In den Muldentalkliniken in Grimma stellt das Beleghebammenteam die Bedürfnisse der Frau in den Mittelpunkt. Die Gestaltung der Gebärräume wurde im Team abge­stimmt: Die Wohlfühl­atmosphäre war Kern der gestalterischen Ideen. Foto: © Jascha Fibich

Zehn Hebammen haben im sächsischen Grimma in den Muldentalkliniken vor fünf Jahren einen der kleinsten Kreißsäle Deutschlands übernommen. Während die Autorin über ihr vorbildliches Konzept der Eins-zu-eins- Betreuung noch in der Gegenwart schreibt, hat ihr Betreuungsmodell kurz darauf schon die Vergangenheit ereilt – mit der Schließung der Geburtshilfestation zum 1. November. Dabei waren in einer dünn besiedelten Region die Geburtenzahlen in der Klinik gestiegen, die Sectiorate gesunken und es gab einfach eine große Zustimmung.

Wir arbeiten als 13-köpfiges Dienst-Beleghebammen-Team in einem der kleinsten deutschen Kreißsäle. Wir sind lebendig, offen, streitbar, diskussionsfreudig, kritik- und kompromissfähig sowie verhandlungsstark. Wir sind fürsorglich, dienend, kreativ, erfahren und mit vielen verschiedenen Talenten gesegnet. Vor allem aber sind wir alle vollkommen verschiedene Persönlichkeiten und haben dennoch dieselbe Vorstellung von Geburtsbegleitung und Partizipation. Wir können das Anderssein der Kolleginnen wunderbar akzeptieren, Probleme ansprechen und Lösungen finden. Und: Wir sind wir. Eine steht für die andere ein, wir stärken einander den Rücken und sprechen nach außen mit einer Stimme. Wir widerstehen Klatsch und Tratsch, um bei uns zu bleiben.

Durch unsere geringe Geburtenzahl und das Dienst-Beleghebammensystem können wir sehr viele unserer Gebärenden eins zu eins begleiten, wovon wir alle profitieren.

Damit dies gelingt, nutzen wir Supervision, Teambesprechungen, gemeinsame Aktivitäten wie Sommerfest oder Weihnachtsfeier und versuchen, so demokratisch wie möglich zu agieren.

Ein neu gegründetes Team

Gefunden haben wir uns 2017. Damals gab es in der Stadt Grimma im Landkreis Leipzig noch 202 Geburten. Diese wurden an den Muldentalkliniken am Standort Grimma von einem Team aus angestellten und Honorarhebammen begleitet, der Hebammenmangel war existenzbedrohend und die Schließung des Kreißsaals drohte. Zu dieser Zeit haben zwei Kolleginnen die Idee geboren, ein vollkommen neues Team zusammenzustellen und mit einem bewusst gewählten Konzept den Kreißsaal wiederzubeleben. Wir wollten einen wohnortnahen Geburtsort erhalten und für uns Hebammen gute Arbeitsbedingungen schaffen.

Wir kannten einander vorher nicht und sind somit ein komplett neu gegründetes Team, wie es sonst nur bei Neueröffnungen vorkommt. Wir haben uns kennengelernt, einen gemeinsamen Blick auf gute Geburtshilfe erarbeitet und definiert, unter welchen Bedingungen wir uns klinisches und gemeinsames Arbeiten vorstellen können. Sehr wichtig war uns, den Fokus auf die Physiologie und das Empowern der Gebärenden zu legen, dadurch die Rate der spontanen Geburten zu steigern und den Dialog mit den Ärzt:innen gezielt zu gestalten. Außerdem mussten Räume und Atmosphäre verändert und vieles neu organisiert werden.

Nach Verhandlungen mit der damaligen Geschäftsführung, die uns viel Konsequenz abverlangt haben, stand unser Vertrag. Leider ließ sich unser Wunsch nach einem hebammengeleiteten Kreißsaal nicht verwirklichen. Wir haben jedoch Gleichstellung zwischen Hebammen und Ärzt:innen bei physiologischen Geburten vereinbaren können, was uns in der Arbeit ein gutes Standing verleiht und auch unsere Selbstwirksamkeit positiv beeinflusst.

Unsere Räume wurden umgestaltet und sind jetzt durch warme Farben, viele Kissen, Gardinen, Pflanzen und gedimmtes Licht gekennzeichnet. Nicht benötigte Hilfsmittel verschwinden aus unser aller Blickfeld. Entstanden sind geschützte Räume mit mehr Privatsphäre, in denen sich die Frauen wohlfühlen und fallenlassen können.

Organisatorisch arbeiten wir aus Haftungsgründen in der Rechtsform der Partnerschaftsgesellschaft zusammen. Aufgrund der wenigen Geburten – im Jahr 2022 waren es 322 – benötigen wir außerdem die Unterstützung der Klinik, die es uns ermöglicht, die Besetzung des Kreißsaals 24/7 zu gewährleisten. Unsere erbrachten Leistungen rechnen wir mit den Krankenkassen ab. Dabei wird jegliches erwirtschaftete Geld gerecht unter allen Kolleginnen aufgeteilt. Das war und ist uns sehr wichtig! Keine Hebamme soll sich – bewusst oder unterbewusst – aus finanziellen Gründen gedrängt fühlen, eine Geburt noch in ihrem Dienst abzuschließen. Um den Frauen zu ermöglichen, dass sie mit viel Kontinuität und wenig Schichtwechseln betreut werden, arbeiten wir in Zwölf-Stunden-Schichten.

Grundsätzlich gilt bei uns: »Die Frau geht immer vor!« Dabei haben wir ein Ranking: Eine Geburtsbegleitung wird gegenüber einem Wochenbettbesuch priorisiert. Eine kleine oder stille Geburt wird so organisiert, dass bei Bedarf eine zweite Kollegin hinzukommt.

Alle administrativen Tätigkeiten organisieren wir um die persönliche Begleitung herum. Und wir leisten viel Arbeit außerhalb des Dienstes und des Kreißsaals. Von Ausnahmen abgesehen haben wir keinen Rufdienst. Dennoch kommen wir sehr regelmäßig kurzfristig als zweite Hebamme hinzu. Wir unterstützen uns, denn keine Kollegin will ihren Dienst vollkommen überarbeitet und mit schlechtem Gefühl verlassen.

Auch wenn eins zu eins bei uns oft gelingt, bildet diese Beschreibung ideale Dienste ab. Auch wir haben auch Tage, an denen wir keine Wöchnerin besuchen und zwischen Sectio, Einleitung, Ambulanz und Gebärender im Kreißsaal jonglieren, an denen wir trotz Zwölf-Stunden-Schicht keine Pause haben und müde nach Hause gehen. Der folgende Dienst hat dann viel nachzuarbeiten. Das aber wiederum ist Konsens, denn die Frauen gehen vor.

Eins-zu-eins-Betreuung braucht Zeit

»Ich merke immer wieder, dass ich Geburten nur noch eins zu eins begleiten möchte. Das tiefe Eintauchen in die ganz individuelle Stimmung einer Geburt ist nicht möglich, wenn ich zwei bis drei Geburten gleichzeitig begleite. Dann kann ich nur randständig immer wieder reinschauen und ›tun‹. Anstatt einfach in Ruhe bei der Frau in der Ecke zu sitzen, zu signalisieren: ‹Ich bin da, ich bestaune und bestärke dich in deinem Tun.‹ So ist es am Ende ein rundes Erlebnis, egal ob die Geburt leicht war oder schwer. Wir waren da und das bleibt als Gefühl in der Frau verankert!«

Definition
»Eins zu eins« in Grimma
An den Muldentalkliniken am Standort Grimma definieren wir Eins-zu-eins-Betreuung als die kontinuierliche Begleitung einer Gebärenden durch ein und dieselbe Hebamme innerhalb eines Dienstes, wobei die Hebamme ihren Fokus jederzeit vollständig auf diese Geburt lenken und die Gebärende jederzeit die unmittelbare und konstante Anwesenheit der Hebamme einfordern kann.

Als Geburt zählt jeglicher durch Wehen verursachte Betreuungsbedarf einschließlich der Latenzphase. Dieser kann intermittierend auftreten, bis im Laufe der Geburt in der Regel eine durchgängige Anwesenheit der Hebamme benötigt wird. Eine Abwesenheit der Hebamme ist möglich, sofern Hebamme und Gebärende sich damit wohlfühlen und die Dauer sowie die Erreichbarkeit der Hebamme miteinander vereinbart wurden.

Nebenarbeiten oder die Betreuung weiterer Frauen (Wochenbettbesuch, CTG-Kontrolle, administrative Tätigkeiten) sind möglich, solange sie jederzeit sofort beendet werden können.

Störende äußere Einflüsse, wie eine parallel stattfindende Ambulanz, ein häufig zu beantwortendes Telefon und andere Tätigkeiten, die die Hebamme mental von der Geburt ablenken oder sie physisch von der Geburt abziehen, sind für uns nicht mit einer Eins-zu-eins-Betreuung vereinbar.

Dieses Zitat einer Kollegin beschreibt unsere Philosophie sehr gut. Das tiefe Gefühl, eine Geburt wirklich miterlebt statt sie nur fachlich geleitet zu haben, kennt hoffentlich jede Hebamme.

Grundsätzlich können wir Hebammen physiologisch verlaufende Geburten bis zur aktiven Austrittsphase alleine betreuen. Wir haben weder einen Aufnahme-Ultraschall noch eine obligatorische Arztvisite. Bei Bedarf halten wir Rücksprache mit den Dienstärzt:innen. Spätestens wenn das Kind zeitnah geboren werden wird, kommt eine Ärzt:in dazu. Im Kreißsaal ist es still, das Licht ist maximal gedimmt, die Vorhänge zugezogen und unsere Aufmerksamkeit liegt vollkommen bei dieser Mutter und ihrem Kind. Wir intervenieren wenig, es ist einfach selten nötig. Geburten mit Risiken verlaufen gleichermaßen sehr konzentriert; die Ärzt:in sitzt ruhig beobachtend dabei oder übernimmt Handreichungen für die Gebärende oder die Hebamme.

Das Wertvolle am Arbeiten bei uns ist Zeit! Wir haben Zeit, die Beziehung zu den Paaren zu gestalten, sie in Ruhe ankommen zu lassen, geduldig abzuwarten und zu beobachten, die Frauen zu empowern und Geburten zu begleiten, statt sie zu leiten. Wenn wir Interventionen benötigen, haben wir Zeit, darüber aufzuklären und sie in Ruhe durchzuführen. Wir haben auch genug Zeit, um die Begleitpersonen und ihre Bedürfnisse in den Blick zu nehmen. Und wir gönnen uns die Zeit, Eltern und Baby in ihrem Tempo ankommen zu lassen, alle, auch wir, dürfen in Ruhe durchatmen und das Erlebte sacken lassen. Wir haben Zeit für die Begleitung unserer Schwangeren, auf Station oder in der Ambulanz. Und meistens haben wir auch genug Zeit für Wochenbettbesuche, Stillhilfe und alles, was zu einer guten Begleitung auf der Wochenbettstation dazugehört.

Konkret bedeutet dies, dass wir eine stationär liegende Schwangere so intensiv betreuen, wie wir es im ambulanten Setting auch tun. Häufig bleiben wir bei der Frau, während zum Beispiel eine Akupunktur durchgeführt wird.

Über die Ambulanz, spätestens über unsere Geburtsplanungssprechstunde lernen wir nahezu alle Schwangeren schon vor der Geburt kennen. Wir ermuntern die Paare, sich Gedanken über ihre Geburt zu machen, Geburtspläne zu verfassen und uns Fragen zu stellen. Wir besprechen ihre Wünsche, Vorstellungen, Pläne, Ängste oder Bedenken mit ihnen. Unser Ziel ist es, dass sich auch Hebammen und Ärzt:innen, die die werdenden Eltern (noch) nicht kennen, ein Bild von ihnen machen und ihre Wünsche umsetzen können. Wir möchten das Paar bestmöglich vorbereitet im Kreißsaal empfangen. Das hat schon dazu geführt, dass die Geburtsbadewanne für eine Mehrgebärende einlief, während sie sich noch auf dem Weg zu uns befand.

Trance und Flow ermöglichen

Wenn die Geburt physiologisch verläuft, besteht unsere Rolle als Hebamme vor allem darin, die Gebärende zurückhaltend zu beobachten und ihren Geburtsraum zu schützen, damit Trance und Flow geschehen. Wir reduzieren die klassische Leitung der Geburt auf das in unserem Krankenhaus nötige Mindestmaß und lassen die Gebärende »einfach machen«. Dabei gibt uns die Frau vor, wie viel Ruhe sie benötigt oder ob sie aktive Anleitung wie Mitatmen und Zuspruch möchte.

Wir ermuntern die Gebärenden ausdrücklich, ihre Geburtsarbeit im Raum zu leisten, entweder mit Matten, in der Wanne oder indem wir das Bett so hochfahren, dass sie sich abstützen können. Wir legen Kissen darauf und sorgen dafür, dass das Bett als Ort zum Stehen, Festhalten, Abstützen wahrgenommen wird. So können wir CTG-Kontrollen in aufrechter Position durchführen oder das Dopton benutzen.

Ideal verläuft die Geburt für uns, wenn wir die Gebärende mit Kissen, Decken, warmen Händen oder ruhigen Worten unterstützen und sie in ihrem Tun bestärken, verbal, sehr oft auch nonverbal, durch stille und konstante Anwesenheit. Je nach Bedürfnis von Frau und Hebamme und Stadium der Geburt sind wir konstant, aber nicht zwingend ununterbrochen im Geburtsraum anwesend. Ab der aktiven Eröffnungsphase verlassen wir den Raum jedoch tatsächlich nur noch wenig.

Ideal verläuft die Geburt für uns auch dann, wenn wir durch unser bewusstes Da-Sein Auffälligkeiten wie zum Beispiel hyperfrequente Wehen, eine Belastung der Frau, Ängste oder sich anbahnende Pathologie sehr frühzeitig erkennen. Um dann mit gezielter und aktiver Leitung den Geburtsverlauf frühzeitig wieder in ruhiges Fahrwasser zu lenken. Kleine Korrekturen oder Interventionen setzen oft große Ressourcen frei, so dass Mutter und Kind bei Kräften bleiben und wir Kreisläufe durchbrechen können.

Ganz besonders wichtig sind die Faktoren Zeit und Eins-zu-eins-Betreuung bei pathologisch verlaufenden Geburten! Auch wir betreuen Einleitungen aufgrund von Pathologie, Frauen am Dauer-CTG, Gebärende, die mehrere Medikamente benötigen, Geburten, bei denen wir in engem Austausch mit unseren Ärzt:innen stehen, wiederholt gezielte, zeitaufwendige Lagerung einsetzen und wo wir all unser Hebammenwissen aufwenden, um Mutter und Kind gut durch die Geburt zu lenken. Medizinische Überwachung, Infusionen, CTG-Kurven, Blutwerte und mehr im Blick zu behalten, die aufwendige Dokumentation, all das kostet wertvolle Zeit. Zeit, die wir gerade bei diesen Gebärenden für ihre mentale und körperliche Unterstützung sowohl benötigen als auch aufwenden wollen. Es ist eine Herausforderung, diese Frauen so zu betreuen, dass wir ihnen auf allen Ebenen gerecht werden, ihre Bedürfnisse erkennen und ihre Grenzen respektieren.

Die Eins-zu-eins-Betreuung setzt sich im Wochenbett fort. Wir besuchen unsere Wöchnerinnen in der Regel zwei-, bei Bedarf auch mehrmals täglich und entlasten damit das knappe Pflegepersonal. Insbesondere bei Stillproblemen nehmen wir uns häufig sehr viel Zeit und unterstützen die Mütter mit gezielter Anleitung und Assistenz. Im Rahmen der Wochenbettbesuche besprechen wir mit allen Frauen ihre Geburt, hören zu, beantworten Fragen und sind offen für Kritik und Verbesserungsvorschläge.

Die Zahlen belegen den Erfolg

Unser Modell kommt gut an: Nachdem die Geburtenzahlen bis 2017 kontinuierlich gesunken waren und besonders Erstgebärende lange Wege in weiter entfernte Kreißsäle in Kauf genommen haben, entscheiden sich jetzt wieder viele Frauen für eine wohnortnahe Geburt. Kolleginnen und Ärzt:innen empfehlen uns (wieder). Wir haben unsere Geburtenzahl von 202 im Jahr 2017 auf 322 im Jahr 2022 gesteigert (+ 59 %). Zwischendurch lag sie mit 373 Geburten (+ 84,7 %!) sogar noch höher. Die Episiotomierate der vaginalen Geburten ist von 27 % auf 12 % gesunken. Und 35 % aller vaginalen Geburten finden im Wasser oder in aufrechter Position statt. Die ehemals sehr hohe Sectiorate von über 41 % ist auf 28 % gesunken.

Alle Frauen, die in den Genuss einer Eins-zu-eins-Betreuung während der Geburt kommen, profitieren davon. Dies bekommen wir regelmäßig gespiegelt. Mehrgebärende mit Geburtserfahrung sind erstaunt und begeistert, wie wenig Anweisungen sie bekommen und dass sie tatsächlich aus eigener Kraft ihr Kind selbst(-bestimmt) geboren haben. Frauen mit pathologischen Verläufen oder (vielen) Interventionen profitieren von der Ruhe im Geburtsraum, von unserer aktiven und wachen Anwesenheit, was ihnen viel Angst nimmt, und davon, dass wir ihre Aufmerksamkeit immer wieder auf ihre Stärke und Kraft lenken. Auch von den Wöchnerinnen bekommen wir viel positives Feedback, dieses schließt die Zusammenarbeit mit dem Pflegepersonal ausdrücklich mit ein.

Viele der Frauen haben sich vorher nie mit Eins-zu-eins-Betreuung befasst. Sie wissen wenig über die Unterschiede in der Betreuungsintensität je nach Geburtsort oder Organisation der Abteilung. Sie kommen häufig über Empfehlung und wegen unseres familiären Rufes. Im Rahmen von Geburtsnachbesprechungen realisieren sie dann, wie wichtig ihnen die erlebte Eins-zu-eins-Betreuung war, was sich genau dahinter verbirgt und können es sich für zukünftige Geburten nur noch so vorstellen. Somit profitieren auch die Frauen von der Eins-zu-eins-Betreuung, die sich nie aktiv dafür entschieden haben.

Hintergrund
Schließung trotz Petition
Das Beleghebammenteam erhielt im Sommer 2023 zum 1. April 2024 die vorsorgliche Kündigung ihrer Belegverträge sowie der Sicherstellungsvereinbarung. Eine Mutter organisierte daraufhin eine Online-Petition für den Erhalt des Hebammenteams und des Kreißsaals, die fast 50.000 (49.261) Menschen unterzeichnet haben. Die Hebammen und an die 1.000 Unterstützer:innen haben am 19. September 2023 für den Erhalt des Standortes demonstriert und die Unterschriften an Sozialministerin Petra Köpping und Landrat Henry Graichen übergeben. Außerdem hat die Lokalpresse wiederholt über die aktuelle Situation berichtet.
Dennoch wurde seitens der Muldentalkliniken beschlossen, die geburtshilfliche Versorgung aus finanziellen Gründen, kurzfristig sogar schon ab 1. November 2023, nur noch am Standort Wurzen vorzuhalten.

Herausforderungen

In unserem Arbeitsalltag überwiegen die positiven Aspekte. Dennoch stehen auch wir täglich vor Herausforderungen. In der reinen Freiberuflichkeit gibt es keinen Kündigungsschutz, keinen Mutterschutz, keine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, seltene Gebührenerhöhungen, hohe Beiträge zur Haftpflichtversicherung. …

Im Kreißsaal empfinden einige Hebammen das Arbeiten alleine im Dienst als nicht immer ideal. Dazu kommen viel Arbeit und Verantwortung auch in der kreißsaalfreien Zeit, viele zeitintensive Besprechungen, Netzwerkarbeit, aber auch viel aufzuwendendes Geld: von Supervision über Rechtsberatung bis hin zu Marketing.

Die größte Herausforderung im Alltag ist jedoch die unterschiedliche Blickrichtung, aus der wir Hebammen und einige unserer Ärzt:innen auf Geburt blicken. Wir haben nicht automatisch die gleiche Risikoeinschätzung oder die gleiche Geduld, dies sind die größten Diskussionspunkte in unserem Team. Während wir Hebammen beispielsweise die von der WHO empfohlene Sectiorate für unsere Abteilung und ihr Risikoprofil als erreichbar ansehen und anstreben, liegt der Fokus einiger Ärzt:innen vor allem auf der »sicheren Entbindung«, mitunter auch im OP. Wo und wie schnell Physiologie endet und Risiken beginnen und wie unterschiedlich man mit Risiken – beispielsweise in der Anamnese – umgehen kann, diskutieren wir regelmäßig.

Trotz Zeit und Eins-zu-eins-Betreuung beobachten wir, wie diese Einflüsse von außen unsere individuelle Geburtshilfe und Interventionsraten beeinflussen. Abhängig von den jeweiligen Dienstärzt:innen und deren Befürchtungen oder – gegenteilig – deren Vertrauen in die Arbeitsweise der Hebamme, kann eine physiologische Geburt störungsfrei in Verantwortung der Hebamme stattfinden, oder es kommt zu mehr Untersuchungen, mehr Interventionen, mehr Gesprächen und Diskussionen.

Leider konnten wir die S3-Leitlinie zur vaginalen Geburt am Termin bisher in unserem Kreißsaal nicht vollständig implementieren. Sie würde allen beteiligten Professionen mehr Sicherheit für die Geburtsbegleitungen bringen. Insbesondere, weil gleiche Wissensgrundlagen vermutlich zu mehr Konsens führen würden, wann man noch abwarten kann oder handeln muss.

Eine weitere Herausforderung ist für manche Kolleginnen und Ärzt:innen auch die Nähe zu den Frauen. Aus Hebammensicht wird eine Betreuung über viele Stunden hinweg und ohne kollegiale Unterstützung vereinzelt als zu intensiv, selten auch als vereinnahmend beschrieben. Aus Ärzt:innensicht haben wir schon den Vorwurf bekommen, zu dicht an der Frau und damit unprofessionell weit entfernt vom Standpunkt der Ärzt:innen zu sein.

Fazit

Wir arbeiten gerne so, wie wir es tun. Eine Eins-zu-eins-Betreuung sollte überall Standard sein, wo Frauen Babys gebären. Jede (werdende) Mutter profitiert davon, eine aufmerksame, zugewandte Hebamme an ihrer Seite zu wissen, die in Beziehung mit ihr ist, die Zeit hat, ihre Bedürfnisse zu erkunden, die bei Komplikationen sehr frühzeitig reagieren kann und sie bei ihrer selbstbestimmten Geburt begleitet. Jede Hebamme verdient es, genug Zeit für alle ihre Aufgaben zu haben, für Betreuung, für Dokumentation und Aufklärung und für die ganze Organisation rundherum. Eine Geburtsbegleitung ist nichts, was wir nebenher oder parallel zu weiteren Begleitungen leisten sollten. Bei entsprechender Organisation wäre eine Eins-zu-eins-Betreuung überall umsetzbar.

Uns ist außerdem wichtig, dass wohnortnahe Geburtsorte erhalten bleiben. Keine Frau sollte Wehen im Auto alleine bewältigen müssen, weil die Wege weit geworden sind. Dieses Schicksal könnte unsere Frauen leider bald ereilen. Denn obwohl wir erfolgreich arbeiten, die Geburtenzahlen sehr deutlich gesteigert haben, die Frauen in einem außergewöhnlich hohen Maß zufrieden sind und ihren wohnortnahen Kreißsaal behalten wollen, ist uns Beleghebammen zum 31. März 2024 gekündigt worden. Wir sind traurig und fassungslos, dass unser funktionierendes Modell aus finanziellen Gründen begraben werden soll.

Zitiervorlage
Ebener, J. (2023). Wohnortnahe Geburtshilfe in Grimma: Geburten begleiten, nicht leiten. Deutsche Hebammen Zeitschrift, 75 (12), 8–12.
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