Die Trauer nach dem Verlust des eigenen Kindes ist kaum zu bewältigen, noch schwerer ist es, wenn quälende Schuldgefühle hinzukommen. Foto: © trauerumflorian.blogspot.com
Der eigentliche Akt der Durchführung des Fetozids ist ein kleiner Teil einer meist sehr leidvollen Geschichte für alle Beteiligten. Wenn die Frauen zur Geburt kommen, haben sie schon eine Reihe traumatischer Erfahrungen und Ereignisse hinter sich. Vom Schock der ersten Diagnose über alle Phasen des Entscheidungsprozesses werden diese Paare und Frauen auf das Äußerste gefordert. Liegen Diagnostik und Durchführung des Fetozids in fachärztlicher Hand, so ist es Aufgabe der Hebamme, die Frau zu betreuen, sie aufzunehmen, über ihre Wünsche und die Anforderung der anstehenden Geburt zu sprechen und sie dabei zu begleiten.
Dass dies für Hebammen eine besondere Anforderung in ihrem Beruf darstellt, steht außer Frage. Wie erleben Hebammen diesen Teil ihres Berufes? Dazu folgende Fallgeschichte.
Meine erste Begleitung einer Frau bei einem Schwangerschaftsabbruch nach einem Fetozid hat mich sehr berührt. Meine damalige Patientin war eine zutiefst traurige und schwer gezeichnete Frau. Sie brachte ihr zweites Kind nach vorangegangener Pränataldiagnostik (PND) in der 24. Schwangerschaftswoche nach einem Fetozid bei mir zur Welt.
Frau G. war Mitte 30, Lehrerin und wünschte sich für ihre kleine Tochter noch ein Geschwisterchen. Sie kam aus einer Region, die sich durch einen besonderen Dialekt auszeichnet, für manche schwer verständlich, für mich eine durchaus vertraute Sprache, weil mein Lebensgefährte aus diesem Teil des Landes kommt. Wir verstanden uns gut, sofern man dies angesichts der Tragik überhaupt sagen kann. Nach der Diagnose, die ein Kind mit multiplen massiven Fehlbildungen erwarten ließ, entschlossen ihr Mann und sie sich zu dieser Art der Schwangerschaftsbeendigung. Die Geburt verlief ohne medizinische Komplikationen. Der Partner von Frau G. war beim Schwangerschaftsabbruch in der Klinik nicht anwesend, er musste die kleine Tochter versorgen. Mir war bewusst, dass in solchen Situationen der Betreuungsbedarf steigt. Meine Zeit erlaubte es mir, nahezu ununterbrochen bei Frau G. zu bleiben. Sie fasste Vertrauen zu mir, wir plauderten ein bisschen über ihre Heimat und welche unsere gemeinsamen Bekannten waren. Als das kleine Kind dann geboren wurde, brach der ganze Schmerz los, Tränen flossen. Frau G. schrie, weinte und fragte verzweifelt nach dem „Warum?“
Das leblose Bündel lag in ihren Armen, als wir beide nahezu zeitgleich auf das kleine Kind blickten. Ich werde nie den Anblick des kleinen Brustkorbes vergessen, der unverkennbar einen Einstich auf der Herzseite aufwies. Damit hatten wir nicht gerechnet. Ich habe schon viele stille Geburten begleitet, es waren alles sehr traurige Ereignisse. Aber die Kinder kamen immer ohne sichtbare Verletzungen auf die Welt. Sie mögen missgebildet, mazeriert und tot gewesen sein, aber sie waren „unversehrt“. Dieser kleine Junge war es nicht mehr.
Ich hatte nicht im Traum daran gedacht, dass man den kleinen Einstich sehen würde. Noch weniger hätte ich gedacht, dass mich dieser Anblick der offensichtlichen Manipulation durch Menschenhand so sehr mitnehmen würde. Die Tatsache der augenscheinlichen Todesursache – die bei anderen stillen Geburten nicht so offensichtlich ist – hat mich sehr nachdenklich gemacht.
Der Schmerz in den Augen, die Schuldgefühle, an denen Frau G. zu zerbrechen drohte, ließen sie folgende Frage fast tonlos flüstern: „Hättest du es auch gemacht?“ Sie flehte förmlich um Absolution. Sie fixierte mich, wartete auf Antwort und blickte beschämt zu Boden, als ich nicht sofort antwortete. Ich sagte völlig mundtrocken: „Ja.“
Als Frau G. nach 24 Stunden den Kreißsaal verlassen durfte, rang sie mir noch das Versprechen ab, niemandem etwas zu sagen. Meine Verschwiegenheitspflicht reichte ihr nicht aus, zu groß war die Angst, dass etwas nach außen dringen könnte. Sie würde jedem, der fragt, erklären, dass das Kind tot auf die Welt gekommen sei. Der kleine Junge wurde auf Wunsch der Familie kremiert und die kleine Urne im Garten beigesetzt. Von Frau G. hörte ich nie wieder.
Mit der Frage, ob ich es auch gemacht hätte, überraschte mich Frau G. Mein kurzes Zögern bezog sich nicht auf die Überlegung, ob ich es nun machen würde oder nicht. Vielmehr brauchte ich die Pause, um mir klar zu werden, dass uns beiden jetzt nur diese Notlüge helfen würde.
Man kann jetzt durchaus die Meinung vertreten, dass ich nicht hätte lügen sollen. Aber auch heute noch sagt mir mein Bauchgefühl, dass ich richtig entschieden habe. Hätte ich die Wahrheit gesagt, dann hätte ich – bildlich gesprochen – das Streichholz an den Zunder gehalten, um Frau G. auf dem Scheiterhaufen anzuzünden. Schuldgefühle sind eng mit der Pränataldiagnostik verbunden, einerseits mit der Durchführung und ihren Konsequenzen (Abbruch), andererseits auch mit der Nicht-Durchführung („Hätte ich es doch bloß gemacht.“). Eine Beschreibung für den Begriff Schuld findet sich im Brockhaus von 1956: „Schuldbewusstsein beschreibt eine Belastung der Seele, die durch Schuld auf einen Menschen geladen wird. Jemand, der Schuldbewusstsein empfindet, sehnt sich nach Sühne, um eine instabile moralische Ordnung wiederherzustellen.“ Bei meiner Arbeit bei Schwangerschaftsabbrüchen nach PND erlebe ich diese starke Emotion immer wieder.
Diese quälenden Schuldgefühle, die einem innerlichen Zerfleischen nahekommen, die nach Wiedergutmachung schreien, die die Fröhlichkeit über Jahre hinweg rauben, diese starken aufwühlenden Gefühle kenne ich sehr gut aus meiner Arbeit mit vorzeitigen Schwangerschaftsbeendigungen. Ich habe sie sonst kaum in meinem Leben gesehen. Es bricht einem das Herz, wenn man dieser seelischen Unruhe gewahr wird, wenn man sieht, wie sich diese Frauen quälen, darunter leiden und sich selbst bestrafen. Nicht anders verhielt es sich bei Frau G. Es war offensichtlich, dass sie im permanenten Konflikt mit sich selbst stand. Ihre innere Zerrissenheit war ununterbrochen spürbar. Die Entscheidung, ein Leben aktiv zu beenden, stellt man sich normalerweise nicht. Als guter Mensch und Mutter sowieso nicht. Das Leben ist schützenswert, so die gängige Moralvorstellung. Wenn man nicht gerade ein Soziopath und Massenmörder ist, dann vertritt man gemeinhin das Prinzip der Unantastbarkeit des Lebens, eine gute und sichere Einstellung, die mit unseren abendländischen christlichen Werten in Einklang steht. Und dann kommt man auf einmal in eine Situation, in der man plötzlich gezwungen wird, über Leben und Tod zu entscheiden. Diese Last der Verantwortung auf Frau G.‘s Schultern war unübersehbar. Der Fetozid war bereits erfolgt, als ich sie kennenlernte. Dennoch war ihr Konflikt weiterhin akut – und damit ihre Schuldgefühle, die in der Frage gipfelten, ob ich es auch getan hätte.
Schuld und Schuldgefühle mit ihren schier unerträglichen Facetten sind uns allen wohlbekannt. Man sehnt sich danach, diese negativen Gefühle so schnell wie möglich wieder loszuwerden. Als empathiefähiger Mensch leidet man förmlich mit, wenn man tiefes Schuldbewusstsein bei anderen Personen wahrnimmt. Eine unserer ersten Strategien ist, den Versuch zu unternehmen, solche Gefühle erst gar nicht aufkommen zu lassen. Sind sie erst mal da, wird versucht, sie so schnell wie möglich wieder zum Verschwinden zu bringen. Vielleicht sollten wir schlicht anerkennen, dass sie zu unserem Leben dazugehören. Ihnen Raum geben, sie als einen Teil unserer Geschichte akzeptieren. Konkret soll dies in Bezug zum Abbruch bedeuten, dass manche Frauen sich massiv schuldig fühlen, vielleicht auch schuldig fühlen „müssen“, um damit einen ersten Schritt in Richtung Heilung antreten zu können. Da nützen wohlwollende Ratschläge und Versicherungen wenig, dass dies das Beste für alle Beteiligten gewesen sei.
Die Pränataldiagnostik ist ein Paradebeispiel für einen innerseelischen Konflikt. Auf der einen Seite stehen die gängigen, christlichen Werte („Du sollst nicht töten“), auf der anderen lastet die Verantwortung, ein gesundes Kind zur Welt zur bringen, auf den Schultern der Schwangeren. Die PND gaukelt eine scheinbare Sicherheit vor. Für verantwortungsbewusste Schwangere gehört die PND mit all ihren Konsequenzen heutzutage quasi schon zum Standardprogramm. Sie ist aber unbestreitbar nicht in Einklang mit dem Recht auf Leben zu bringen.
Nicht nur die Schwangere steht vor einem Dilemma, auch die Berufsgruppe der FrauenärztInnen muss sich mit diesem ethischen Konflikt auseinandersetzen. Einerseits sind FachärztInnen verpflichtet, das gesundheitliche Wohlergehen der Schwangeren zu gewährleisten, andererseits sind sie an das medizinethische Nichtschädigungsgebot (Tötungsverbot) gebunden. Mütterliches Wohlergehen und die Erwartung eines behinderten Kindes schließen sich oft aus. Was tun? Die Verantwortung wird an die Eltern abgewälzt. Unter dem Deckmantel der elterlichen Kompetenz zieht sich die Medizin aus der Affäre (Haker 2012).
Natürlich ist eine Hebamme auch nur ein Mensch und bringt ihre eigenen ethischen Wertvorstellungen mit. Sozialisation und Erziehung lassen sich nicht einfach abstreifen. Während ÄrztInnen zur Durchführung eines Fetozids durchaus eine ablehnende Haltung einnehmen können und die Durchführung auch verweigern können, liegt die Kompetenz der Geburtsbegleitung auch bei erfolgtem Fetozid in der Obhut der Hebamme, die in einem Angestelltenverhältnis nicht sehr viele Wahlmöglichkeiten hat. Wie nun umgehen mit solchen Situationen, wenn ein Wertekonflikt droht?
Für mich leite ich folgendes Behandlungskonzept ab: Ich vertrete vielleicht andere ethische Gesichtspunkte, befinde mich deshalb aber noch lange nicht in Konflikt mit anderen Anschauungen. Konflikt bedeutet für mich, dass ich zögere und hadere, etwas zu tun, was mir zutiefst zuwider ist. Meine Aufgabe bei der Begleitung von stillen Geburten liegt in der Betreuung der Frau, einem für mich völlig konfliktfreien Feld.
Ich sehe es als Teil meines Berufes und meiner Berufung, den Frauen die Unterstützung zukommen zu lassen, die vonnöten ist, um auf die jeweiligen Situationen eingehen zu können. Wichtig sind mir in diesem Zusammenhang vor allem Stärkung und Selbstbestimmung der Frau. Es gibt Frauen, die aus schrecklichen Schwangerschaftsverläufen gestärkt und mutig hervorgehen, das sehe ich als eines meiner Ziele. Respekt und die Unantastbarkeit gefällter Entscheidungen helfen mir dabei, mich sehr gut abzugrenzen.
Ich habe erlebt, wie Frauen an den Ausgängen ihrer Schwangerschaften nahezu zerbrochen sind. Wie sie von Schuldgefühlen zerfressen wurden, wie die Freude über Jahre hinweg aus ihren Gesichtern verschwunden ist. Zwar zeigen Studien, dass Frauen nach Schwangerschaftsabbrüchen kein erhöhtes Risiko für psychische Folgeerkrankungen haben, sofern keine psychiatrische Vorgeschichte vorliegt. Dennoch findet sich auf der Internetseite der Schwangerschaftsabbruch-Infostelle ein Satz, der sich mit meinen Erfahrungen deckt: „Ein erhöhtes Risiko für negative Reaktionen besteht überdies bei Frauen, die eine ursprünglich erwünschte Schwangerschaft abbrechen müssen (aus medizinischen Gründen) … bei denen die Schwangerschaft weit fortgeschritten ist … “ (Rey 2016). Ich habe aber auch beobachtet, dass all jene Frauen, die sicher und entschlossen ihren Weg gegangen sind, durchaus gestärkt aus diesen Erfahrungen hervorgehen können. Umso wichtiger scheint es, allen Frauen genügend beratende Maßnahmen zur Verfügung zu stellen, damit sie ihren Weg gut gehen können. Erst wenn den Frauen das Selbstbewusstsein ermöglicht wird, ihre Entscheidung gut treffen zu können, dann gehören hadernde und vor Schuld zerfressene Frauen vielleicht nicht ganz der Vergangenheit an, aber wir könnten helfen, dass es weniger werden. Dazu gehört eine gute Beratung, das Aufzeigen von Möglichkeiten und Wegen, um mit solchen Situationen gut umgehen zu können.
Der beschriebene Fall liegt mehrere Jahre zurück. Es war eine sehr eindrückliche und auch bedrückende Erfahrung. Vielleicht zeigen mir diese Fälle immer wieder, dass diesen Frauen Respekt gezollt gehört, welchen Weg sie auch immer eingeschlagen haben. Es sind schreckliche und grausame Situationen, die den Frauen alles abverlangen. Meine Hochachtung gilt ihnen.
Hinweis: Die Autorin ist der Redaktion bekannt.