Dieses Zitat einer Kollegin beschreibt unsere Philosophie sehr gut. Das tiefe Gefühl, eine Geburt wirklich miterlebt statt sie nur fachlich geleitet zu haben, kennt hoffentlich jede Hebamme.
Grundsätzlich können wir Hebammen physiologisch verlaufende Geburten bis zur aktiven Austrittsphase alleine betreuen. Wir haben weder einen Aufnahme-Ultraschall noch eine obligatorische Arztvisite. Bei Bedarf halten wir Rücksprache mit den Dienstärzt:innen. Spätestens wenn das Kind zeitnah geboren werden wird, kommt eine Ärzt:in dazu. Im Kreißsaal ist es still, das Licht ist maximal gedimmt, die Vorhänge zugezogen und unsere Aufmerksamkeit liegt vollkommen bei dieser Mutter und ihrem Kind. Wir intervenieren wenig, es ist einfach selten nötig. Geburten mit Risiken verlaufen gleichermaßen sehr konzentriert; die Ärzt:in sitzt ruhig beobachtend dabei oder übernimmt Handreichungen für die Gebärende oder die Hebamme.
Das Wertvolle am Arbeiten bei uns ist Zeit! Wir haben Zeit, die Beziehung zu den Paaren zu gestalten, sie in Ruhe ankommen zu lassen, geduldig abzuwarten und zu beobachten, die Frauen zu empowern und Geburten zu begleiten, statt sie zu leiten. Wenn wir Interventionen benötigen, haben wir Zeit, darüber aufzuklären und sie in Ruhe durchzuführen. Wir haben auch genug Zeit, um die Begleitpersonen und ihre Bedürfnisse in den Blick zu nehmen. Und wir gönnen uns die Zeit, Eltern und Baby in ihrem Tempo ankommen zu lassen, alle, auch wir, dürfen in Ruhe durchatmen und das Erlebte sacken lassen. Wir haben Zeit für die Begleitung unserer Schwangeren, auf Station oder in der Ambulanz. Und meistens haben wir auch genug Zeit für Wochenbettbesuche, Stillhilfe und alles, was zu einer guten Begleitung auf der Wochenbettstation dazugehört.
Konkret bedeutet dies, dass wir eine stationär liegende Schwangere so intensiv betreuen, wie wir es im ambulanten Setting auch tun. Häufig bleiben wir bei der Frau, während zum Beispiel eine Akupunktur durchgeführt wird.
Über die Ambulanz, spätestens über unsere Geburtsplanungssprechstunde lernen wir nahezu alle Schwangeren schon vor der Geburt kennen. Wir ermuntern die Paare, sich Gedanken über ihre Geburt zu machen, Geburtspläne zu verfassen und uns Fragen zu stellen. Wir besprechen ihre Wünsche, Vorstellungen, Pläne, Ängste oder Bedenken mit ihnen. Unser Ziel ist es, dass sich auch Hebammen und Ärzt:innen, die die werdenden Eltern (noch) nicht kennen, ein Bild von ihnen machen und ihre Wünsche umsetzen können. Wir möchten das Paar bestmöglich vorbereitet im Kreißsaal empfangen. Das hat schon dazu geführt, dass die Geburtsbadewanne für eine Mehrgebärende einlief, während sie sich noch auf dem Weg zu uns befand.
Trance und Flow ermöglichen
Wenn die Geburt physiologisch verläuft, besteht unsere Rolle als Hebamme vor allem darin, die Gebärende zurückhaltend zu beobachten und ihren Geburtsraum zu schützen, damit Trance und Flow geschehen. Wir reduzieren die klassische Leitung der Geburt auf das in unserem Krankenhaus nötige Mindestmaß und lassen die Gebärende »einfach machen«. Dabei gibt uns die Frau vor, wie viel Ruhe sie benötigt oder ob sie aktive Anleitung wie Mitatmen und Zuspruch möchte.
Wir ermuntern die Gebärenden ausdrücklich, ihre Geburtsarbeit im Raum zu leisten, entweder mit Matten, in der Wanne oder indem wir das Bett so hochfahren, dass sie sich abstützen können. Wir legen Kissen darauf und sorgen dafür, dass das Bett als Ort zum Stehen, Festhalten, Abstützen wahrgenommen wird. So können wir CTG-Kontrollen in aufrechter Position durchführen oder das Dopton benutzen.
Ideal verläuft die Geburt für uns, wenn wir die Gebärende mit Kissen, Decken, warmen Händen oder ruhigen Worten unterstützen und sie in ihrem Tun bestärken, verbal, sehr oft auch nonverbal, durch stille und konstante Anwesenheit. Je nach Bedürfnis von Frau und Hebamme und Stadium der Geburt sind wir konstant, aber nicht zwingend ununterbrochen im Geburtsraum anwesend. Ab der aktiven Eröffnungsphase verlassen wir den Raum jedoch tatsächlich nur noch wenig.
Ideal verläuft die Geburt für uns auch dann, wenn wir durch unser bewusstes Da-Sein Auffälligkeiten wie zum Beispiel hyperfrequente Wehen, eine Belastung der Frau, Ängste oder sich anbahnende Pathologie sehr frühzeitig erkennen. Um dann mit gezielter und aktiver Leitung den Geburtsverlauf frühzeitig wieder in ruhiges Fahrwasser zu lenken. Kleine Korrekturen oder Interventionen setzen oft große Ressourcen frei, so dass Mutter und Kind bei Kräften bleiben und wir Kreisläufe durchbrechen können.
Ganz besonders wichtig sind die Faktoren Zeit und Eins-zu-eins-Betreuung bei pathologisch verlaufenden Geburten! Auch wir betreuen Einleitungen aufgrund von Pathologie, Frauen am Dauer-CTG, Gebärende, die mehrere Medikamente benötigen, Geburten, bei denen wir in engem Austausch mit unseren Ärzt:innen stehen, wiederholt gezielte, zeitaufwendige Lagerung einsetzen und wo wir all unser Hebammenwissen aufwenden, um Mutter und Kind gut durch die Geburt zu lenken. Medizinische Überwachung, Infusionen, CTG-Kurven, Blutwerte und mehr im Blick zu behalten, die aufwendige Dokumentation, all das kostet wertvolle Zeit. Zeit, die wir gerade bei diesen Gebärenden für ihre mentale und körperliche Unterstützung sowohl benötigen als auch aufwenden wollen. Es ist eine Herausforderung, diese Frauen so zu betreuen, dass wir ihnen auf allen Ebenen gerecht werden, ihre Bedürfnisse erkennen und ihre Grenzen respektieren.
Die Eins-zu-eins-Betreuung setzt sich im Wochenbett fort. Wir besuchen unsere Wöchnerinnen in der Regel zwei-, bei Bedarf auch mehrmals täglich und entlasten damit das knappe Pflegepersonal. Insbesondere bei Stillproblemen nehmen wir uns häufig sehr viel Zeit und unterstützen die Mütter mit gezielter Anleitung und Assistenz. Im Rahmen der Wochenbettbesuche besprechen wir mit allen Frauen ihre Geburt, hören zu, beantworten Fragen und sind offen für Kritik und Verbesserungsvorschläge.
Die Zahlen belegen den Erfolg
Unser Modell kommt gut an: Nachdem die Geburtenzahlen bis 2017 kontinuierlich gesunken waren und besonders Erstgebärende lange Wege in weiter entfernte Kreißsäle in Kauf genommen haben, entscheiden sich jetzt wieder viele Frauen für eine wohnortnahe Geburt. Kolleginnen und Ärzt:innen empfehlen uns (wieder). Wir haben unsere Geburtenzahl von 202 im Jahr 2017 auf 322 im Jahr 2022 gesteigert (+ 59 %). Zwischendurch lag sie mit 373 Geburten (+ 84,7 %!) sogar noch höher. Die Episiotomierate der vaginalen Geburten ist von 27 % auf 12 % gesunken. Und 35 % aller vaginalen Geburten finden im Wasser oder in aufrechter Position statt. Die ehemals sehr hohe Sectiorate von über 41 % ist auf 28 % gesunken.
Alle Frauen, die in den Genuss einer Eins-zu-eins-Betreuung während der Geburt kommen, profitieren davon. Dies bekommen wir regelmäßig gespiegelt. Mehrgebärende mit Geburtserfahrung sind erstaunt und begeistert, wie wenig Anweisungen sie bekommen und dass sie tatsächlich aus eigener Kraft ihr Kind selbst(-bestimmt) geboren haben. Frauen mit pathologischen Verläufen oder (vielen) Interventionen profitieren von der Ruhe im Geburtsraum, von unserer aktiven und wachen Anwesenheit, was ihnen viel Angst nimmt, und davon, dass wir ihre Aufmerksamkeit immer wieder auf ihre Stärke und Kraft lenken. Auch von den Wöchnerinnen bekommen wir viel positives Feedback, dieses schließt die Zusammenarbeit mit dem Pflegepersonal ausdrücklich mit ein.
Viele der Frauen haben sich vorher nie mit Eins-zu-eins-Betreuung befasst. Sie wissen wenig über die Unterschiede in der Betreuungsintensität je nach Geburtsort oder Organisation der Abteilung. Sie kommen häufig über Empfehlung und wegen unseres familiären Rufes. Im Rahmen von Geburtsnachbesprechungen realisieren sie dann, wie wichtig ihnen die erlebte Eins-zu-eins-Betreuung war, was sich genau dahinter verbirgt und können es sich für zukünftige Geburten nur noch so vorstellen. Somit profitieren auch die Frauen von der Eins-zu-eins-Betreuung, die sich nie aktiv dafür entschieden haben.