Der Kinderpathologe erläutert am Richtertisch die histologischen Schnitte. Zeichnung: © Nikolaus Baumgarten

Eine Zeugin wird vernommen, deren Sohn bei seiner Geburt zu Hause gestorben war. Und ein Kinderpathologe erläutert sein Zusatzgutachten zum Tod eines Mädchens bei dessen außerklinischer Geburt aus Beckenendlage. Beide Geburten begleitete eine Ärztin und Hebamme, die in einem Schwurgerichtsprozess am Landgericht Dortmund des Totschlags angeklagt ist.

Am 13. Februar wird neben der Vernehmung des Babynotarztes, der am Geburtsort des verstorbe­nen Mädchens nicht mehr tätig werden konnte (siehe Teil 8, DHZ 4/2014), noch eine Zeugin befragt: Dies betrifft einen weiteren Todesfall bei einer Hausgeburt, ebenfalls unter Geburtsleitung der ange­klagten Hebamme und Ärztin, wenige Monate vor dem tragischen Fall, über den in diesem Prozess verhandelt wird. Die Mutter, die Ende März 2008 ihren klei­nen Sohn verloren hatte, soll vor Gericht über die näheren Umstände Auskunft ge­ben. Ihr Ehemann, ihr Gynäkologe und auch die Notärztin, die den Totenschein ausgestellt hatte, waren vor Monaten im Rahmen der Beweisaufnahme bereits als Zeug:innen geladen worden.

»Sind Sie so nett, einmal aus Ihrer Sicht Schwangerschaft und Geburt zu schildern?«, fragt der Vorsitzende Richter Wolfgang Meyer. »Unsere erste Tochter war zweieinhalb, als ich im Sommer 2007 wieder schwanger war. Wir haben uns sehr gefreut!« Die Zeugin, eine Diplom­psychologin und zurzeit Hausfrau, schil­dert, dass sie die Geburtshelferin durch die berufliche Zusammenarbeit gekannt habe. Bis zum Winter sei die Schwanger­schaft unauffällig gewesen. Dann sei sie ständig erkältet gewesen. Aber weil sich niemand Sorgen gemacht habe, sei sie vor der Geburt nach London geflogen. »Ich brauchte dafür die Erlaubnis meines Gynäkologen«, schildert die Zeugin. Der voraussichtliche Geburtstermin sei für den 14. März errechnet worden. Ihr erstes Kind, eine Tochter, sei zehn Tage »zu spät« per Kaiserschnitt im Krankenhaus geboren. »Ihre Geburt ist für mich keine schö­ne Erinnerung!« Sechs Wochen vor dem errechneten Termin sei sie wegen eines Hautausschlags bei einer Vertretungskol­legin ihres Frauenarztes gewesen. »Ich habe keinen Ultraschall mehr machen lassen, weil ich geglaubt habe, dass alles okay ist«, schildert sie. Anschließend sei sie nicht mehr bei ihrem Gynäkologen gewesen, sondern von der Hebamme und Ärztin betreut worden.

Einmal, als der voraussichtliche Ge­burtstermin bereits überschritten war, habe sie sich jedoch Sorgen gemacht: »Ich spüre unser Kind nicht mehr«, habe sie in Panikstimmung bemerkt. Ihre Hebam­me sei daraufhin sofort gekommen und habe die Herztöne gehört – die seien un­auffällig gewesen und sie hätte auch ein Füßchen gespürt. Weil es draußen schön war, hätte sie mit Mann und Tochter vol­ler Vorfreude einen Ausflug gemacht. Am nächsten Tag habe sie dann regelmäßige Wehen gehabt. »Ich fand das total hef­tig«, beschreibt sie den Geburtsbeginn. Da sich der Muttermund längere Zeit nicht geöffnet habe, habe ihre Hebam­me angekündigt, wenn es so weitergehe, müsse sie besser in die Klinik fahren. »Es war eine Horrorvorstellung für mich, mit den Wehen im Rettungswagen zu sitzen«, bekennt sie. Dann sei es doch weiter ge­gangen. Regelmäßig habe die Hebamme die Herztöne überprüft, die immer un­auffällig gewesen seien: »Wir waren un­beschwert und haben gescherzt!« Als sie stockt, schlägt der Richter einfühlsam vor: »Sie melden sich, wenn Sie eine Pau­se brauchen.« Doch die Zeugin fasst sich wieder: »Dann war er da!«, schildert sie die Geburt: »Ich kriege ihn nicht!«, habe die Geburtshelferin beim Reanimieren ausgerufen: »Wir müssen den Notarzt rufen!« Ihr Mann sei losgestürmt, um zu telefonieren. Für sie selbst sei es außer Frage gewesen, dass ihr Kind lebt. Die Notärztin habe jedoch kurz darauf nur noch feststellen können: »Er lebt nicht.«
»Das Einzige, an was ich mich wirklich er­ innere, war ihre Frage, ob ich etwas zur Beruhigung brauche.«

Hoffnung auf eine Hausgeburt

»Es tut mir leid«, entschuldigt sich der Vorsitzende, »dass ich Sie mit dieser trau­rigen Erinnerung konfrontieren muss.«

»Ich bin dankbar, dass Sie mich nicht schon vor eineinhalb Jahren vorgeladen haben«, entgegnet die Mutter. »Damals ist Ihr drittes Kind geboren, das ist gesund, hoffe ich«, erkundigt sich Meyer verständ­nisvoll. Er habe ihren Gynäkologen als Zeugen befragt, die erste Geburt 2004 sei ein Notkaiserschnitt gewesen: »Wa­rum?« Auch da sei eine Hausgeburt ge­plant gewesen. Der Rizinuscocktail, den sie genommen hatte, weil sie »über die Zeit war«, habe unglaublich heftige Wehen« hervorgerufen. Sie sei an dem Tag zur Ultraschalluntersuchung im Kran­kenhaus gewesen – da habe sich gezeigt, dass das Kind unregelmäßige Herztöne hatte, die auf Stress hingedeutet hätten. »Von Dr. Hirsch haben wir erfahren, dass keine Hausgeburt geplant war, wegen der besonderen Lage der Plazenta, einer Pla­zenta praevia«, bemerkt Meyer. »Ich habe sehr auf eine Hausgeburt gehofft!«, be­kennt sie. »Warum?«, möchte Meyer wis­sen. »Aus grundsätzlichen Erwägungen – ich fühle mich im Krankenhaus nicht sehr wohl.« Ob der Gynäkologe Risiken für die zweite Geburt angesprochen habe, fragt der Vorsitzende. Wegen der Narbe, erinnert sich die Zeugin.

Meyer liest vier Gründe gegen eine Hausgeburt vor, die der Frauenarzt bei seiner Vernehmung genannt habe: Alter über 37 Jahre, Gefahr, weil schon die erste Schwangerschaft nicht normal verlaufen sei, eine mögliche Ruptur der alten Kaiserschnittnarbe und eine 1998 erkannte Autoimmunerkrankung. Der Hb-Wert, der normalerweise bei 13 bis 16 liege, habe unter 10 gelegen und sei dann abgesunken unter 8. Der Gynäkolo­ge habe die Schwangere aufgeklärt, dass ein besonderes Risiko vorhanden sei: Wenn es zu Blutungen komme, wäre sie in Lebensgefahr. »Hat er das mit Ihnen besprochen in der Ausführlichkeit?« Der Befragten ist das Problem mit dem Hb­ Wert nicht mehr präsent.

»Sie erinnern sich nicht an das Ge­spräch mit Ihrem Frauenarzt? Er sagte, er habe das Gespräch dokumentiert«, fragt Meyer nach. Sie erinnere sich an die Gefahr der Ruptur und dass ihre Heb­amme schon mehrfach eine Spontange­burt nach Zustand nach Sectio betreut habe: »Über statistische Werte haben wir nicht gesprochen.« »Haben Sie aus Ihrer Sicht absichtlich etwas verschwie­gen oder haben Sie diese Warnungen von Ihrem Gynäkologen an Ihre Hebamme weiter gegeben?«, möchte Meyer diesen Punkt genauer wissen. »Ich glaube, ich habe das nicht hören wollen damals«, bekennt die Zeugin. Sie denke, dass sie die Risiken nicht mit dieser Dringlich­keit weiter gegeben habe. Beim letzten Gespräch mit ihrem Gynäkologen habe dieser ihr geraten, sich im Krankenhaus in Herdecke vorzustellen und die Ge­burt dort zu planen, ruft Meyer in Erin­nerung. »Das hat er gesagt«, bestätigt sie unter Tränen: »Ich habe das leider nicht gemacht.« »Ich möchte nicht Vorwürfe in Ihnen wecken, die Sie sich vielleicht machen«, entgegnet Meyer und vertieft weiter die genauen Umstände, wie die Ri­siken zwischen ihr und ihrer Hebamme kommuniziert worden waren und  wie die Betreuung genau ausgesehen hatte. Sie habe ihre Hebamme jederzeit anru­fen können, was sie auch häufig getan habe. Wie oft sie sie damals gesehen habe, weiß sie nicht mehr. »Zu erwarten war eine Schädellage«, bemerkt der Vorsit­zende. »Ja, das war mir auch wichtig«, bestätigt sie. Später kommt Meyer noch einmal darauf zurück, warum sie sich nicht in der Klinik vorgestellt habe. »Für mich ist das ein schwieriger Punkt«, antwortet sie nachdenklich: »Vielleicht war ich zu unbesorgt. Warum habe ich das eigentlich nicht gemacht?«

Keine Vorwürfe oder Zweifel

Meyer fragt noch einmal anhand der Unterlagen Details zur ersten Schwanger­schaft und Geburt. Dort sei von der Heb­amme »zurückhaltendes fetales Wachs­tum« dokumentiert. Wie das festgemacht werden konnte ohne Ultraschall? »Die Hebamme stellt das am Bauchumfang fest«, erklärt ihm die befragte Mutter. »Wie kann man das differenzieren zwischen Bauchdecken und Kind?«, fragt der Richter skeptisch. »Auch die Apparate haben nicht immer Recht«, erwidert sie. Nochmals befragt Meyer sie zu Einzelhei­ten der Geburt ihres verstorbenen Soh­nes. »Haben Sie ihn gesehen, ohne dass er in ein Tuch eingeschlagen war?« Ob es sichtbare Asymmetrien gegeben habe? Daran erinnert sich die Zeugin nicht. Ob die Hebamme die Plazenta zur Untersuchung mitgenommen habe? »Ja, sie hat sie zu einem Institut nach Österreich geschickt. Wir wollten unser Kind nicht obduzieren lassen. Es ist bei der Unter­suchung der Plazenta nichts herausge­kommen.« »Gab es Vermutungen, warum Ihr Sohn nicht gelebt hat?«, möchte der Vorsitzende wissen: »Die Lunge hat sich nicht entfaltet«, erklärt sie. Eine Virusin­fektion sei als Ursache überlegt worden, so dass sich die Organe nicht ausreichend entwickeln konnten. Ihr Frauenarzt habe in seiner Laufbahn Fälle erlebt, in denen auch die Obduktion keine Todesursache ergeben habe.

Pflichtverteidiger Hans Böhme fragt, ob die Angeklagte ihr gegenüber jemals habe durchblicken lassen, dass sie gegen eine Verlegung ins Krankenhaus einge­stellt sei. »Nein, wenn ich das gewollt hät­te, hätten wir das gemacht, schildert sie. Ihre erste Geburt im Krankenhaus habe sie als traumatisch in Erinnerung. Auch ihre dritte Geburt habe sich in der Klinik lange hingezogen, bis sie das Gefühl ge­habt hätte, sie halte das trotz PDA nicht mehr aus und nach einer Sectio verlangt habe. Die diensthabende Ärztin sei dar­auf eingegangen, habe aber betont, aus Sicht des Kindes sei das noch nicht nötig. Nach dem Kaiserschnitt sei sie in Lebens­gefahr geraten: Aufgrund einer vermute­ten inneren Blutung sei sie ein zweites Mal operiert worden und habe sehr viel Blut verloren, so dass sie Bluttransfusi­onen brauchte und einige Tage auf der Intensivstation verbringen musste.

Die detaillierte Vernehmung dieser Zeugin dauert eineinhalb Stunden. Bis auf kurze Momente, in denen die Trauer aufbricht, steht sie ruhig, sehr sachlich und entgegenkommend Frage und Antwort. Von der Angeklagten spricht sie immer re­spektvoll und positiv. Sie äußert nicht ein Wort des Vorwurfs oder des Zweifels an deren Betreuung.

Zu spät für die Vorbereitung

Der 40. Prozesstag am 28. Februar beginnt mit einem Dis­put über den Antrag der Verteidigung vorn Vortag, dem vom Gericht bestellten Sachverständigen Prof. Dr. Ivo Leuschner abzusagen und ihn zu einem neuen Termin zu laden, weil sein Zusatzgutachten zu kurzfristig an die Anwälte übersandt worden war. Der Kinderpathologe vom Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Kiel, hatte seine Einschätzungen zur Todesursache bereits am 26. September 2013 vorgetragen auf Grundlage der bisherigen Gutachten. Darin hatte er sich der Auffassung der anderen vorn Gericht bestellten Sachver­ständigen angeschlossen, dass die Ursache für den Tod des im Juni 2008 sterbend geborenen Mädchens ein Sauerstoffmangel gewesen sein müsse. Insbesondere hatte er die von der Verteidi­ gung in Zweifel gezogenen Untersuchungen bei der Obduktion durch den Dortmunder Gerichtsmediziner Dr. Ralf Zweihoff für ausreichend und korrekt befunden. Dies hatte der Auffassung der Kinderpathologin Dr. Helga Göcke widersprochen, die die Verteidigung gestellt hatte: Sie hatte aufgrund der ihr ebenfalls vorliegenden Untersuchungsbefunde und nach äußerlicher In­augenscheinnahme der Organe des verstorbenen Kindes am selben Verhandlungstag unter anderem Hinweise angeführt, die für eine Lungenhypoplasie sprächen. Sie hatte außerdem verschiedene aus ihrer Sicht wichtige Untersuchungen vermisst. Als einzige Sachverständige war sie bei ihren Überlegungen der Frage nachgegangen, warum die Lungen des Kindes durch die anhaltende professionelle Reanimation der Geburtshelferin sowie des Notarztes nicht hatten belüftet werden können. Sie hatte darüber hinaus verschiedene Auffälligkeiten festgestellt, beispielsweise hinsichtlich einiger Organe in ihrem Gewichts­verhältnis zueinander (siehe Teil 6, DHZ 11/2013 ).

Nachdem der Verteidigung ein Zusatzgutachten von Prof. Dr. Leuschner vorn 31. Januar zugegangen war, das das Gericht in Auftrag gegeben hatte, hatte sie weiteren Klärungsbedarf gese­hen: Am 12. Februar hatten die Strafverteidiger Prof. Dr. Hans Lilie und Mark Sendowski aus Leipzig mit einer ausführlichen fachlichen Begründung beantragt, sämtliche sichergestellte Organ- und Gewebeteile durch ihn detailliert untersuchen zu lassen und darüber ein schriftliches Vorgutachten zu verfassen. In acht Thesen hatten sie in ihrem Beweisantrag angekündigt, was diese Begutachtung zeigen würde: dass eine Hypoxie un­ter der Geburt als Todesursache nicht in Betracht komme, der Zeitraum für das nicht todesursächliche hypoxische Geschehen wahrscheinlich mehr als 24 Stunden vor der Geburt gelegen habe, die bei der Obduktion gefundenen hypoxischen Schädi­gungen prinzipiell mit dem überleben vereinbar gewesen sei­en und dass bei einer Beckenendlagengeburt der Abgang von Kindspech kein Nachweis für ein hypoxisches Geschehen sei. Ferner, dass bei dem Mädchen eine Lungenhypoplasie vorgele­gen habe, die für sich genommen den Tod des Kindes verursacht habe. Außerdem habe ein intrauterin entwickeltes, chronisch dekompensiertes Cor pulmonale mit akutem rechtsbetontem Herzversagen vorgelegen. Dies sei ebenfalls – zumindest in Kom­bination mit der vorliegenden Lungenhypoplasie – ursächlich für den Tod des Kindes gewesen. Zusätzlich liege eine Broncho­rnalazie – eine Schwäche infolge Gewebsunreife der Bronchi­en – und damit ein Reifungsrückstand der Lungen sowie eine Thoraxdysplasie vor.

Weil Lilie und Sendowski das ergänzende fetalpathologi­sche Zusatzgutachten erst so kurzfristig am Vortag vorgefun­den hätten, beanstanden sie, dass sie sich nicht mehr hätten vorbereiten können. Zur sachgerechten Vorbereitung hätte die ergänzende Begutachtung der sichergestellten Gewebeteile eher vorliegen müssen, insbesondere die Bilder der gefertigten Schnitte. Rechtsanwalt Hans Böhme ist deshalb als einziger Strafverteidiger erschienen. Er schließt sich dem Antrag seiner Kollegen auf Terminverschiebung an: Auch er habe sich nicht mehr auf den heutigen Verhandlungstag vorbereiten können, die Abbildungen lägen ihm nicht vor. »Ich habe sie ausgedruckt für Sie mitgebracht«, händigt der Vorsitzende ihm die Bilder aus. Der Antrag der Strafverteidiger wird abgelehnt und Leuschner wie geplant angehört.

Lebergewicht im Normbereich

»Die Organe, die mir überstellt worden sind, waren in sieben Gefäßen in Formalin fixiert«, beginnt Leuschner. Sie seien foto­dokumentiert worden. Es seien nicht die kompletten Organe ge­wesen, was erklärbar und plausibel sei durch Gewebsentnahmen von Dr. Zweihoff bei der Obduktion. Makroskopisch habe er kei­ne Auffälligkeiten gefunden, auch keine Abweichungen von den Befunden Zweihoffs, außer bei dem Leberpräparat. Der Gerichts­mediziner habe eine glycogenreiche Leber befundet – er »einen vollkommen normalen Glycogengehalt«. Die Leber sei sowohl makroskopisch wie mikroskopisch unauffällig.  Hinsichtlich des Lebergewichts habe er in zwei Tabellen nachgeschaut : Nach der Tabelle von Gruenwald & Minh von 1960 habe das Gewicht zwar über der Standardabweichung gelegen, nach einer neueren Tabelle von Maroun & Graem von 2005 habe die Leber mit 200 Gramm jedoch innerhalb der Gaußschen Normalverteilung bei der 60. Perzentile gelegen.

Das Foramen ovale und der Ductus arteriosus botalli seien »sehr schön darstellbar« gewesen. Der Ductus botalli habe norma­lerweise den gleichen Durchmesser wie die Aorta – anders in die­sem Fall: »Er war weit offen, wie wir es typischerweise bei einer Asphyxie vorfinden.« Der Sachverständige fasst zusammen: ,»Für mich war dies ein reifgeborenes Kind mit Zeichen einer akuten Asphyxie. Vier von fünf Zeichen dafür waren realisiert.« Nur die Aspiration von Fruchtwasser habe nicht vorgelegen. Die vier weiteren Zeichen, die eine Asphyxie belegten, seien vorhanden: Tardieusche Blutungen, weit offene Blutwege, den vorzeitigen Abgang von Mekonium und hypoxisch bedingte Veränderungen im Gehirn, was das Gutachten von Dr. Felsberg vorn Institut für Neuropathologie der Universität Düsseldorf belege. Dass kei­ne Fruchtwasseraspiration vorliege, sei zu erklären: Durch den zurückliegenden Blasensprung sei kein Fruchtwasser mehr da gewesen, das hätte aspiriert werden können.

»Es liegen keine Hinweise vor, dass unter Berücksichtigung aller Befunde die Zeichen hypoxischer Schädigung mit dem überleben vereinbar wären«, urteilt der Kinderpathologe. Sau­erstoffmangel sei als Todesursache anzusehen. Die gegenteilige Auffassung der Verteidigung sei »klar zu verneinen«. Man habe »akute hypoxische Schäden nachgewiesen«, betont Leuschner: »Man kann darüber diskutieren, warum sie so gering waren und warum die Veränderungen so diskret ausgebildet waren.« Weni­ger als sechs Stunden nach einem hypoxischen Ereignis seien sie nicht maximal ausgebildet, anders als zwölf Stunden danach. Weiter widerspricht er jedem der acht Punkte des Beweisan­trags der Verteidigung. Eine Hypoplasie der Lunge liege eindeu­tig nicht vor, sondern sie sei altersentsprechend entwickelt mit normaler Ausbildung der Alveolen: eine reife Lunge mit relativ vielen Lungenbläschen an den Bronchien, durchweg sechs, teilweise mehr. Auch die Bronchialknorpel seien bestens ausgebildet. Ein chronisch dekompensiertes Cor pulmonale liege nicht und Hinweise für eine Thoraxdys­plasie lägen auch nicht andeutungsweise vor. Die diesbezüglichen Überlegungen von Dr. Helga Göcke, die sie im Septem­ber geäußert hatte, sind Leuschner unver­ständlich: »Da standen mir die Haare zu Berge! Frau Prof. Dr … aus Münster hätte Frau Dr. Göcke mindestens zwei Köpfe kürzer gemacht, wenn sie das auf einem Kongress gesagt hätte!«

Fehlinterpretiert

Auch einen Punkt aus einer Veröf­fentlichung der Angeklagten bemängelt Leuschner als fundamentalen Irrtum: Die Leber sei kein Sauerstoffspeicher, wie die Angeklagte dort geschrieben habe, sondern ein Glycogenspeicher. Der Vorsitzende hatte dem Kinderpathologen zwei Fachartikel der Geburtshelferin zur Beurteilung vorgelegt. Leuschner erläu­tert nun die eher geringe Bedeutung der Leber für die Sauerstoffversorgung. Der Ductus venosus, der sauerstoffreiches Blut aus der Nabelvene führe, die fetale Leber umgehe und direkt in die Hohlve­ne fließe, sei von der Autorin fehlinterpretiert worden. Zur ihrer Quellenanga­be »Rockenschaub 2000« hinsichtlich der Bedeutung der Leber bei einer Azidose, habe er in PubMed keine Veröffentlichun­gen gefunden. »Prof. Rockenschaub hat eine der größten Geburtskliniken in Wien geleitet und ist sicher ein anerkann­ter Geburtshelfer, aber dazu hat er nichts publiziert.« Der Richter wendet sich an die Angeklagte: »Gibt es eine Fundstelle?« »Ja«, antwortet sie, »die müsste ich noch nachreichen.«

»Dann wollen wir das Gutachten vom 26.3. verlesen und im Einzelnen durch­ gehen«, fährt der Vorsitzende fort. Leu­schner geht jedes Gefäß der Reihe nach durch und berichtet über die darin fixier­ten Gewebeteile anhand der Fotografien und seiner schriftlichen Aufstellung. »Es soll so gewesen sein«, stellt der Vorsitzen­ de fest, »dass die Angeklagte dem Leich­nam die Zunge herausgeschnitten hat. Bei einem Gewebeteil im Glas Nummer 5 handelt es sich nach Dr. Zweihoff um eine Zunge.« Im September, vor der Über­gabe an das Kieler Institut, hatte Dr. Zwei­hoff im Gerichtsmedizinischen Institut Dortmund zunächst den Inhalt aller Glä­ser überprüft. Eine Weile dauert es, bis Prof. Leuschner reagiert: »Das ist ein nor­maler Sektionsvorgang.Sonst können Ra­chenraum und Trachea nicht untersucht werden«, klärt er auf, warum die Zunge von Dr. Zweihoff selbst entfernt worden war. »Dann muss ich das entgegenneh­men und korrigieren«, erwidert Meyer.

Bernsteinfarbene Flüssigkeit

Nachdem alle Organbefunde durchge­sprochen sind, fragt der Vorsitzende den Sachverständigen noch einmal, ob »mit diesen Schäden ein Leben vereinbar« sei. »Nein«, urteilt Leuschner klar. Was es mit den 15 Milliliter bernsteinfarbener Flüs­sigkeit auf sich habe, die von Zweihoff dokumentiert worden seien. »Dafür habe ich keine schlüssige Erklärung«, bekennt Leuschner. Die Verteidigung habe deshalb die These vom Cor pulmonale aufgestellt, beim Erwachsenen sei dies denkbar: »Es war der Gedankengang der Verteidigung, das primäre Problem sei das Herz.« Der Vorsitzende liest aus dem Beweisantrag vor, demnach sei die Flüssigkeit Aszites. Leuschner glaubt das nicht: »Ich kann mir nur einen kleinen Fehler von Dr. Zwei­hoff vorstellen – das soll keine bösartige Unterstellung sein.« Er vermutet, dass es sich um Urin handelt, der durch ein ver­sehentliches Anritzen der Blase ausgetre­ten sei. »Ist Ihnen das schon einmal pas­siert?«, fragt Meyer. »Als ich ganz klein war«, kommentiert Leuschner und hebt humorvoll seine Hand auf Kinderhöhe ne­ben sich. »Es gibt keine andere schlüssige Erklärung«, schließt Leuschner seine um­fangreichen Erläuterungen.

»Sonstige Fragen?«, erkundigt sich der Vorsitzende bei den Prozessbeteiligten. Oberstaatsanwältin Susanne Ruland und Nebenklagevertreter Alexander Kurz ha­ben keine Fragen. Rechtsanwalt Böhme stellt klar: »Ich werde keine Fragen stellen und bitte zu Protokoll zu nehmen, dass ich sie nicht stelle, weil ich keine Fragen habe, sondern weil ich mich nicht vor­bereiten konnte. Aber meine Mandantin hat die eine oder andere Verständnisfrage.« Diese beginnt: »Sie haben nur ein einzi­ges Organ als hypoxisch geschädigt an­geführt, nur Schäden an der Niere.« »Wir haben auch das Gutachten zum Gehirn«, ergänzt Leuschner. Die Angeklagte fragt: »Wie oft haben Sie erlebt, dass ein Kind an einer reinen Azidose verstorben ist – ha­ben Sie Anhaltspunkte für eine Azidose?« »Nein«, erwidert der Kinderpathologe, »das kann ich aufgrund der Befunde nicht sa­gen. Das Kind wird ja eine Azidose gehabt haben.« »Haben Sie schon Kinder seziert, die an einem Plötzlichen Kindstod verstor­ben sind?«, fragt sie weiter. »Nein«, entgeg­net Leuschner. Zum möglichen Hinweis auf eine Thoraxdysplasie fragt sie: »Hal­ten Sie einen Lungenstand am dritten bis vierten Rippenbogen nicht für auffällig?« »Nein«, entgegnet Leuschner: »Man darf das Pferd nicht von hinten aufzäumen. Wir können nicht aus minimalen Verän­derungen Schlüsse auf fehlerhafte Erbinformationen ziehen.« Die Geburtshelfe­rin fragt ihn auch, auf welche Weise die Lungen belüftet waren. Normal belüftetes Lungengewebe habe er nicht gefunden: »Manche Alveolen waren weit überbläht – offenbar durch die Reanimation – die an­deren gar nicht belüftet.« »Haben Sie die Tardieuschen Blutungen selbst gesehen?«
»Nein, Dr. Zweihoff hat sie dokumentiert.« In dessen Obduktionsbefund vom 2. Juli 2008 war von zwei einzelnen stecknadel­kopfgroßen Blutungen unter der Kapsel der Thymusdrüse die Rede gewesen und vereinzelt unter dem Herzaußen- und dem Lungenfell. Die Angeklagte fährt fort: »Haben Sie das öfter, dass Sie so alte Präparate untersuchen?« »Gelegentlich, nicht häufig.« Das Gewebe sei sehr gut erhalten gewesen, beschreibt Leuschner.

Als die Geburtshelferin keine weiteren Fragen hat, versammeln sich alle um den Richtertisch, um die Bilder der dokumen­tierten Organteile und die Gewebeschnit­te anhand Leuschners Erklärungen zu be­trachten. Im histologischen Schnitt durch das Lungengewebe finde sich beispiels­weise »kein Nachweis von Hornlamellen, Plattenepithelien oder Mekonium.« Nach langen Erörterungen kommt die Verneh­mung des Sachverständigen langsam zum Ende. Sein Fazit: Keine Fehlbildungen, alle Organe hyperämisch, was auf terminales Herzversagen zurückzuführen sei, mehre­re Zeichen akuter Asphyxie. Einer von der Angeklagten gewünschten Vereidigung des Gutachters folgt das Gericht nicht.

Pflichtverteidiger Böhme stellt ab­schließend zwei Beweisanträge, einen davon zur chemisch-toxikologischen Un­tersuchung des Gewebes. 2008 war bei der Obduktion Benzalkonium in der Leber ge­funden worden. Das Gericht hatte sich diesbezüglich schon erkundigt, wer für die Untersuchung in Frage käme. Erfreut be­dankt sich der Vorsitzende bei Prof. Leusch­ner, der aus eigener Initiative bereits mit dem Toxikologen telefoniert hatte. »Das spricht dafür, dass wir am 12. März nicht plädieren können«, kommentiert der Vor­sitzende die weiteren geplanten Untersu­chungen. »Es tut mir leid, Ihnen das sagen zu müssen, Frau Oberstaatsanwältin.« Die Vernehmung zweier weiterer Zeuginnen, einer Drillingsmutter und ihrer Hebam­me, steht außerdem auf dem Programm. Und auch der Geburtshelfer Prof. Dr. Axel Feige soll am selben Tag noch einmal als Gutachter vernommen werden.
Fortsetzung folgt.

Zitiervorlage
Baumgarten K: Gerichtsreportage, Teil 9: Diskrete Schäden. DEUTSCHE HEBAMMEN ZEITSCHRIFT 2014. 66 (5): 62–65 
https://staudeverlag.de/wp-content/themes/dhz/assets/img/no-photo.png