachten. Sie erläuterte die Untersuchungsbefunde der Placenta accreta und des Uterus, die sie nicht beunruhigt und deren Zustand nicht zwingend zur Nachblutung geführt hätten.

Unstimmigkeiten beim Gewicht

Zunächst schildert sie die Eckpunkte der Schwangerschaft und der Hausgeburt. Der Vorsitzende wirft zwischendurch ein: »Die Angabe zum Gewicht der Verstorbenen hat sich inzwischen relativiert.« Bei einer Größe von 168 cm habe ihre behandelnde Frauenärztin das Ausgangsgewicht von 70 kg, wie es im Mutterpass dokumentiert sei, »für nichts Besonderes« gehalten, 24,8 sei kein erhöhter BMI. In der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft hatte es zu Beginn der Hauptverhandlung noch geheißen, die Schwangere sei von adipöser Statur gewesen, was als Risikofaktor für eine Hausgeburt der Hebamme zur Last gelegt worden war. Nübel hatte in ihrem Gutachten, das der Anklageschrift des Staatsanwalts zugrunde gelegen hatte, ein Gewicht von 100 kg und eine unzutreffende Körpergröße von 173 cm angenommen mit einen BMI von 33,4. Im Mutterpass der Frau war dieses Gewicht nirgends dokumentiert.

Die Sachverständige entgegnet: »Ich hatte das Körpergewicht von 100 kg dem Obduktionsbericht entnommen«, ein BMI von 25 sei tatsächlich völlig normal. 76 kg sei die letzte dokumentierte Gewichtsangabe in der 32. Schwangerschaftswoche gewesen, bis zum Ende der Schwangerschaft sei es vermutlich noch etwas angestiegen. Offensichtlich hatte die Sachverständige ihr schriftliches Gutachten für die Staatsanwaltschaft erstellt, ohne den Mutterpass einzubeziehen, denn der wurde dem Gericht erst zum Auftakt des Prozesses von der Witwe überreicht.

Es habe hier ein Zustand nach Vakuumextraktion bei der ersten Geburt 2017 bestanden, mit anschließender schwerer postpartaler Blutung und einem Abfall des Hb-Wertes auf 6,4 g/dl. Infolge »Übertragung« sei die Geburt seinerzeit eingeleitet worden, wegen der Blutung dann eine manuelle Plazentalösung vorgenommen worden, anschließend eine Ausschabung.

Unter Reanimation in die Klinik

Bei der zweiten Geburt am 10. September 2020 sei um 6.24 Uhr ein Junge mit einem Gewicht von 4.220 zur Welt gekommen, Apgar 10/10/10, nach einer »rechnerischen Übertragung von elf Tagen«, wie die Frauenärztin die Terminüberschreitung bezeichnet. In der weiteren postpartalen Phase sei die Entbundene kollaptisch und reanimationspflichtig geworden und schließlich vom verständigten Notarzt intubiert worden. Um 8.20 Uhr sei sie in die Notaufnahme des St. Elisabeth-Krankenhaus Bochum eingeliefert worden. Der Hb-Wert habe bei Aufnahme bei 5,8 g/dl gelegen, der pH-Wert im nicht messbaren Bereich. Erst um 9.48 Uhr habe der pH-Wert der Mutter mit 6,8 erstmals nachgewiesen werden können, was deutlich zu niedrig sei.

Der hinzugerufene Gynäkologe habe um 8.40 Uhr die Plazenta manuell gelöst. Zu dem Zeitpunkt habe sich keine verstärkte Blutung gezeigt, die Patientin habe Oxytocin als Uterotonikum erhalten. Die Patientin sei jedoch weiterhin in einem kritischen Zustand gewesen mit schwerster Blutungsanämie, trotz der Gabe von Blutersatzprodukten – der Hb-Wert habe inzwischen sogar bei 5,6 g/dl gelegen. Auch Gerinnungsstörungen seien diagnostiziert worden.

Um 10.48 Uhr sei der Uterus kürettiert und ein Bakri-Katheter eingelegt worden bei fortbestehender Uterusatonie. Um 11.43 Uhr sei bei immer noch fortbestehender Blutung schließlich die Gebärmutter mit Bauchschnitt entfernt worden.

Nachmittags sei die Patientin zur weiteren intensivmedizinischen Versorgung ins St. Josef-Hospital Bochum verlegt worden. Hier wurde der Bauch der Patientin aufgrund eines akuten Abdomens erneut per Längsschnitt eröffnet. Zwei Stunden später sei die Operation wiederholt worden. Es sei ein Kompartmentsyndrom des Darmes diagnostiziert worden, »aufgrund diffuser intraabdominaler und retroperitonealer Blutungen bei disseminerter intravasaler Gerinnung«. Bei einer solchen Komplikation sei »der Darm nicht ausreichend durchblutet« und werde schließlich »schwarz«. Die lebenserhaltenden Maßnahmen seien daraufhin eingestellt worden. Am 11. September 2020 sei die Patientin um 3.23 Uhr verstorben.

Bei der Obduktion hätten sich ausgeprägte Schockzeichen mit Einblutungen in multiple Organe gezeigt, ein Lungenödem sowie ein Kompartmentsyndrom des Darmes. Histologisch hätten sich keine Zeichen einer Fruchtwasserembolie gezeigt, hingegen Zeichen einer eitrigen Entzündung der Atemwege.

Über Risiken aufgeklärt

Nübel fasst die Vorgeschichte zusammen: Die verstorbene Mutter »wünschte aufgrund der ersten Geburt unbedingt eine Hausgeburt«. Die Erstgeburt sei damals »nachvollziehbar dramatisch« verlaufen durch eine Placenta accreta, eine Komplikation, bei der der Mutterkuchen mit der Gebärmutterwand verwachsen gewesen sei. Die betreuende Gynäkologin und auch die Hebamme hätten nach Aussage der Ehefrau »über die Risiken aufgeklärt bis hin zum Tod durch Verbluten«. Die Schwangere habe dann ihre Gynäkologin nach dem 30. Juni nicht mehr aufgesucht. Obwohl das Kind zu groß gewesen sei, habe es keine weitere Kontrolle bei der Ärztin gegeben.

Es hätten »erhebliche Risikofaktoren« vorgelegen, die laut Nübel »eine Hausgeburt nicht sinnvoll erscheinen« ließen, darunter Risikofaktoren »für einen verlängerten Geburtsverlauf, für eine Uterusatonie und auch für eine Fruchtwasserembolie«.

Erstens sei die Patientin »mit 45 Jahren in einem deutlich fortgeschrittenen Alter für eine Gebärende« gewesen mit einen erhöhten Risiko für Hypertonie, HELLP-Syndrom, schwangerschaftsbedingten Diabetes, akutes Herzversagen, Nierenversagen sowie Plazentationsstörungen.

Zweitens habe ein Risiko für einen Blutverlust bestanden. Die Komplikationen der ersten Geburt führten zu einem Wiederholungsrisiko von 20 bis 30 % für eine erneute Atonie.

Drittens sei die Schwangerschaft durch Embryotranfer nach Eizell- und Samenspende als Risikoschwangerschaft einzuordnen. Das Risiko für eine Präeklampsie sei erhöht, peripartale Blutungen seien häufiger, die Wahrscheinlichkeit einer Sectio sei doppelt so hoch.

Viertens trete ein zu hohes kindliches Geburtsgewicht häufiger auf, das in der Regel vor der Geburt durch Ultraschalluntersuchungen erkannt würde. Die Sachverständige ergänzt: »Auch hierdurch ist das Risiko einer Uterusatonie erhöht.«

Gemeinsam entscheiden

»Eine Hausgeburt unterliegt dem Kriterienkatalog des Bundes freiberuflicher Hebammen Deutschlands, des BfHD, in der aktuellen Fassung vom 1. April 2020«, fährt Nübel fort. Danach sei abzuschätzen gewesen, ob eine Hausgeburt möglich sei. Ein hoher Blutverlust bei der ersten Geburt sei demnach kein Ausschlusskriterium per se – hier hätte es ein »Shared Decision Making« gemeinsam mit der Ärztin und der Hebamme geben sollen »mit einer speziellen Risikoaufklärung«. In diesem Fall zu den vorliegenden Risikofaktoren »hoher postpartaler Blutverlust bei vorangegangener Schwangerschaft«, »Zustand nach manueller Lösungsstörung der Plazenta« und »Verdacht auf fetale Makrosomie mit Gewicht über der 95. Perzentile.« Der letzte Punkt zum angeblichen Risiko verwundert, denn am zweiten Verhandlungstag hatte eine Gynäkologin ausgesagt, die die Schwangere zur Abklärung des Geburtsgewichts aufgesucht hatte. Sie hatte das Gewicht des Ungeborenen laut ihrer Ultraschalluntersuchung auf der 70. Perzentilen als »völlig okay« beurteilt. Gutachterin Nübel fährt zur Risikoaufklärung fort: »Die jeweilige Entscheidung muss zwischen der Hebamme und der Schwangeren dokumentiert und von beiden Seiten unterschrieben werden.«

»Mir liegen keine Unterlagen zur Risikoaufklärung vor«, beanstandet die Gynäkologin. »Die Angaben auf der Karteikarte der Hebamme waren extrem gering, für das, was gewesen ist.« Es habe keine Absprachen mit der Ärztin gegeben. Der Vorsitzende wirft ein, dass die beiden Frauenärztinnen, die der Schwangeren von einer Hausgeburt abgeraten hätten, ihre Unterlagen unterdessen dem Gericht überreicht hätten: »Die würde ich Ihnen gerne zur Kenntnis bringen.« Er erläutert: »Ein Strafprozess ist ein fließendes Gebilde.«

Er fragt die Gutachterin nach Leitlinien. »Die gibt es, aber die sind zu weich«, meint sie. »Man muss sich daran nicht halten.« Es solle einen Vordruck geben, einen Risikokatalog für Geburtshäuser, aber sie habe kein Äquivalent für Hausgeburten gefunden.

Der Vorsitzende fragt nach den Risiken durch den Embryonentransfer. »Ob das hier eine Rolle gespielt hat, kann ich nicht sagen«, so die Gynäkologin. Große Feldhaus fragt weiter nach den Risiken »bei einer Übertragung von zehn oder elf Tagen«. »Das Ausschlusskriterium gilt ab 14 Tagen, beim errechneten Termin schwimmen die Grenzen«, erläutert Nübel.

Nach den Zwischenfragen fährt die Gutachterin fort: »Der Verlauf der Geburt und der postpartale Verlauf können nur anhand der erst sekundär entstandenen Angaben auf der Karteikarte der Hebamme und der Aussagen der Ehefrau beurteilt werden.« Der Verlauf bis zur Geburt sei unauffällig gewesen.

Aktives Management der Plazentageburt

Postpartal werde bei Risikofaktoren empfohlen, »eine aktive Plazentarperiode durchzuführen« und großzügig Medikamente zu geben, um »die Lösung der Plazenta zu beschleunigen« und »einer Uterusatonie vorzubeugen«. Diese trete in 2 bis 8 % aller Geburten auf, vor allem bei »Überdehnung der Uterusmuskulatur bei großem Kind«, »protrahierten Geburtsverläufen« und »Zustand nach Uterusatonien«. »Die typischen Symptome sind unmittelbar postpartal einsetzende kontinuierliche oder intermittierende schwallartige Blutungen«, erläutert Nübel den Richtern eine Atonie. Es gebe in den Aufzeichnungen der Hebamme keine Angaben zu Hilfsmaßnahmen oder zur Kontrolle des Fundus der Gebärmutter.

Als die Mutter um 6.43 Uhr aufgefordert worden sei, den Pool zu verlassen, sei die Plazenta noch in utero gewesen, das Kind noch nicht abgenabelt. »Ein mitgeliefertes Foto von 6.39 Uhr zeigt eine deutliche Rotfärbung des Wassers im Pool, so dass von einer stärkeren Lösungsblutung oder atonischen Blutung ausgegangen werden muss«, urteilt die Gutachterin. Die Patientin habe da schon Symptome einer Hypotonie aufgewiesen, Fotos von 6.43 Uhr zeigten sie mit blassem Hautkolorit und blassen Lippen. Angaben in der Dokumentation über eine Blutung gebe es nicht, ebenso wenig über eine Blutdruckmessung, zum Fundusstand oder zu Lösungszeichen.

»Erstmals wird um 7.05 Uhr ein Blutdruckwert von 100/60 mm/Hg angegeben.« Er sei niedrig und auffällig gewesen, schildert sie. Im Mutterpass war der Blutdruck allerdings über die ganze Schwangerschaft hinweg in diesem Bereich dokumentiert worden. Nübel fährt fort: »Erst um 7.10 Uhr wird ein intravenöser Zugang gelegt und eine Infusion mit Jonosteril zur Kreislaufunterstützung angehängt.« Sie schätzte das als zu spät ein.

Um 7.15 Uhr sei die Mutter nach Angaben der Hebamme »schockig« geworden, mit Kaltschweißigkeit, Blässe, Bewusstseinstrübung und Agitiertheit. Die Gutachterin geht hier schon von einem Blutverlust vom 1.000 ml aus. »Sie beginnt mit der kardiopulmonalen Reanimation«, schildert Nübel den Einsatz der Hebamme. Dann fährt sie fort: »Das Kind wird erst um 7.15 Uhr abgenabelt, der Uterus wird zu diesem Zeitpunkt als gut kontrahiert beschrieben.« Zehn Minuten später sei die Plazenta noch nicht gelöst gewesen. »Die Patientin erhält jetzt erstmals Cytotec rektal zwei Tabletten sowie oral eine Tablette«. Der Blutverlust sei um 7.28 Uhr in der Dokumentation mit weniger als 500 ml beschrieben worden. »Diese Angabe erscheint mir allerdings als viel zu gering, da bereits im Pool eine deutliche Blutung stattgefunden haben muss.« Die Mutter sei weiterhin von der Ehefrau und ihrer Freundin kardiopulmonal reanimiert worden. »Erst um 7.32 Uhr erfolgt der Notruf der Feuerwehr.« Die Gutachterin beendet die Zusammenfassung der dramatischen Entwicklung mit der Bemerkung: »Damit vergehen 50 Minuten nach der Geburt, in denen keine adäquate Therapie zur Verhinderung einer postpartalen Hämorrhagie erfolgt.«

Der Ablauf der Nachgeburtsperiode, den die Gutachterin dem Gericht schildert, wirft Fragen auf: Erst 16 Minuten, nachdem die Hebamme mit der kardiopulmonalen Reanimation begonnen haben soll, sei der Notarzt gerufen worden? Und zur gleichen Minute, als sie zu reanimieren begonnen habe, soll die Hebamme auch noch das Kind abgenabelt und den Uterus als gut kontrahiert getastet haben? Ist die Gutachterin hier bei den Zeitangaben durcheinander geraten? Verglichen mit den Aussagen der beiden Zeuginnen, der Dokumentation und den Aussagen der Hebamme ergibt sich eine zeitliche Diskrepanz: Um 7.15 Uhr soll nach Aussage der Hebamme die Mutter gegenüber ihrer Ehefrau noch vehement eine Verlegung in die Klinik abgelehnt haben. Mit der kardiopulmonalen Reanimation durch die Hebamme und die anwesende Freundin der Familie, einer ausgebildeten Notärztin, wurde nach ihrer Aussage um 7.31 Uhr begonnen, der Notarzt von der Ehefrau unmittelbar danach um 7.32 Uhr gerufen, der dann mit seinem Team um 7.39 Uhr die Reanimation übernommen hatte. Auch die Ehefrau und die Freundin hatten in ihren Zeuginnenaussagen geschildert, dass unmittelbar nach Beginn der Reanimation der Rettungsdienst gerufen worden war. Das Gericht geht nicht näher auf die Unstimmigkeiten ein.

Müttertodesfälle weltweit

Die Gutachterin erläutert allgemein die postpartale Hämorrhagie, die weltweit für ein Viertel aller Müttertodesfälle verantwortlich sei. In der westlichen Welt trete sie bei zwei von 1.000 Geburten auf, meist aufgrund einer Uterusatonie. Von einer schweren postpartalen Blutung spreche man ab 1.500 ml. Dabei sei mit einem hämorrhagischen Schock zu rechnen, der als Folge der Minderdurchblutung der Organe schnell in ein Multiorganversagen mit in­fauster Prognose übergehen könne. Ein Blutverlust von mehr als 2.000 ml gehe normalerweise mit einer Gerinnungsstörung einher. In der Gebärmutterhöhle könne sich unbemerkt eine Blutmenge von 500 bis 1.000 ml ansammeln. Generell gelte, dass ein Blutverlust visuell um 30 bis 50 % unterschätzt werde. »Je größer der Blutverlust, desto größer das Ausmaß der Unterschätzung«, gibt sie zu bedenken.

Die Gabe von 3 bis 5 IE Oxytocin könne bis zu 79 % der postpartalen Blutungen in der Hochrisikogruppe verhindern. »Inwieweit die Hebamme sich vor der Hausgeburt auf eine mögliche Blutungskomplikation vorbereitet hat, kann ich den Unterlagen nicht entnehmen«, merkt die Sachverständige an. »Oxytocin als Prophylaxe der Atonie oder zur Plazentalösung wurde nicht gegeben.« Eine Angabe zum Fundusstand finde sich in der Karteikarte erst 40 Minuten post partum um 7.15 Uhr. Auch die Entleerung der Harnblase sei bei Uterusatonien wichtig. Ob und wann eine Blasenentleerung erfolgt sei, sei nicht dokumentiert.

Bei Aufnahme der Mutter im St. Elisabeth-Krankenhaus habe der Hb-Wert nur bei 5,8 g/dl gelegen, was nicht einmal 50 % des Normalwertes entspreche. Die Gutachterin schätzt das Blutvolumen der Mutter vor der Geburt auf »circa 7.700 ml«. Sie legt bei ihrer Berechnung die Formel zugrunde: 65 ml/kg Körpergewicht + 50 %. Bei einem Blutverlust von 30 % seien das mehr als 2.200 ml, was zu schweren Gerinnungsstörungen führe.

Fruchtwasserembolie?

Auf die Fruchtwasserembolie als weitere denkbare Todesursache geht die Gutachterin ebenfalls ein: Sie sei mit 2 bis 6 Fällen auf 100.000 Geburten sehr selten, aber eine schwere Komplikation mit hoher Letalität. Die Fruchtwasserembolie gehe mit einer klassischen Trias einher: Hypoxie, Hypotonie und Koagulopathie, einer Störung der Blutgerinnung. Dem könnten Agitiertheit, Abgestumpftheit oder Lichtempfindlichkeit vorausgehen. Dazu sei in den Unterlagen aber nichts erwähnt. Die typischen Symptome seien ausgeprägte Zyanose, Tachykardie, Tachypnoe, Hypotonie und ein plötzlicher Herzstillstand. Es komme auch zu Blutungen aus der Gebärmutter. Die Ehefrau habe die Mutter allerdings eher als blass, nicht als zyanotisch beschrieben. Eine Fruchtwasserembolie bleibe häufig unerkannt und sei schwer nachzuweisen. Auch wenn man bei der Obduktion keine Fruchtwasserbestandteile finde, sei sie nicht sicher auszuschließen.

In diesem Fall »spricht der Verlauf der Symptome eher für eine postpartale Hämorrhagie, wahrscheinlich ausgelöst durch eine Uterusatonie bei Plazentaretention«, urteilt die Gutachterin. »Im Krankenhaus wurde für die Patientin eine Maximaltherapie durchgeführt. Allerdings war die Prognose schon beim Eintreffen als extrem schlecht beziehungsweise infaust anzusehen.«

Aufgrund der Risikofaktoren hätte man von einer Hausgeburt zwingend Abstand nehmen müssen. Weil man dem ausdrücklichen Wunsch der Mutter habe nachgeben wollen, hätte man sich besser auf Komplikationen vorbereiten und darauf reagieren müssen, beanstandet die Sachverständige: »Die entsprechenden Symptome wurden nicht erkannt.« Auch im Krankenhaus hätte es mit hoher Wahrscheinlichkeit postpartale Probleme gegeben, »man hätte dort aber sehr viel schneller und besser darauf reagieren und damit wahrscheinlich einen Exitus verhindern können«, schließt die Gutachterin.

Fragen an die Sachverständige

Nach einer Pause, in der die Gutachterin die nachgereichten Unterlagen der behandelnden Frauenärztinnen durchsieht, geht es mit einer intensiven Befragung weiter. Die Unterlagen bestätigten, dass beide Frauenärztinnen der Schwangeren von einer Hausgeburt dringend abgeraten und sie zu den Risiken »aufs Heftigste aufgeklärt« hätten, resümiert Nübel. Der Vorsitzende erläutert: Das Problem, das das Gericht zu klären habe: »Hat sich ein Risiko verwirklicht, in strafrechtlich relevantem Erfolg?«

Es geht nun im Frage-Antwort-Austausch detailliert um die verschiedenen Risiken und darum, wie man auf Komplikationen genau reagiert. Der Vorsitzende fragt: »Wie viele Frauen versterben im Krankenhaus bei der Geburt?« »Sechs Frauen auf 100.000 Geburten,« antwortet Nübel und ergänzt: »davon ein bis zwei Frauen aufgrund von Blutungen.« Der Vorsitzende erkundigt sich: »Wenn eine Frau sagt, ich bin gegen eine Geburt in der Klinik, gibt es aus ärztlicher Sicht Dinge, die man in der Vorbereitung beachten sollte?« Nübel bejaht: »Wenn man sich eines Risikos bewusst ist, muss man dann das Problem schnell erkennen.« Man sollte beispielsweise wissen, warum es blute, ob der Grund eine Verletzung oder Gerinnungsstörungen sei, und dann zügig Medikamente einsetzen. »Hier war es nicht zügig genug?«, fragt der Vorsitzende. »Ja«, bestätigt die Gynäkologin.

»Welches Zeitfenster besteht?«, möchte Richter Große Feldhaus wissen. »Kann es einen Zeitpunkt geben, wo es bei einer Verlegung zu spät ist, vier Stockwerke hinunter zu kommen und für den Weg bis zum Schockraum im Krankenhaus?« Nübel antwortet: »Das ist schwer einzuschätzen. Manchmal muss man innerhalb weniger Minuten reagieren, man läuft der Zeit hinterher.« Hier sei über eine Stunde vergangen von der Geburt bis der Rettungsdienst gerufen worden sei, statt 20 Minuten nach der Geburt, als er bereits hätte gerufen werden müssen.

Es geht weiter um Fragen zu verschiedenen Blutungen bei der Geburt und wie man darauf reagiert. Die beisitzende Richterin fragt: »Ist Cytotec verschreibungspflichtig?« Nübel bejaht: »Es ist ein probates Mittel, das wird jede Hebamme zur Verfügung haben.« Staatsanwalt Jens Cieslak, der sich normalerweise zurückhält, fragt die Gutachterin, ob in der konkreten Situation eine Verlegung aus der Wohnung in die Klinik die einzige Option gewesen sei. Die Sachverständige antwortet: »Ich gehe davon aus, dass zu Hause keine Kürettage möglich gewesen wäre.« Auch der Anwalt der Witwe der Verstorbenen, die als Nebenklägerin auftritt, stellt ein paar Fragen. Und die Witwe selbst fragt, obwohl sie Notärztin ist: »Wie lange braucht eine Infusion von 1.000 ml Jono, um durchzulaufen – länger als 20 Minuten?« »Man kann das nicht generell sagen«, antwortet die Sachverständige.

»Haben die Verteidiger Fragen?«, wendet sich nun der Vorsitzende Richter an die beiden Strafverteidiger, die rechts neben der angeklagten Hebamme sitzen.


Hinweis: Im sechsten Teil stellt die Verteidigung der gynäkologischen Sachverständigen kritische Fragen zu ihrem Gutachten.


Zitiervorlage
Baumgarten, K. (2024). Schwurgerichtsprozess am Landgericht Bochum – Teil 5: Deutsche Hebammen Zeitschrift, 76 (3), 82–86
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