© Rolf Zöllner/imago

Familienhebammen sind in ihrer täglichen Arbeit bei jungen Eltern oft mit außergewöhnlichen Lebenslagen konfrontiert. Sie helfen Schwangeren und Müttern in schwierigen Situationen und vermitteln wichtige Unterstützung. Eine Familienhebamme erzählt in drei Fallbeispielen von ihrer Arbeit.

Familienhebammen leisten seit über 20 Jahren aufsuchende Gesundheitshilfe. Sie tragen zur Verbesserung der Leistungen des Gesundheitssystems bei und helfen bei der Bewältigung schwieriger gesundheitspolitischer Aufgaben. Der Grundgedanke, Hebammen als aufsuchende Gesundheitshilfen weiterzubilden, veranlasste das Bundesministerium für Familie, Frauen, Senioren und Jugend 2012, die Familienhebammen in der Verwaltungsvereinbarung »Bundesinitiative Netzwerke Frühe Hilfen und Familienhebammen« zu verankern (BMFSFJ 2012). Das Nationale Zentrum Frühe Hilfen (NZFH) sichert seitdem die Qualität der Weiterbildung zur Familienhebamme, evaluiert deren Arbeit im Netzwerk Frühe Hilfen mit entsprechender Begleitforschung und unterstützt die Tätigkeit mit umfangreichen Dokumentationshilfen (https://www.fruehehilfen.de).

Fallbeispiel: Regenbogen

Frau F. kam in der 30. Schwangerschaftswoche in meine Familienhebammensprechstunde, da sie sich in einer schwierigen Lebenssituation befand. Wie ihre Lebenspartnerin Frau L., war sie als Prostituierte tätig. Sie arbeitete in Deutschland, ihre Partnerin im benachbarten Ausland und beide verdienten gutes Geld. Sie selbst hatte sich absichtlich von einem Freier schwängern lassen, um aus der Prostitution aussteigen zu können. Sie beschrieb sich als »unsichere Persönlichkeit«, litt unter Depressionen und Trauergefühlen. Sie hatte Angst, keine gute Mutter zu werden.

Sie hat eine sehr enge Beziehung zu ihrer Familie, die in Polen lebt. Die Familie leidet unter dieser Trennung und beide Seiten würden sich gerne häufiger sehen. Frau F. fühlt sich häufig allein, da ihre Lebenspartnerin oft tagelang im Ausland ist. Sie ist dem ungeborenen Kind gegenüber ambivalent und wünscht sich sehr, eine gute Mutter zu werden. Ihre Partnerin wünscht sie sich als Vaterersatz, doch diese kann zu dem ungeborenen Kind noch keine Beziehung aufbauen. Frau L. ist nicht interessiert an dem Kind, sieht ihren Lebensstil und ihr Einkommen bedroht und zeigt sich verstärkt eifersüchtig und kontrollierend in der Beziehung zu ihrer schwangeren Frau.

Begleitung und Betreuung

Als Familienhebamme habe ich Frau F. während der Schwangerschaft wöchentlich aufgesucht, da sie sich in einer sehr belasteten, unsicheren Situation befand. Der Betreuungsschwerpunkt lag darauf, Frau F. auf ihre Verantwortung in der Schwangerschaft gegenüber dem Kind und sich selbst aufmerksam zu machen. Hierzu gehörte, dass sie regelmäßig zu den ärztlichen Kontrolluntersuchungen ging, dass sie sich mit der Schwangerschaft, der Entwicklung ihres Kindes bis zur Geburt auseinandersetzt und sich auf die neue Lebenssituation vorbereitet, die sich mit ihrem Kind ergeben wird.

Aufgrund ihrer Lebensumstände und ehemaligen Tätigkeit als Prostituierte sowie ihrem Leben in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft hatte sie viele Unsicherheiten und Fragen:

  • Wird das Jugendamt das Kind in Obhut nehmen, weil sie früher als Prostituierte gearbeitet hat?
  • Bleibt ihre Partnerin bei ihr?
  • Könnte der Vater des Kindes in Kenntnis gesetzt werden, dass sie schwanger ist, und Anspruch auf das Kind erheben?
  • Woher bekäme sie Geld, wenn ihre Partnerin sie verlassen würde?
  • Wird die Familie in Polen ihr Kind anerkennen?

Ziel der Begleitung und Betreuung von Frau F. war es, ihre Ängste und Unsicherheiten anzuhören und Wege zu finden, wie sie besser damit umgehen kann, um ihr Sicherheit zu vermitteln. Im Vordergrund stand ihre emotionale Beziehung zu ihrem Kind. Leider gelang es nicht, die Partnerin in diesen Prozess einzubeziehen. Sie war nicht interessiert. Heute lebt Frau F. mit ihrem Kind in einer relativ stabilen familiären Lebenssituation. Sie hat sich von ihrer Partnerin getrennt, als das Kind sechs Monate alt war, da diese keine Verantwortung als Elternteil annehmen wollte.

Neuartiges Kompetenzprofil

Vor dem Hintergrund der neuen Herausforderungen für junge Familien mit veränderten familiären Lebensformen, besonderen Lebensumständen und Gesundheitsstörungen in der Frühphase der Elternschaft, hat sich mit der Familienhebamme ein neuartiges Kompetenzprofil herausgebildet.

Familienhebammen sind staatlich examinierte Hebammen mit einer Zusatzqualifikation. Sie fördern die Gesunderhaltung von Mutter, Vater oder anderen primären Bezugspersonen und des Säuglings bis zu seinem ersten Geburtstag.

Die Besonderheit der Arbeit liegt auf der erhöhten psychosozialen Beratung und Betreuung von vulnerablen, unsicheren schwangeren Frauen, Müttern, Vätern oder primären Bezugspersonen des Säuglings. Die Betreuung erfolgt im Rahmen einer langfristigen, einzelfallbezogenen, aufsuchenden und niedrigschwelligen Begleitung der Familien. Hinzu kommt die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit anderen Institutionen und Berufsgruppen im Sinne der Gesundheitsförderung, der primären und sekundären Prävention. Bei der primären Prävention geht es darum, Gesundheit zu fördern, zu erhalten und die Entstehung von Krankheiten oder Störungen so gut wie möglich zu verhindern. Sekundäre Prävention bedeutet, das Fortschreiten einer Krankheit oder Störung zu verhindern. Familienhebammen sind in der Regel für kommunale oder freie gesundheitliche oder soziale Träger tätig. Sie können fest angestellt sein oder eine Honorarvereinbarung haben, die sich auf den Einzelfall bezieht. Ihre Leistung wird von dem jeweiligen Träger vergütet.

Fallbeispiel: Neues Leben in einem fremden Land

Frau B. aus Togo habe ich im Rahmen meiner Tätigkeit als Familienhebamme kennengelernt, als sie 21 Jahre alt war. Zum Zeitpunkt unseres Erstkontaktes war sie schwanger. Sie war mit ihren Eltern und Geschwistern über Italien nach Deutschland geflüchtet und war als asylsuchend registriert. Sie hatte sich in einen Deutschen verliebt und war von ihm schwanger geworden. Für die Eltern war es ein Schock. In ihrem Kulturkreis bedeutet es, dass die Tochter sofort heiraten müsste. Nachdem ihr Freund – der Vater des Kindes – sie verlassen hatte und ihre Eltern sie verstoßen haben, ist sie innerhalb Deutschlands ein zweites Mal »geflüchtet«. Nun war sie in einer fremden Stadt zum ersten Mal ganz auf sich allein gestellt, ohne die Unterstützung ihrer Eltern und in einer finanziell sehr unsicheren Situation. Frau B. spricht Englisch und Französisch, hat in ihrem Heimatland eine gute Bildung genossen und ihre Familie war in Togo hoch angesehen.

Begleitung und Betreuung

Ich habe Frau B. in der Schwangerschaft als durch und durch unsicher wahrgenommen. Alle Stützpfeiler ihres Lebens – Heimatland, Eltern, Freunde, Liebe – waren weggebrochen. Sie wusste nicht, ob sie das Kind behalten soll, war ambivalent über ihre Liebe zum Kind, da der Vater des Kindes sie im Stich gelassen hat. Sie fürchtete, dass kein anderer Mann sie jemals heiraten würde als Mutter mit einem Kind. Aus ihrer Sicht war ihr Leben vorbei. Hinzu kamen ihre unsicheren Lebensumstände: Wo kann sie zukünftig mit ihrem Kind leben? Woher bekommt sie ihr Geld, um zu überleben? Wie kann sie sich verständigen? Wie kann sie mit ihren Geschwistern Kontakt halten und sie sehen, ohne mit ihren Eltern in Konflikt zu geraten, zu denen sie nicht mehr zurück will? All diese Fragen stellten sich vor dem Hintergrund ihres unklaren Aufenthaltsstatus.

Ziel meiner Begleitung und Betreuung von Frau B. war es, ihre multiplen Sorgen und Schwierigkeiten wahrzunehmen und zu priorisieren, um so die Schwangerschaft und die Beziehung zu ihrem Kind zu stabilisieren.

Da die Schwangerschaft medizinisch betrachtet komplikationslos verlief, lag der Fokus der Betreuung einerseits darauf, Frau B. zu helfen, eine stabile Bindung zu ihrem Kind aufzubauen. Andererseits habe ich Frau B. an kommunale Partner im Netzwerk Frühe Hilfen vermittelt: Das Amt für Migration, das Wohnungsamt, ein Kinderarzt und Mitarbeitende des kommunalen Jugendamtes konnten mit ihren Angeboten und Kompetenzen Frau B. in Fragen ihrer zukünftigen Lebensführung weiterhelfen. Teilweise haben wir diese Termine zusammen wahrgenommen. Heute lebt Frau B. mit ihrem Kind in einer stabilen Lebenssituation, soweit das trotz des unklaren Aufenthaltsstatus möglich ist. Sie wird weiterhin von einer Familien-Gesundheits-Kinderkrankenpflegerin aus dem Team Frühe Hilfen betreut. Wenn nötig, können wir dies aufrechterhalten, bis das Kind drei Jahre alt ist.

Fallbeispiel: Elternwerden mit Hindernissen

Frau C. ist Engländerin, 26 Jahre alt und lebt mit ihren Eltern und Geschwistern in Deutschland. Sie arbeitete hier als Tänzerin und wurde ein Jahr nach Beginn eines Engagements in einem Musical schwanger. Der Vater des Kindes war nicht erfreut über die Schwangerschaft. Er arbeitete in dem gleichen Musical, wollte als Darsteller und Tänzer Karriere machen und unabhängig bleiben. Auch für die Eltern von Frau C. war es ein Schock. Die Mutter von Frau C. wollte in Deutschland mit der Familie neu anfangen. Sie war selbst sehr jung schwanger geworden und konnte deshalb keine Karriere als Tänzerin machen. Ihrer Tochter wollte sie die eigene verwehrte Karriere ermöglichen. Frau C. sah ihr Leben ruiniert, da sie ihre Tänzerinnenlaufbahn mit der Schwangerschaft als beendet betrachtete. Hinzu kam, dass sie sich in einer finanziell sehr unsicheren Situation befand und kein Deutsch sprach. In der Schwangerschaft entwickelte Frau C. Symptome, die auf ein mögliches HELLP-Syndrom hindeuteten.

Begleitung und Betreuung

Zum Zeitpunkt des Erstkontaktes war Frau C. in der 22. Woche schwanger. Die Aufgabe als Familienhebamme war hier vielschichtig: Wichtig war die medizinische Betreuung, um sicherzugehen, dass sie kein vollständiges HELLP-Syndrom entwickelte. Zusammen mit einer freiberuflichen, englischsprechenden Hebamme wurde eine lückenlose Betreuung sichergestellt. Sehr regelmäßige begleitete Besuche beim Frauenarzt gehörten dazu. Des Weiteren konnte ich sie als Familienhebamme dabei unterstützen, ihre Lebensumstände zu stabilisieren. Durch regelmäßige Besuche beim Wohnungsamt, in einer evangelischen Beratungsstelle, beim Amt für Europäische Migration und bei Schwangerschaftsberatungsstellen sorgten wir für finanzielle Unterstützung und eine eigene Wohnung. Vorrangigstes Ziel meiner Begleitung und Betreuung von Frau C. war es, früh die sich andeutende Erkrankung abzuklären. Durch eine passgenaue Begleitung wollte ich die Einstellung und Beziehung zu ihrem Kind positiv beeinflussen. Gerade in der Anfangsphase der Begleitung war ein guter Kontakt zu der freiberuflichen Hebamme und dem Frauenarzt wichtig.

Heute lebt Frau C. mit ihrem Kind, dessen Vater und ihren Eltern in Australien, da sie ein Jahr nach der Geburt ihres Kindes ein lukratives Angebot als Tanzlehrerin in Sydney bekommen hat.

Beispiele:
Wann sollte eine Familienhebamme begleiten?

Einige beispielhafte Lebensumstände, aufgrund dessen eine Begleitung durch eine Familienhebamme angeraten ist:

  • Eltern mit mindestens einer besonderen psycho-sozialen, medizinischen Belastung
  • Überforderung durch erhöhten Fürsorgeanspruch des Kindes
  • Schwierigkeiten bei der Annahme des Kindes
  • körperliche oder geistige Behinderung der Mutter oder des Kindes
  • Vernachlässigung der Versorgung des Säuglings, Verdacht auf Vernachlässigung
  • Eltern mit Suchtproblemen: Alkohol, Drogen
  • Mütter mit psychischer Erkrankung: schwere Depression, Psychose
  • geringer sozio-ökonomischer Status (zum Beispiel arbeitslose, von Sozialhilfe/Harz IV abhängige oder überschuldete Mütter oder Eltern)‏
  • mangelnde soziale Unterstützung, soziale Isolation
  • geringer Bildungsstand (Sonderschule, kein Schulabschluss, keine Ausbildung)‏
  • Gewalt in der Herkunftsfamilie (körperliche und psychische Gewalterfahrung als Kind)
  • Menschen aus anderen Kulturen (mangelnde Deutschkenntnisse, mangelnde soziale Kenntnis im Umgang mit dem Gesundheitssystem, Beratungsstellen, Ausländerbeauftragten oder Ämtern)‏
  • nach Trennung von Mutter und Kind (zum Beispiel Frühgeborenes, stationärer Aufenthalt der Mutter oder des Kindes)
  • allein lebende Schwangere, alleinerziehende Mütter und Väter
  • Schwangere mit zusätzlichem Kleinkind unter zwei Jahren
  • Mütter oder Eltern mit vier oder mehr Kindern unter zehn Jahren
  • Analphabetin und mangelndes soziales, gesundheitsbezogenes Wissen
  • Schwangere und Mütter, die in einer Einrichtung leben (zum Beispiel im Frauenhaus)
Zitiervorlage
Jaque-Rodney J: Die Arbeit der Familienhebamme: Anders und doch gleich. DEUTSCHE HEBAMMEN ZEITSCHRIFT 2017. 69
(10): 39–42
Literatur

Bundessministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSJ): Verwaltungsvereinbarung Bundesinitiative Netzwerke Frühe Hilfen und Familienhebammen 2012. https://www.fruehehilfen.de/fileadmin/user_upload/fruehehilfen.de/pdf/Verwaltungsvereinbarung_zur_Bundesinitiative.pdf (letzter Zugriff: 28.8.2017)

Nationales Zentrum Frühe Hilfen (NZFH): https://www.fruehehilfen.de/bundesinitiative-fruehe-hilfen/familienhebammen/ (letzter Zugriff: 28.8.2017)

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