»Maßlosigkeit von Bedürfnissen«
Hebammen begegnen in ihrem beruflichen Alltag »sehr viel Bedürftigkeit« und einer »Maßlosigkeit von Bedürfnissen«. Dieses Erleben kann dazu führen, dass sie sich situativ überflutet fühlen. Sie sind konfrontiert mit sehr unterschiedlichen Menschen und Familienkulturen, die ihnen fremd sein und sie befremden können. In diesen Situationen erleben sie oft Verwunderung, Unverständnis oder Frustration. Sie geraten in ein konfliktträchtiges Spannungsfeld von Normalität und eigener Normativität. Sie stehen unter ständigem Druck, durch Rahmenbedingungen ihres Berufs.
In der Ausbildung erworbene Kompetenz und berufliche Erfahrung bieten Lösungen für diese Spannungen. Berufliche Praktiken können jedoch auch scheitern, wenn Befremdung oder Überflutung zu stark werden, wenn die professionelle Distanz verloren geht, um den Herausforderungen und Grenzen solcher Situationen zu begegnen.
Das Forschungsprojekt nimmt Spielräume einer doppelten Ermöglichung mit dem Impuls »gesund leben lernen« in den Blick: Hebammen als Frauen mit einer eigenen Biografie und als berufstätige Frauen, die andere bei Schwangerschaft und Geburt begleiten. Wie lernen Frauen als Hebammen oder als Familienhebammen, die Handlungsfähigkeit anderer Frauen in Situationen rund um Schwangerschaft und Geburt zu erhalten und zu fördern? Und wie lernen sie, ihre Selbstsorge im Beruf zu fördern und auszubauen?
Zwischen Beruf und Berufung
Der historisch gewachsene Beruf der Hebamme ist im Umbruch. Ausbildung, berufliche Praktiken und gesellschaftliche Rahmenbedingungen verändern sich. Hebammen identifizieren sich mit dem Beruf, der als Berufung jedoch nicht mehr in die Zeit zu passen scheint. Im öffentlichen Diskurs erfolgt zwar eine Bestätigung, an dieser Sichtweise festzuhalten. Gleichzeitig verändern sich aber die Sichtweisen auf Schwangerschaft und Geburt zunehmend, sie orientieren sich an der Vermeidung medizinischer Risiken und an ökonomischen Erfordernissen des Gesundheitssystems. Diese Widersprüche erzeugen Druck, bedingen Ansprüche der Verfügbarkeit, der Leistungssteigerung und Qualitätskontrolle sowie ökonomische Fragen. Es herrscht die Erwartung, den Beruf Hebamme an diese Erfordernisse anzupassen und so zukunftsfähig zu machen, während strukturelle Rahmenbedingungen nicht grundlegend optimiert werden (Seiffert-Petersheim 2017, 479–484).
Als Folge entstehen Herausforderungen im beruflichen Alltag, die bei größter Anstrengung individuell nicht lösbar sind. Das führt zu der Frage, wie »gesund leben lernen« zum Element von Gesundheitsförderung werden kann, wie sich Gesundheitsförderung (Präventionsgesetz) und Qualitätsentwicklung (SGB V § 134 a) im Hebammenberuf sinnvoll verbinden und verankern lassen. Notwendige Voraussetzung für Lernprozesse dieser Art ist ausreichend Zeit und Raum in Ausbildung und beruflichem Alltag. Hebammen müssen die Zeiten für gesundheitsbezogene Leistungen ausweisen und in die Finanzierung einbeziehen, um die häufig angesprochene Hürde »zu wenig Zeit« überwinden zu können. Hierfür gilt es, die Rahmenbedingungen jetzt zu schaffen.
Tragfähige Lösungen entwickeln
Supervision und Coaching sind geeignet, um sich alltäglichen beruflichen Herausforderungen und Spannungen auf individueller und struktureller Ebene zuwenden zu können, um gemeinsam mit anderen tragfähige Lösungen zu entwickeln. Hebammen können für ihr berufliches Handeln davon profitieren.
Supervision, Coaching und andere berufsbezogene Interventionen unterscheiden sich als Beratungsformate. Inhaltliche Gemeinsamkeiten sind Beschäftigung mit der Arbeitswelt, mit beruflichen Praktiken, mit Aufgabenwahrnehmung und Rollengestaltung, mit Förderung von Selbstmanagement und Eigenverantwortlichkeit. Supervision oder Coaching arbeitet methodisch vielfältig mit Verfahren zur Reflexion beruflichen Handelns. Persönlichkeitsentwicklung ist dabei ein Element. Diese Beratungsformate sind nicht auf Linderung oder Heilung psychischer Störungen gerichtet. Im Fokus steht der Bezug zu Arbeitssituationen und zu persönlichen Perspektiven in der Auswirkung auf berufliches Handeln. Im Folgenden wird der Begriff Supervision für diese Beratungsformate verwendet.
Supervision öffnet einen Erfahrungsraum mit vertrauensvollen Arbeitsbeziehungen. Gemeinsames Lernen wird so möglich. In solchen Erfahrungsräumen kann sich bekanntes Wissen mit neuen Einsichten verbinden, indem andere Perspektiven auf eine Situation möglich werden. Die Orientierung an effektiven, schnell zu findenden Lösungen, die insbesondere im Berufsalltag von Hebammen häufig erwartet wird, tritt zurück. Die Fähigkeit, mit Unsicherheiten und Grenzen umzugehen, kann wachsen, wenn sich eine offene Haltung des Nicht-Wissens als innere Bereitschaft entwickelt, sich überraschen zu lassen und andere Zusammenhänge wahrzunehmen, die vorher nicht erkennbar waren. Für solche Lernprozesse spielen Reflexionen über Normen und Werte ebenso eine Rolle wie Auseinandersetzungen mit Fragen zu Grenzen oder Spiritualität.
Supervision bietet die Möglichkeit, in zeitlicher Begrenzung Fähigkeiten für alltägliche Situationen im Beruf gemeinsam weiterzuentwickeln. Dabei können die TeilnehmerInnen spezifische Konstellationen oder auch Krisen für sich befragen, ohne sofort »die Lösung« parat haben zu müssen oder einem Problem immer auf die gleiche Weise zu begegnen.
Solche Lern- und Erfahrungsräume kontinuierlich und verlässlich nutzen zu können, erscheint als eine notwendige Voraussetzung dafür, dass der berufliche Alltag von Hebammen und Familienhebammen nicht zur dauerhaften Belastung wird.