Die Wünsche der Frau als Richtschnur
»Immer auf Augenhöhe mit der gebärenden Frau«, lautete eine der Grundregeln, die Eldering sich mit seinem Team zu Eigen machte. Das war durchaus wörtlich zu nehmen: Wenn eine Frau ihr Kind in der Hocke zur Welt brachte, hatten sich alle im Raum auf ihre Höhe zu begeben – ohne Ausnahme. »Wenn ich reinkomme, klopfe ich. Dann warte ich einen Moment und erst, wenn die gebärende Frau ‚herein’ sagt, komme ich rein. Das verstehe ich unter ‚Bewahrung der Privatsphäre‘. Das erhält den Frauen beziehungsweise den Familien die Stärke«, erläuterte er einmal seine Haltung. (Baumgarten 2005)
»Wir hielten es für wichtig, dass Frauen ihre eigenen Kräfte unter der Geburt haben und behalten. Wir haben nur da eingegriffen, wo es medizinisch unbedingt notwendig war.« Das Handwerk zur Entwicklung einer spontanen Beckenendlagengeburt oder die Leitung von Mehrlingsgeburten beherrschten er und die ÄrztInnen in seinem Team. Zum Dogma erhob er die natürliche Geburt nicht: »Wir haben natürlich auch respektiert, dass Frauen Schmerzmittel unter der Geburt wollten, wie zum Beispiel die Leitungsanästhesie. Wir waren eine der ersten Kliniken, die auch den Kaiserschnitt in Leitungsanästhesie durchführten.« (babyportal.de)
Eldering setzte sich konstruktiv mit ungewöhnlichen Wünschen der Frauen auseinander. So konnten ab 1982 die Frauen auch Wassergeburten wählen, was zu der Zeit unter GeburtshelferInnen hoch umstritten war. »Wir haben Literaturstudium betrieben und sind in andere Zentren gefahren, wo in Europa bereits Wassergeburten üblich waren, beispielsweise nach Moskau«, schilderte er einmal die Anfänge. In Zusammenarbeit mit der Industrie entwickelte er damals ein wasserdichtes CTG-System, mit dem auch in der Wanne die kindlichen Herztöne abgeleitet und die Wehen überwacht werden konnten. Er führte die Diskussion in Fachkreisen mit seiner Studie über die ersten 1.000 Wassergeburten in Bensberg mit positivem Outcome: Sie zeigte, dass Wassergeburten unter den dort festgelegten Bedingungen nicht gefährlicher waren als Geburten außerhalb des Wassers, jedoch zu weniger Geburtsverletzungen und Dammschnitten führten. Bis zu seinem Ausscheiden wurden dort 3.500 Kinder im Wasser geboren.
Als erster in Deutschland führte Gerd Eldering 1995 die damals innovative Sectio-Operationstechnik nach Misgav-Ladach ein. Das Team hatte sie beim Besuch in Jerusalem im familienfreundlichen, fortschrittlich eingestellten Misgav-Ladach-Hospital beim dortigen Chefarzt Dr. Michael Stark kennengelernt – als eher zufälligen Nebeneffekt des Besuchs.
In der Wochenstation in Bensberg wurden Familienzimmer eingerichtet: Die Mutter, der Vater, das Neugeborene und gegebenfalls auch Geschwisterkinder blieben so zusammen und es war selbstverständlich, dass alle Familienmitglieder am Morgen- und Abendbuffet mit versorgt wurden.
Für Kinder, die nach der Geburt eine Phototherapie brauchten, konstruierte er ein spezielles Bett, Bilarium genannt, in dem sie an der Brust der Mutter liegen konnten und nicht von ihr getrennt werden mussten.
Reformen im Umgang mit frühen Verlusten
Frühzeitig reformierte er die Betreuung von Müttern, die ein intrauterin verstorbenes Kind zur Welt brachten. »Man glaubte uns zunächst einfach nicht, dass die Eltern sich das Kind ansehen, es berühren und es selbst anziehen sollten«, beschrieb er einmal den Widerstand betroffener Eltern, als diese Begleitung zum Abschied noch nicht üblich war. In solchen Situationen habe er auf das blinde Vertrauen der Frauen in ihn als Arzt gesetzt: »Glauben Sie mir, es ist so. Ich habe mich schon lange damit auseinandergesetzt. Ich weiß es, dass es gut für Sie ist!«
In seiner Facharztausbildung hatte er in den 1970er Jahren das Gegenteil gelernt: »Wir haben in unserer Ausbildung eigentlich nur die Geburt gelernt als organischen Vorgang und nicht als psychisches Erleben von Eltern«, beschrieb er es einmal: »Das heißt, wir mussten dafür sorgen, medizinisch gesehen, dass der tote Fötus so schnell aus der Mutter herauskam, wie nur eben möglich. Wir meinten, Mütter schonen zu müssen und zu können, dadurch, dass wir sie nicht zu sehr mit dem Tod konfrontierten. Wir haben deswegen Tücher gespannt, damit die arme Mutter nicht ihr totes Kind sehen musste.« (www.veit.de)
Ein Novum war auch ein kleiner Friedhof im Park des Krankenhauses, wo Eltern ihre kleinen Kinder bestatten konnten, die sie als Fehlgeburt verloren hatten und die zu jener Zeit als »Abortmaterial« normalerweise noch im Klinikmüll entsorgt wurden. Eldering widersetzte sich der barbarischen Sprache im routinierten Medizinbetrieb: »Abort ist für mich ein WC im Zug«, konnte er sich erregen, ebenso bei Begriffen wie »Geburtskanal«, »Vaginalrohr«, »Blasensprengung«, »Austreibungsperiode«, »Skalpellektrode«, »Geburtsobjekt« oder »Milcheinschuss«. Von Ungeborenen sprach er grundsätzlich als Kinder, unabhängig von ihrem Entwicklungsstand und wenn sie auch noch so winzig klein waren.
Hebammenschule gegründet
Zum besonderen Ruf des familienorientierten »Bensberger Modells« der Geburtshilfe trug nicht zuletzt die staatliche Hebammenschule bei, die Gerd Eldering 1989 zusammen mit der Hebamme Sabine Friese-Berg gegründet und bis zu seinem Ausscheiden von ärztlicher Seite geleitetet hatte.
Schulnoten zählten für ihn nicht vorrangig bei der Auswahl der Hebammenschülerinnen. Nicht ohne Stolz bekannte er gerne, dass er selbst sein Abitur mit der Durchschnittsnote 4 bestanden hatte: »Das war schwerer, als ein gutes Abi zu schaffen.« Als Freigeist war er als junger Mensch in ständiger Rebellion gegen die Autorität seiner Lehrer gewesen. Ihren Gegenwind und sein minimalistisches Engagement hatte er als gekonnten Drahtseilakt in seinen Noten ausbalanciert. Bewerberinnen für die Hebammenschule habe er immer gefragt, wofür sie sich besonders interessierten – über ihren Berufswunsch Hebamme hinaus. »Haben Sie Ihr Instrument dabei?«, fragte er einmal eine Anwärterin aus Bayern, die ihm erzählt hatte, sie spiele auf dem Hackbrett, einer besonderen Art der Zither. Die junge Frau habe es aus dem Auto geholt und ihn mit ihrem Spiel beeindruckt – sie bekam eine Zusage.
Als Chefarzt war er zuweilen schwer gelitten, eine Reibungsfläche, an der sich alle im Team auch abarbeiten mussten, gestand er selbstkritisch ein, mit gleichzeitiger Anerkennung für das Hebammenteam: »Ich habe die Hebammen damit stark gemacht. Sie sind es, die die Geburtshilfe in Bensberg unverändert hochhalten.« Als Gerd Eldering 2003 seine Tätigkeit als Chefarzt niederlegte, war er 23 Jahre lang Leiter der Frauenklinik am Vinzenz Pallotti Hospitals (VPH) in Bensberg gewesen mit der Zusatzqualifikation »Spezielle Geburtshilfe und Perinatalmedizin«, viele Jahre als Mitglied der Betriebsleitung sowie als Ärztlicher Direktor des VPH. Mehr als 1.500 Kinder kamen am Ende seiner Zeit jährlich zur Welt. Insgesamt wurden dort an die 30.000 Kinder unter seiner Verantwortung geboren.
Geburtshilflicher Neuanfang?
»Wir haben in unserer geburtshilflichen Abteilung mit dem, was wir in den letzten 20 Jahren aufgebaut haben, das erreicht, was man erreichen konnte«, erklärte er damals sein Ausscheiden. Die fünf Jahre bis zu seiner Pensionierung einfach so weiterzumachen, sei ihm nicht genug gewesen: »Ich hatte die Vision, gegebenenfalls noch einmal die Geburtshilfe im Krankenhaus komplett umzustrukturieren und ein neues System in das Krankenhauswesen zu implementieren.« Seine Idee sei gewesen: Frauen ohne Risiko für ihre Geburt sollten nicht unbedingt in der Klinik, »sondern entweder zu Hause oder in einem Geburtshaus gebären – das idealerweise in oder an der Klinik angesiedelt wäre, um Transportwege zu vermeiden und um sofortige medizinische Hilfe zur Verfügung zu haben. Durch eine gemeinsame Untersuchung von Hebamme und ÄrztIn und der gemeinsamen Beurteilung nach medizinischen Gesichtspunkten sollte darüber zusammen mit der Frau entschieden werden. Mit diesem Konzept könnten Kosten gespart werden und für Frauen, die eine High-Risk-Geburt erwarteten, wäre dadurch eine Eins-zu-eins-Betreuung durch die Hebammen und Ärzte zu finanzieren.«
Ein geburtshilflicher Neuanfang ließ sich damals nicht realisieren, weil er keine Partner fand, die sein Konzept als Modell-Projekt umsetzen wollten. In der Zeit seien die Geschäftsführungen und die Verwaltungen der Krankenhäuser stattdessen mit der Einführung von Qualitätsmanagement und Fallpauschalen absorbiert gewesen. (Baumgarten DHZ 5/2005, Seite 16ff.)
Seine andere Begründung für den Abschied war vorausschauend: »Der Konkurrenzkampf in der Medizin wird immer größer – Stellen werden abgebaut, weil sie nicht mehr zu finanzieren sind. Der Zwang zur Kostensenkung beschneidet immer mehr die freie Tätigkeit im Krankenhaus. Die Verwaltungstätigkeit nimmt enorm zu und geht bei der Betreuung verloren. Es gibt kein Polster mehr, dass man jemandem einmal etwas Gutes tut. Wir werden bald einen eklatanten Hebammen- und Ärztemangel haben – das macht bald keiner mehr mit. Hebammen werden immer mehr von dem Eigentlichen, von der Geburtshilfe abgezogen. Und wenn sie da abgezogen werden, ist das sicher nicht der Gesundheit der Geburtshilfe dienlich.« (Baumgarten DHZ 3/2004, Seite 2)
Natürlich arbeitete er weiter: Im Fortbildungszentrum Bensberg, das er 1993 mit Sabine Friese-Berg und der Physiotherapeutin Annemie Hoppe gegründet hatte, engagierte er sich weiterhin. Auch in der Hebammenschule unterrichtete er noch bis 2014. Bis zu seinem Lebensende führte er auch das von ihm gegründete Zytologische Institut und beriet in seiner Dysplasie-Sprechstunde Frauen mit auffälligen Befunden.
Ehrenamtlich engagierte er sich in zahlreichen Projekten und Initiativen. Beispielsweise setze er sich gemeinsam mit Donum Vitae, wo er zehn Jahre lang im Vorstand tätig war, für die Verbesserung von Müttern im Gefängnis ein. Die Frauen mussten dort teilweise unter unwürdigen Bedingungen in Handschellen ihre Kinder zur Welt bringen und wurden gleich von ihnen getrennt.
Geburt mitten im Krieg
Gerd Eldering war selbst mitten im Krieg geboren worden, am 6. Juni 1943 in der Privatklinik seiner Eltern in Köln. Sein Vater hatte dort als Frauenarzt und Geburtshelfer, seine Mutter als Kinderärztin gearbeitet. Die Familie wohnte auch dort. Elf Tage später wurde das Gebäude bei einem Bombenangriff zerstört. Nicht nur sein Großvater kam dabei ums Leben – auch alle Neugeborenen starben. Alle hatten sich in den Keller der Klinik geflüchtet. Der wurde so schwer beschädigt, dass er teilweise einstürzte. Gerd Eldering war bei den anderen Säuglingen untergebracht gewesen. Weil er anhaltend geschrien hatte, hatte ihn seine Mutter kurz zuvor zu sich geholt, um ihn zu beruhigen. Dort war der Keller heil geblieben. Ihn beschäftigte sein Leben lang, dass sein Schreien ihn gerettet hatte und er als einziges Neugeborenes überlebt hatte.
Vielleicht war es dieser Lebensanfang in einer traumatischen, maximal gefährdeten Zeit, der ihn mit der lebenslangen unerschöpflichen Energie versehen hatte, die Geburtshilfe menschlicher zu machen und die Bindung zwischen dem Kind und seiner Familie in den Mittelpunkt zu rücken. Im Vinzenz Pallotti Hospital fand Jahr für Jahr eine viel beachtete Tagung unter dem Motto der Geburtshilfe in Bensberg statt: »Gebären in Sicherheit und Geborgenheit«. Dorthin lud er namhafte Experten zum Austausch ein, die dazu neue Gedanken beizusteuern hatten.
In den vergangenen zwei Jahren hatte sich Gerd Eldering mit seiner eigenen schweren Erkrankung auseinanderzusetzen. Bei allen Herausforderungen, die ihm das abverlangte, verlor er bis zum Schluss nicht die Schaffenskraft für neue Projekte, seinen Unternehmungsgeist und seinen Ideenreichtum. Fast schien es manchmal, als spornte ihn die bewusst gespürte Endlichkeit der eigenen Existenz in seinem Tatendrang umso mehr an, seine Anliegen umzusetzen, neue Fäden zu spinnen oder Strippen zu ziehen, etwas zu hinterlassen und auch Beziehungen zu klären.
Sein lebenslanges Motto als Geburtshelfer erfüllte sich für ihn selbst an seinem Lebensende. Gerd Eldering starb am 13. Oktober zu Hause im Kreis seiner Familie – in Sicherheit und Geborgenheit. »Ich habe keine Angst«, hatte er noch kurz vor seinem Tod gesagt. In seinem ganzen Leben hatte er bestimmt und organisiert – und auch darüber hinaus. Wie er es gewünscht hatte, wurde er in seinem Haus aufgebart. Viele Menschen nutzten die Gelegenheit, sich dort in den Tagen nach seinem Tod von ihm zu verabschieden.
Es war bewegend zu hören, wie viele BesucherInnen außer ihrer Hochachtung und den inspirierenden, verbindenden und stärkenden Erlebnissen mit ihm auch von seinen unbequemen Seiten, von Grenzüberschreitungen, Enttäuschungen und Verletzungen erzählten. Es sprach für ihn und zeigte den Geist seiner Beziehungen, dass dies unter seinem Dach so ausgesprochen werden konnte. Die Verbundenheit ist geblieben.