Lust auf Forschung
Am nächsten Tag gaben Dr. Gertrud Ayerle und Elke Mattern, Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Hebammenwissenschaft (DGHWi), einen spannenden Workshop zur Forschung. 50 Teilnehmende waren dabei. Zunächst wurden verschiedene Forschungsdesigns anhand von Forschungsfragen illustriert. Dann wurden die Teilnehmerinnen eingeladen, Interventionen in ihrer Hebammentätigkeit zu identifizieren, die in ihrer Wirkung nicht belegt seien. Auf dieser Basis wurden gemeinsam Forschungsfragen formuliert. Diskutiert wurden passende quantitative und qualitative Ansätze.
Die beiden Hebammenwissenschaftlerinnen hielten fest: »Im Rahmen der Akademisierung des Hebammenberufs ist zu erwarten, dass zukünftig eine zunehmende Anzahl an Forschungsvorhaben zur Hebammentätigkeit durchgeführt werden, an welchen Hebammen direkt oder indirekt beteiligt sein werden. Die Rolle einer Study Midwife könnte zukünftig für Hebammen mit einem Bachelorabschluss eine attraktive Aufgabe sein.« Die TeilnehmerInnen des Workshops betonten abschließend ihre Lust auf Forschung.
Zwei Schritte vor, einer zurück?
Prof.in Dr. Friederike zu Sayn-Wittgenstein-Hohenstein von der Hochschule Osnabrück hielt den Festvortrag »Geburtshilfe neu gedacht: Zwei Schritte vor – einen Schritt zurück?« Sie gab ihrer Freude über die neue S3-Leitlinie zur vaginalen Geburt am Termin Ausdruck und erklärte als revolutionäre Meilensteine: die Wiedereinführung des HT-Rohres zur intermittierenden Auskultation, die Aussprache gegen das angeleitete Pressen sowie die Vorgabe, dass nur noch unter strenger Indikation kristellert werden darf. Sie bedauerte, dass der von ihr mitentwickelte Expert:innenstandard für die Förderung der physiologischen Geburt, der in 13 Kliniken umgesetzt wurde, mangels finanzieller Mitteln 2019 nicht wie geplant verlängert werden konnte.
Als positiv beschrieb sie die 24 Hebammenkreißsäle in Deutschland und Arbeiten wie die Be-Up-Studie, deren Ergebnisse noch ausstehen würden, sowie die neue Lernortverknüpfung im Hochschulstudium. Sie betonte den Wunsch nach einer durchgängigen Eins-zu-eins-Betreuung, besonders bei pathologischen Verläufen, was beispielsweise in England längst Standard sei, nur in Deutschland noch nicht in die Praxis vorgedrungen sei – obwohl wissenschaftlich schon längst etabliertes Wissen.
Kontinuität der Betreuung
Im internationalen Fachforum »Continuity of Care« konnten drei Referentinnen zeigen, wie wichtig eine gute Bindung an eine Hebamme oder an eine kleine Gruppe von Hebammen ist, um etwa Frühgeburtlichkeit zu verhindern. Lisa Apini-Welcland, die junge Beauftragte für Internationale Zusammenarbeit beim ICM, begrüßte die von weither zugeschalteten Hebammen, etwa Dr. Kathryn Gutteridge, Präsidentin des Royal College of Midwives (RCM) in London. Diese hielt den Vortrag »Caring for Women when needing Midviwes the most«. Ihr Augenmerk galt besonders Frauen aus Familien mit einem niedrigen Einkommen sowie Migrant:innen und Asylant:innen. Eine gute kontinuierliche Betreuung dieser Frauen würde auch zur Zufriedenheit der Hebammen führen. Prof. Hora Soltani von der Hallam University in Sheffield, Großbritannien, Leiterin der Abteilung Maternal, Infant & Reproductive Health Research, stellte in diesem Zusammenhang den Onlinekurs Operational Refugee and Migrant Maternal Approach (ORAMMA) vor, durch den man die Fähigkeit erwerben soll, kultursensibler zu arbeiten.
Prof. Caroline Homer erläuterte, dass die Anzahl der Hebammen, die eine Frau in kontinuierlicher Betreuung von der Schwangerschaft bis zum Ende des Wochenbetts begleiten, möglichst kleiner als fünf sein sollte. Die australische Hebammenforscherin ist Co-Programmdirektorin für Gesundheit von Mutter und Kind am Burnet Institute in Melbourne und Gastprofessorin für Geburtshilfe an der University of Technology in Sydney. Auch sie betonte, dass besonders einkommensschwache Frauen von einer guten Unterstützung profitierten. Sie führte an, dass sich auch die WHO für eine kontinuierliche Betreuung von Hebamme stark mache.
Blick auf die Latenzphase
Einer der Themenblöcke widmete sich der Latenzphase. Dazu sprach die Hebamme Anna Hultsch, die derzeit in London am St. Mary´s Hospital tätig ist. Sie erläuterte vor allem die Anwendung der transkutanen elektrischen Nervenstimulation (TENS). TENS könne signifikant helfen, die Schmerzen zu bewältigen, und unterstütze das Empowerment der Frauen, indem diese die Stärke der Wirkung selbst bestimmen können. Die Elektroden sollten immer parallel angebracht werden: zwei in der Höhe von T10 und L1 (etwa in Höhe vom BH-Verschluss) und zwei darunter knapp über dem Gesäß in Höhe von S2 und S4.
Groß erklärte in ihrem Vortrag zum Thema, dass die Zervixreifung bis 6 cm länger dauere, als man früher annahm, und sie gab die Definition der Latenzperiode an: laut WHO bis 5 cm. Eine Statistik zur Geburtsdauer sei keine Gaußsche Verteilung im Sinne einer symmetrischen Kurve, bei der der Medianwert, der zentrale Wert einer Messreihe, gleichzeitig am häufigsten sei und daher genau in der Mitte der Kurve stehe. Die Latenzphase sei dagegen rechts schief und links steil verteilt. Der Median betrug in einer Studie 9 Stunden, der Mittelwert 11,8 Stunden bei Erstgebärenden – so die zitierten Angaben von Ellen L. Tilden von der School of Nursing at Oregon Health and Science University (OHSU) aus dem Jahr 2019. Tilden habe auf die Erkenntnis hingewiesen, dass Interventionen in der Latenzphase die Zahl der Spontangeburten nicht steigerten. Von einer prolongierten Latenzphase werde gesprochen, wenn sie länger als 18 Stunden betrage.
Groß zitierte auch aus einer eigenen früheren Studien: Demnach definierten die Frauen gewöhnlich den Geburtsbeginn früher als die Hebammen. Parameter waren Kontraktionen, Schleimabgang, gastrointestinale Beschwerden sowie Blasensprung. Bei Mehrgebärenden lagen die Angaben dazu zeitlich näher beieinander. Der Blasensprung war in beiden Gruppen der Wert, der dem von der Hebamme definierten Geburtsbeginn am nächsten lag.
Groß folgerte daraus, dass sich hier ein wichtiges Feld der Beratung auftut. Ihr Wunsch: mehr Hebammensprechstunden in Deutschland.
Die Hebammensprechstunde
Anja Siegle, die an der Universität Witten/Herdecke promovierte, erklärte ihre Untersuchungen der Hebammensprechstunde in zwei Kliniken. Die Sprechstunde sei ein zentrales Element des Nationalen Expert:innenstandards zur Förderung der physiologischen Geburt. In einer Implementierungsforschung, bei der verschiedene Methoden gesetzt wurden, fand sie heraus, dass die Umsetzungstreue (Adhärenz sowie Reaktion der Beteiligten), Durchdringung (Institutionalisierung sowie Routinisierung) und Nachhaltigkeit (Nutzen sowie Weiterentwicklung) überwiegend gut waren.
Die Hebammensprechstunde senkte die sekundäre Kaiserschnittrate von 40 % auf 35 % sowie die Zahl der medizinischen Interventionen wie Vakuumextraktionen oder Zangengeburten. Die Frauen seien eben besser informiert für die Geburt. Und auf die Wünsche, Ängste und Sorgen der Frauen könne besser unter der Geburt eingegangen werden, denn diese seien dokumentiert und im Kreißsaal hinterlegt. Die Hebammensprechstunde in den beiden Kliniken dauerten jeweils rund 30 bis 45 Minuten.
Für die zukünftige Weiterentwicklung der Hebammensprechstunde wurde als wichtigstes Element von allen Interviewteilnehmenden aus beiden Kliniken die langfristige Finanzierung genannt. Siegle arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin in einem Kommunikationsprogramm mit LungenkrebspatientInnen, genannt Heidelberger Meilenstein – Kommunikation (HeiMeKOM). Der Kommentar von der Beirätin im Bildungsbereich des DHV, Yvonne Bovermann, dazu, dass Siegle nicht Hebamme sei, aber sich der Hebammensprechstunde forschend gewidmet habe: Es gebe ja auch den Satz, wonach es sogar besser sei, nicht im eigenen Garten zu forschen. Womit sie den Vorteil einer gewissen Distanz zum Forschungsgegenstand ansprach.
Informationen bereitstellen – auch digital
Wie wichtig die richtige Aufklärung ist, erläuterte die stellvertretende Vorsitzende der DGHWi, Prof. Dr. phil. Dorothea Tegethoff, anhand einer eigenen Untersuchung von 2020. Sie betrachtete die Lesbarkeit von Informationsmaterial in der Geburtshilfe und die Praktikabilität der Messinstrumente. Ihr Resümee: Viele Frauen könnten mit dem schriftlichen Infomaterial in den Kliniken nichts anfangen. Sie betonte, dass auch immer ein gutes Gespräch erfolgen müsse, bei dem die Frauen nachfragen könnten. Eine Unterschrift unter einem standardisierten Aufklärungsbogen reiche nicht aus, wenn bei Gericht danach gefragt würde, wie die Frau aufgeklärt worden sei, etwa über einen operativen Eingriff. Sie erläuterte, dass sie sich auch schon mal einen kleinen handgeschriebenen Zettel unterschrieben ließ von einer Frau mit zu hohem Blutdruck, dass sie über Risiken aufgeklärt wurde, wenn sie nicht eine Klinik aufsuche. Sie wies auf Schreibbüros für leichte Sprache hin, die hilfreich sein könnten.
Auch die zunehmende Digitalisierung und Telemedizin in der Hebammenarbeit solle letztlich den Frauen dienen, so die Hebamme Daniela Erdmann. Wesentliches Ziel solle die Stärkung der Patient:innenrechte sein und mehr Betreuungszeit für sie ermöglichen, indem viel bürokratische Verwaltungsarbeit wegfallen könne. Hebammen würden an die Telematikstrukturen kostenfrei angegliedert, bekämen einen Heilberufeausweis für den Zugang und könnten etwa unkompliziert Einträge in die digitalisierten Mutterpässe vornehmen. In der neuen Sprache sei der Mutterpass ein medizinisches Informationsobjekt (MIO). Erdmann ist seit 2018 Mitglied der Kommission »Digitale Entwicklung« im DHV. Sie wies daraufhin, dass die DGHWi bemüht sei, die spezifischen Tätigkeiten in eine internationale Codierung zu übersetzen.
Die Digitalberaterin des DHV Jenni Schwanenberg ging anschließend auf die Entwicklung von Schwangerschafts-Apps ein. Deutlich wurde, wie aufwendig das Zulassungsverfahren ist, denn verlangt werde eine Zulassung als Medizinprodukt sowie eine als digitale Gesundheitsanwendung (DIGA), die ausschließlich auf deutschen Servern benutzt werden dürfe. Bisher gibt es DIGA für Schwangere noch nicht.
24 % der Schwangeren nutzten bereits Apps, erklärte die Hebamme Mirjam Peters, die derzeit an der Hochschule für Gesundheit (hsg) in Bochum promoviert. Sie erläuterte die von ihr entwickelte frauenzentrierte und evidenzbasierte App »Uma«, die Schwangere mit Infomaterial digital begleiten soll. Diese App ist bereits als Medizinprodukt zertifiziert.