Angst, Trauer und Wut
10,9 % der Teilnehmenden sind erstaunt über ihre Antworten, 13,7 % schämen sich und 13,9 % geben Schuldgefühle an. 30,5 % der Hebammen sind deprimiert und etwa genauso viele (31,1 %) erleichtert, dass es ihnen vergleichsweise gut geht. Mehr als jeweils 60 % der Teilnehmenden werden beim Nachdenken über die Gewalt traurig oder wütend über das, was sie erleben oder beobachten müssen und mussten.
Einige Hebammen beschreiben ihr Empfinden so:
- Angst davor abzustumpfen, gewalttätig zu werden »und es selbst nicht mehr zu merken«
- Angst vor den Folgen des Miterlebens von Gewalt für die eigene Gesundheit
- schockiert, überrascht oder ungläubig über das Ausmaß der Gewalt
- Erleichterung/Freude/Dank/Entlastung, dass es erfragt wird
- Gefühl, sich »anzustellen«, weil es anderen schlechter geht
- Ohnmacht
- froh über die eigenen Stärken anhand derer sie/er es überstanden hat
- in eigener Wahrnehmung bestätigt durch die Umfrage
- psychische Langzeitfolgen
- als Selbst-»Täterin« alleingelassen worden sein
- fehlende theoretische Ausbildung zu struktureller Gewalt, Sexismus, Bewältigungsstrategien
- Trauer über eigenes Unvermögen, darüber zu sprechen oder etwas zu ändern
(Sommer 2020)
Berufliche und gesundheitliche Folgen
Bei extremer Gewalt oder wenn Menschen lange Gewalt und chronischer Belastung ausgesetzt sind, sind negative Auswirkungen auf Gehirn und Nervensystem möglich, was wiederum die Reaktionen in späteren stressvollen Momenten beeinflusst. Bei sogenannten Affekthandlungen, die zu solchen Reaktionen gehören, ist die bewusste Steuerung des Verstandes und des Körpers beeinträchtigt. Affekte, die in bestimmten, besonders stressreichen Situationen auftreten, werden so gespeichert, dass sie in vergleichbaren Situationen automatisch das Lernen beeinflussen (Stangl 2019; Levine 2019; Hantke & Görges 2012; Huber 2012; Ciompi 2011).
So kann sich Gewalt als Stress-Antwort, als Belastungsreaktion und vermeintliche Bewältigungsstrategie, als praxisleitender Affekt in unreflektierten geburtshilflichen Routinen und Ritualen transgenerational fortsetzen. Es ist daher unbedingt nötig, die Diskussion über Gewalt in der Geburtshilfe durch die Auseinandersetzung mit dem Erleben von Gewalt in der Hebammenausbildung zu erweitern.
Gewalterleben während der Ausbildung hat Folgen – sowohl beruflich als auch persönlich und gesundheitlich. Mehr als jede zehnte Hebamme hat durch die Ausbildung gesundheitlich Schaden erlitten, ist traumatisiert oder retraumatisiert. Bei 15,6 % kommt es vor, dass sie sich dabei ertappen, unreflektiert etwas zu tun, was man eigentlich auch als Übergriff oder sogar Gewalt bezeichnen könnte. 34,3 % haben Angst, keine gute Arbeit zu machen (Sommer 2020).
An den Ergebnissen der Umfrage ist zu sehen, dass viele Hebammen im Laufe ihrer Ausbildung und danach vermehrt Belastungssymptome an sich beobachten. Dazu gehören für mehr als 70 % Unruhe, Schlafprobleme und/oder übermäßiges Grübeln. Jede zweite bis dritte Hebamme beschreibt eine Zunahme von unbestimmter Angst, Konzentrationsschwierigkeiten, Minderwertigkeits- und/oder Schuldgefühlen, Zukunftsangst, Antriebslosigkeit, Hoffnungslosigkeit, innere Leere und/oder Problemen im Alltag. Zunehmende Gefühllosigkeit und/oder in einen dissoziativen Zustand zu verfallen, hat jede dritte bis vierte Hebamme einmal oder öfter ausbildungsbedingt an sich bemerkt. Jede zehnte Hebamme hat während ihrer Ausbildung mindestens einmal daran gedacht, ihr Leben zu beenden (Sommer 2020).
All diese Phänomene gehören zum Symptombild von posttraumatischen Stressregulationsstörungen (Benecke et al. 2008; Huber 2012).
Psychosomatische Symptome
Etwa jede:r zehnte Teilnehmende zeigt sich erstaunt über die eigenen Antworten auf die Fragen zum Gewalterleben, schämt sich und/oder zeigt Schuldgefühle.
Schuld- und Schamgefühle sind physiologische Reaktionen auf das Erleben von potenziell traumatisierenden Erlebnissen. Werden sie nicht reflektiert und bearbeitet, können sie einen wesentlichen Einfluss auf den Umgang mit späteren Stresssituationen, auf die Arbeit und auf Lehrmethoden haben. Sie können zu Gefühlen wie Angst oder Wut führen, mit psychosomatischen Symptomen wie Herzrasen, Schweißausbrüche, Zittern, Kopfschmerzen, Bluthochdruck. Es gibt viele Strategien, mit denen Menschen versuchen, Scham abzuwehren– oft unbewusst. So kann es passieren, dass Betroffene besonders arrogant auftreten und andere permanent abwerten. Manche geben sich dagegen sehr bescheiden und beugen so möglicher Beschämung vor. Andere kompensieren durch Scham entstandene Minderwertigkeitsgefühle durch Perfektionismus (Stangl 2021).
Scham und Schuld werden wie Stolz den sogenannten »sozialen Gefühlen« zugeordnet. Sie gelten als sozial konditionierte Gefühle, die bestimmte Verhaltensweisen anerziehen sollen. Besonders das von Kolleginnen beschriebene öffentliche Beschämen von WeHen soll sicher eine solche Wirkung erzielen. Schamgefühle in Verbindung mit empfundener Sprachlosigkeit können zu vermehrtem Grübeln führen und andere Belastungssymptome hervorrufen, die wiederum zu Affekthandlungen in existenziellen oder stressreichen Situationen beitragen könnten. Da mehr als jede zehnte Hebamme mit Schamgefühlen an ihre Ausbildung zurückdenkt, wäre interessant, dies in Bezug auf die transgenerationale Weitergabe von Gewalt in der Hebammenausbildung genauer zu untersuchen.
Schuldgefühle folgen bewusst oder unbewusst auf etwas, das als Fehlverhalten eingeordnet wird. Schuld als Begriff aus dem Umgang mit Geld steht für etwas, das bezahlt oder ausgeglichen werden muss. Als Bestandteil religiöser Ordnungen wird Schuld über »Sünden« definiert mit entsprechenden Ritualen zur Abbitte. Das Gefühl, schuldig oder mitschuldig zu sein, kann das Gefühl sein, etwas versäumt zu haben, etwas »schuldig geblieben« zu sein oder Schuld zu übernehmen für etwas, das andere getan haben (Huber 2015). Amerikanische Sozialpsycholog:innen haben herausgefunden, dass Menschen, die besonders zu Schuldgefühlen neigen, scheinbar vertrauenswürdiger wirken und oft mehr Verantwortung übernehmen. Das kann jedoch auch anfällig machen für Manipulationen durch andere. In der Geburtshilfe und auch in der Hebammenausbildung werden Schuldgefühle oft als Druckmittel und zur emotionalen Erpressung eingesetzt: Wird eine Intervention hinterfragt oder eine Routine angezweifelt, wird Schuld an einer möglichen Gefährdung des Kindes angedroht. Oft führt das zu einer lang andauernden emotionalen Belastung (Stangl 2021).
Umgang mit Belastungen
Regelmäßig oder bei Bedarf Supervision gehört für 92,5 % der WeHen und Hebammen nicht zum Konzept der Institution, für die sie arbeiten. 95,9 % zahlen auch nicht privat für Supervision. 6,8 % helfen sich im weitesten Sinn selbst mit Medikamenten, Alkohol, einer Essstörung, Zwängen, Selbstverletzung, Drogen oder ähnlichem. 18,7 % der Teilnehmenden geben an, es gehe ihnen gut mit der Situation. 3,2 % finden es in Ordnung, solange sie niemanden körperlich verletzen. 32,5 % der Teilnehmenden waren oder sind beunruhigt darüber, dass ihre ausbildungsbedingte Belastung negative Auswirkungen auf ihr Umfeld hat. 32,2 % versuchen, daran zu arbeiten, und beobachten Besserung. 23,5 % bemühen sich um Veränderung, schaffen diese aber nicht. 6,3 % wünschen sich, es würde jemand helfen, es in den Griff zu bekommen (Sommer 2020, 34–35).
Im Generationen-Vergleich nimmt die Toleranz von Gewalt als Bestandteil von Geburtshilfe zu, je weniger Berufserfahrung eine Hebamme hat. Deutlich mehr WeHen als Hebammen bejahen, dass eine gute Hebamme alles Erdenkliche aushalten müsse (8,2 % WeHen zu 2,6 % Hebammen), und dass eine Hebamme »nicht zimperlich sein« dürfe (14,2 % zu 5,3 %). 69,7 % derer, die finden, wer gut genug ist, halte alles aus, sind WeHen (Sommer 2020, 45).
WeHen sind Zeug:innen von Gewalt
Viele Hebammen und werdende Hebammen sehen sich nicht als Opfer von Gewalt, obwohl sie ihr direkt und indirekt ausgesetzt sind. In den Ergebnissen des WeHen-Belastungstests und in der Arbeit mit WeHen wird deutlich, wie viele sich schämen und schuldig fühlen. Es ist erschreckend, wie wenig das thematisiert wird – und mehr noch: Dass vielen nicht bewusst ist, wie es ihnen geht. Manche werden nie darauf angesprochen. WeHen sind Zeug:innen von Gewalt, vor allem im Kreißsaal. Sie nehmen sich als mindestens mitschuldig daran wahr. Wie prägend und belastend das ist, vor allem wenn es unbearbeitet bleibt, merken wir erst, wenn wir miteinander ins Gespräch kommen und uns damit beschäftigen. Tun wir das nicht, nehmen wir in Kauf, dass die Gewalt und die Traumatisierungen, die sie hinterlässt, weiterleben und weitergegeben werden.
Stattdessen sollten wir einander und vor allem werdende Hebammen ermutigen, zu spüren und darüber zu sprechen, wie es uns geht. Wir sollten sehen, wie elend sich manche fühlen, und bemerken, wenn sie verstummen. Wir dürfen uns nicht zu Kompliz:innen schlechter Bedingungen machen (lassen). Wir müssen alarmiert sein, wenn werdende Hebammen, wir selbst und andere Kolleg:innen nicht mehr berührt sind von dem, was geschieht — weder positiv noch negativ. Wir müssen darüber sprechen, dass Gewalt passiert, und uns mit den Betroffenen solidarisieren. Wir müssen hinsehen, wenn relativiert, kompensiert, ritualisiert wird. Denn wie die Psychotherapeutin und Supervisorin Michaela Huber nicht müde wird zu zitieren: »Wer ein Trauma nicht realisiert, ist gezwungen, es zu wiederholen oder zu reinszenieren« (Huber 2015; Pierre Janet 1902).