Neuartiges Kompetenzprofil
Vor dem Hintergrund der neuen Herausforderungen für junge Familien mit veränderten familiären Lebensformen, besonderen Lebensumständen und Gesundheitsstörungen in der Frühphase der Elternschaft, hat sich mit der Familienhebamme ein neuartiges Kompetenzprofil herausgebildet.
Familienhebammen sind staatlich examinierte Hebammen mit einer Zusatzqualifikation. Sie fördern die Gesunderhaltung von Mutter, Vater oder anderen primären Bezugspersonen und des Säuglings bis zu seinem ersten Geburtstag.
Die Besonderheit der Arbeit liegt auf der erhöhten psychosozialen Beratung und Betreuung von vulnerablen, unsicheren schwangeren Frauen, Müttern, Vätern oder primären Bezugspersonen des Säuglings. Die Betreuung erfolgt im Rahmen einer langfristigen, einzelfallbezogenen, aufsuchenden und niedrigschwelligen Begleitung der Familien. Hinzu kommt die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit anderen Institutionen und Berufsgruppen im Sinne der Gesundheitsförderung, der primären und sekundären Prävention. Bei der primären Prävention geht es darum, Gesundheit zu fördern, zu erhalten und die Entstehung von Krankheiten oder Störungen so gut wie möglich zu verhindern. Sekundäre Prävention bedeutet, das Fortschreiten einer Krankheit oder Störung zu verhindern. Familienhebammen sind in der Regel für kommunale oder freie gesundheitliche oder soziale Träger tätig. Sie können fest angestellt sein oder eine Honorarvereinbarung haben, die sich auf den Einzelfall bezieht. Ihre Leistung wird von dem jeweiligen Träger vergütet.
Fallbeispiel: Neues Leben in einem fremden Land
Frau B. aus Togo habe ich im Rahmen meiner Tätigkeit als Familienhebamme kennengelernt, als sie 21 Jahre alt war. Zum Zeitpunkt unseres Erstkontaktes war sie schwanger. Sie war mit ihren Eltern und Geschwistern über Italien nach Deutschland geflüchtet und war als asylsuchend registriert. Sie hatte sich in einen Deutschen verliebt und war von ihm schwanger geworden. Für die Eltern war es ein Schock. In ihrem Kulturkreis bedeutet es, dass die Tochter sofort heiraten müsste. Nachdem ihr Freund – der Vater des Kindes – sie verlassen hatte und ihre Eltern sie verstoßen haben, ist sie innerhalb Deutschlands ein zweites Mal »geflüchtet«. Nun war sie in einer fremden Stadt zum ersten Mal ganz auf sich allein gestellt, ohne die Unterstützung ihrer Eltern und in einer finanziell sehr unsicheren Situation. Frau B. spricht Englisch und Französisch, hat in ihrem Heimatland eine gute Bildung genossen und ihre Familie war in Togo hoch angesehen.
Begleitung und Betreuung
Ich habe Frau B. in der Schwangerschaft als durch und durch unsicher wahrgenommen. Alle Stützpfeiler ihres Lebens – Heimatland, Eltern, Freunde, Liebe – waren weggebrochen. Sie wusste nicht, ob sie das Kind behalten soll, war ambivalent über ihre Liebe zum Kind, da der Vater des Kindes sie im Stich gelassen hat. Sie fürchtete, dass kein anderer Mann sie jemals heiraten würde als Mutter mit einem Kind. Aus ihrer Sicht war ihr Leben vorbei. Hinzu kamen ihre unsicheren Lebensumstände: Wo kann sie zukünftig mit ihrem Kind leben? Woher bekommt sie ihr Geld, um zu überleben? Wie kann sie sich verständigen? Wie kann sie mit ihren Geschwistern Kontakt halten und sie sehen, ohne mit ihren Eltern in Konflikt zu geraten, zu denen sie nicht mehr zurück will? All diese Fragen stellten sich vor dem Hintergrund ihres unklaren Aufenthaltsstatus.
Ziel meiner Begleitung und Betreuung von Frau B. war es, ihre multiplen Sorgen und Schwierigkeiten wahrzunehmen und zu priorisieren, um so die Schwangerschaft und die Beziehung zu ihrem Kind zu stabilisieren.
Da die Schwangerschaft medizinisch betrachtet komplikationslos verlief, lag der Fokus der Betreuung einerseits darauf, Frau B. zu helfen, eine stabile Bindung zu ihrem Kind aufzubauen. Andererseits habe ich Frau B. an kommunale Partner im Netzwerk Frühe Hilfen vermittelt: Das Amt für Migration, das Wohnungsamt, ein Kinderarzt und Mitarbeitende des kommunalen Jugendamtes konnten mit ihren Angeboten und Kompetenzen Frau B. in Fragen ihrer zukünftigen Lebensführung weiterhelfen. Teilweise haben wir diese Termine zusammen wahrgenommen. Heute lebt Frau B. mit ihrem Kind in einer stabilen Lebenssituation, soweit das trotz des unklaren Aufenthaltsstatus möglich ist. Sie wird weiterhin von einer Familien-Gesundheits-Kinderkrankenpflegerin aus dem Team Frühe Hilfen betreut. Wenn nötig, können wir dies aufrechterhalten, bis das Kind drei Jahre alt ist.
Fallbeispiel: Elternwerden mit Hindernissen
Frau C. ist Engländerin, 26 Jahre alt und lebt mit ihren Eltern und Geschwistern in Deutschland. Sie arbeitete hier als Tänzerin und wurde ein Jahr nach Beginn eines Engagements in einem Musical schwanger. Der Vater des Kindes war nicht erfreut über die Schwangerschaft. Er arbeitete in dem gleichen Musical, wollte als Darsteller und Tänzer Karriere machen und unabhängig bleiben. Auch für die Eltern von Frau C. war es ein Schock. Die Mutter von Frau C. wollte in Deutschland mit der Familie neu anfangen. Sie war selbst sehr jung schwanger geworden und konnte deshalb keine Karriere als Tänzerin machen. Ihrer Tochter wollte sie die eigene verwehrte Karriere ermöglichen. Frau C. sah ihr Leben ruiniert, da sie ihre Tänzerinnenlaufbahn mit der Schwangerschaft als beendet betrachtete. Hinzu kam, dass sie sich in einer finanziell sehr unsicheren Situation befand und kein Deutsch sprach. In der Schwangerschaft entwickelte Frau C. Symptome, die auf ein mögliches HELLP-Syndrom hindeuteten.
Begleitung und Betreuung
Zum Zeitpunkt des Erstkontaktes war Frau C. in der 22. Woche schwanger. Die Aufgabe als Familienhebamme war hier vielschichtig: Wichtig war die medizinische Betreuung, um sicherzugehen, dass sie kein vollständiges HELLP-Syndrom entwickelte. Zusammen mit einer freiberuflichen, englischsprechenden Hebamme wurde eine lückenlose Betreuung sichergestellt. Sehr regelmäßige begleitete Besuche beim Frauenarzt gehörten dazu. Des Weiteren konnte ich sie als Familienhebamme dabei unterstützen, ihre Lebensumstände zu stabilisieren. Durch regelmäßige Besuche beim Wohnungsamt, in einer evangelischen Beratungsstelle, beim Amt für Europäische Migration und bei Schwangerschaftsberatungsstellen sorgten wir für finanzielle Unterstützung und eine eigene Wohnung. Vorrangigstes Ziel meiner Begleitung und Betreuung von Frau C. war es, früh die sich andeutende Erkrankung abzuklären. Durch eine passgenaue Begleitung wollte ich die Einstellung und Beziehung zu ihrem Kind positiv beeinflussen. Gerade in der Anfangsphase der Begleitung war ein guter Kontakt zu der freiberuflichen Hebamme und dem Frauenarzt wichtig.
Heute lebt Frau C. mit ihrem Kind, dessen Vater und ihren Eltern in Australien, da sie ein Jahr nach der Geburt ihres Kindes ein lukratives Angebot als Tanzlehrerin in Sydney bekommen hat.