Kamille
Eine der meistangewandten und beliebtesten Heilpflanzen bei Kindern ist die Kamille – und zwar mit Recht. Denn sie vermittelt Qualitäten von Mütterlichkeit, Geduld und Sanftmut. Daraus ergibt sich die Eignung zur Behandlung von nervös bedingten Darmkoliken, Magenkrämpfen, auch verschiedensten Entzündungserscheinungen des Darms oder der Haut sowie zur Förderung des Schlafes und einer allgemeinen Besänftigung bei Unruhe. Im Vergleich mit anderen Pflanzen bemerkt man leicht, dass die Vegetationsdauer der Kamille nur relativ kurz währt. Recht spät erst kommt sie aus dem Boden und ziemlich früh im Jahr verschwindet sie schon wieder. Ihr Lebenszyklus ist ein rasches, heftiges Auflodern und Verlöschen.
Karg, trocken, aufgekratzt sind die Böden und Standorte, an denen sie am häufigsten zu finden ist. Schön sehen diese Orte nicht aus, haben eher einen „cholerischen”, hitzigen Charakter. Wenn im Spätsommer ihre bis auf die Adern zusammengezogenen, antennenförmigen Blätter gelb und braun werden, sie aber trotzdem noch einige Zeit lang weiter blüht, glaubt man leicht, dass dies an der womöglich widrigen Bodenqualität liege. Aber das stimmt nicht. Alle Kamillen machen es so. Im Blattwerk scheinbar zu verbrennen, ist mit ein Ausdruck ihres Wesens. In ihrem Wachstumsverhalten zeigt sie sich eilig. Kaum dass das Blattwerk im Nötigsten entwickelt ist, kommen auch schon die ersten Blüten, und jede ihrer vielen Verzweigungen wird endständig mit einem Blütenkorb abgeschlossen. Viele hundert Blütenkörbe kann eine einzige Pflanze hervorbringen. Sie lebt für die Blüte, und in der Blüte zeigt sie sich als regelrechte Lichtanbeterin. Wenn sich die weißen Randblütenblätter ganz nach unten zurückschlagen, mutet es an, als würde sich die Blüte regelrecht überstrecken zum Licht hin.
In all diesem Hitzigen, Ungeduldigen, Lodernden findet sich aber immer auch der Gegenpol, ein dämpfendes, besänftigendes Moment. Dies zeigt sich bereits überdeutlich in der Keimblattphase. Wenn man die Keimblätter aus dem Boden kommen sieht, glaubt man kaum, dass je daraus ein so feingliedriges Blattwerk hervorgehen könnte. Plump, breit, fast sukkulent muten sie an. Mit der Entfaltung des feingesponnenen Blattwerks verschwindet überraschenderweise dieser Anklang an die Sukkulenz nicht ganz. So fadenförmig die Blätter auch sein mögen, im Querschnitt wirken sie dennoch dicklich und gequollen.
Dämpfendes findet sich auch in der Blüte. Wenn sich der Blütenkorb hebt, bildet sich darunter – und zwar nur bei der echten Kamille – ein kleines Luftpolster. So erscheinen die sehr weichen, stets endständig platzierten Blütenkörbe wie kleine Stoßdämpfer. Die Früchte schließlich, eine Art Nüsschen, sind innerhalb ihrer winzigen Schalen von einer Schleimschicht umgeben. Damit schließt sich der Kreis des Feuchtebezugs zur Keimphase.
Selbst auf chemischer Ebene findet sich das Charakteristikum der gedämpften Entflammung wieder. Die Nussfrüchtchen enthalten eine relativ große Menge zunächst relativ farblosen ätherischen Öls. Wenn dieses Öl aber mit heißem Wasserdampf abdestilliert wird, verfärbt es sich blau, nimmt also die Farbe des Kühlen, Ruhigen, Wässrigen an.
Matricaria chamomilla recutita, wie die Kamille botanisch heißt, ist eine Heilpflanze, die ihrem Wesen nach mit großem Erfolg eingesetzt werden kann, wenn die Gedeihstörung mit einer überforderten Mutter-Kind-Beziehung einhergeht, etwas Hitziges, Stress, Zeitnot, Eile hineinspielt, das Kind verausgabend schreit, vielleicht an Krämpfen leidet und eine umsorgende, umfließende, mütterliche Qualität vermittelt werden muss.