Dr. Ann-Kathrin Hirschmüller: »Die Schweigepflicht war schon immer ein hohes Gut. Damit muss man verantwortungsbewusst umgehen.« Foto: © hirschmöller/rechtsanwälte

Katja Baumgarten: Wohin können Eltern sich wenden, wenn sie mit der Behandlung unzufrieden sind – auch wenn kein Schadensfall eingetreten ist?

Armin Octavian Hirschmüller: Wir erleben, dass unzufriedene Eltern sich entweder beim jeweiligen Hebammen-Landesverband beschweren oder beim Gesundheitsamt als Berufsaufsichtsbehörde.

Wie können Hebammen sich gegen unangemessene Beschwerden wehren?

Armin Octavian Hirschmüller: Sie wenden sich an einen Anwalt, die DHV-Mitglieder wenden sich an uns. So etwas kommt häufiger vor.

Ann-Kathrin Hirschmüller: Wenn Eltern sich an die Landesverbände wenden, die ja keinen Aufsichtsauftrag haben, ist das ein relativ stumpfes Schwert. Die Hebammen kommen zu uns, wenn sich die Aufsichtsbehörden bei ihnen melden. In der Regel gibt es eine Anhörung der Hebamme. Manche Behörden sind sehr »bürgerfreundlich«, da brauchen die Hebammen Hilfe, um sich angemessen zu wehren und zu Wort zu kommen.

Armin Octavian Hirschmüller: Wir übernehmen das dann. Wir nehmen die Hebammen aus dem Fokus und korrespondieren mit der Berufsaufsicht …

Ann-Kathrin Hirschmüller: … damit es keine rechtlichen Sanktionen für die Hebamme nach sich zieht.

Wie lauten beispielsweise Vorwürfe gegen Hebammen?

Armin Octavian Hirschmüller: Wir haben die klassischen Geschichten, dass die Eltern im Nachhinein monieren, ihr Kind sei beispielsweise nicht ordnungsgemäß überwacht worden oder Einzeltätigkeiten im Rahmen der Nachsorge seien nicht beachtet worden, sie hätten keine ordnungsgemäße Stillberatung erhalten. Dann der Datenschutz – die Verletzung der Schweigepflicht, weil die Hebammen teilweise aufgrund des Verdachts der Kindeswohlgefährdung oder dergleichen Meldung machen oder sich mit Ärzt:innen austauschen. In jedem Bundesland sagt die Berufsordnung, was Hebammen eigenverantwortlich ausführen dürfen. Wenn diese Beschwerden kommen, sagt die Behörde, aus unserer Sicht liegt ein Verstoß gegen die Berufsordnung vor. Beispielsweise bei unzureichender Aufklärung oder Nachsorgetätigkeit, wie einer mangelhaften Überwachung des Kindes oder der Mutter.

Sind die Tätigkeitsabläufe so klar definiert, dass die Eltern dann konkret gegen die Hebamme vorgehen?

Armin Octavian Hirschmüller: Ja, die Eltern führen teilweise akribisch Protokoll.

Hat die Hebamme nicht eine Art Therapiefreiheit, wie man das bei Ärzt:innen nennt?

Armin Octavian Hirschmüller: Hebammenbetreuung ist eine bedarfsgerechte Versorgung. Es gibt einen gewissen Standard im Rahmen der Nachsorge, der nicht unterschritten werden darf. Dann stellt sich im Rahmen des jeweiligen Individualbedarfs die Frage für die einzelne Hebamme, ob sie darüber hinausgehende Untersuchungen entweder selbst durchführen oder initiieren muss. Es steht und fällt letztlich mit der Beurteilung, ob die Wochenbettversorgung im Einzelfall dem Standard beziehungsweise dem wissenschaftlichen Stand entsprach – und das natürlich auch bedarfsgerecht. Das ist der Klassiker, was die Kinder betrifft: Einige Kinder schimmern etwas gelb – eine erfahrene Hebamme sagt, wenn das Kind sonst topfit ist, wenn es gut trinkt und gut ausscheidet, wir gucken uns das mal an, ich komme morgen wieder. Die nächste Hebamme sagt, gehen Sie lieber mal zum Kinderarzt und lassen Sie den Bilirubinwert untersuchen! (siehe auch Seite 42) Und eine andere Hebamme sagt, ich komme in drei Tagen wieder. Angenommen, das Kind muss dann in die Klinik, der Bilirubinwert steigt stark an, es geht alles gut. Aber die Eltern beschweren sich dann beim Gesundheitsamt und meinen, da seien die Kontrolle und das Vorgehen völlig unzureichend gewesen, die Hebamme habe das Kind dadurch in Gefahr gebracht.

Oder das Vorgehen bei einer Brustentzündung: Die Hebammen gucken sich das genau an, beraten zum Stillen oder wenden Quarkwickel an. Und dann kommt es doch zu einer pathologischen Entwicklung, zu einer Brustentzündung, gegebenenfalls auch mit Abszess­bildung. Dann kann es sein, dass eine Mutter hinterher sagt: Wie konnte die Hebamme denn bei mir in diesem Zustand nur Quark- und Retterspitz-Umschläge anwenden? Meine Brust war ja schon am Explodieren.

Also ist die Bereitschaft, sich zu beschweren …

Armin Octavian Hirschmüller: … die ist gestiegen.

Ann-Kathrin Hirschmüller: Die Schweigepflicht war schon immer ein hohes Gut. Damit muss man verantwortungsbewusst umgehen. Das ist einer der Kernvorwürfe der Eltern im Rahmen der Beschwerden an die Berufsaufsicht. Datenschutzverletzungen sind auch ein häufiges Thema.

Welche Vorwürfe gibt es da zum Beispiel?

Ann-Kathrin Hirschmüller: Die Weitergabe von Daten an den Kinderarzt ist der Klassiker, die Weitergabe von Daten ans Jugendamt ist sowieso ein Dauerbrenner.

Die Hebamme darf ohne Einverständnis der Eltern nicht Rücksprache halten mit dem Kinderarzt, wenn ihr etwas seltsam vorkommt?

Armin Octavian Hirschmüller: Nein. Es ist eine Frage des Einzelfalls.

Könnte sie das anonym besprechen, nach dem Motto: Ich habe hier einen Fall, da mache ich mir Sorgen?

Ann-Kathrin Hirschmüller: Wenn die Hebamme sich Sorgen macht, kann sie natürlich nach § 4 des Gesetzes zur Kooperation und Information im Kinderschutz, des sogenannten Kinderschutzgesetztes, KKG, vorgehen. Da gibt es ein Stufenverfahren, in dem genau beschrieben wird, wann sie welche Daten weitergeben darf oder welche Schritte sie gehen muss, um Daten ans Jugendamt weiterzugeben. So kann sie sich auch anonymisiert Hilfe holen bei dem Verdacht auf Kindeswohlgefährdung. Bei Rücksprache mit dem Pädiater steht ihr die Herausgabe von Daten nur im Notfall zu. Ansonsten braucht sie eine Schweigepflichtentbindungserklärung der Eltern. Der kollegiale Austausch mit dem Pädiater oder der Pädiaterin ist rechtlich nicht vorgesehen.

Armin Octavian Hirschmüller: Sich durch fachlichen Austausch mit dem Pädiater über das Vorgehen abzusichern, ist für die Hebamme natürlich wichtig. Das kann sie anonym machen – dann ist es keine Datenschutzverletzung und keine Verletzung des KKG. Im Gesetz zur Kooperation im Kinderschutz sind alle Leistungserbringer:innen aufgefordert, eine Kindeswohlgefährdung zu melden, beziehungsweise erst einmal in Stufen vorzugehen. Das sind aber nicht die Klassiker, die zu rechtlichen Problemen führen. Sondern das sind eher Fälle, wo die Hebamme sagt, suchen Sie bitte einen Arzt oder die Klinik auf, das ist sehr wichtig. Die Eltern sagen das auch zu. Dann versucht die Hebamme am nächsten Tag, die Eltern anzurufen, ob sie beim Arzt waren – und was er gesagt hätte. Sie erreicht die Eltern aber nicht und wird unruhig. Und dann ruft sie beim Kinderarzt an und fragt, ich habe die Familie Xy vor zwei Tagen zu Ihnen geschickt, war sie da? Da wird es kritisch, das geht so einfach nicht. Wenn die Eltern nicht beim Arzt waren, dann folgt daraus möglicherweise für die Hebamme und auch für den Kinderarzt eine Kindeswohlgefährdung. Dann geht es ans Jugendamt und es werden möglicherweise Daten preisgegeben. Im Nachhinein wird dann auch geprüft, war diese Datenweitergabe unter diesen Voraussetzungen ohne Erklärung zur Entbindung von der Schweigepflicht korrekt? Gerade dann, wenn das Jugendamt einschreitet.

Dazu hatte ich ein Strafverfahren – das war aber wirklich ein absoluter Ausnahmefall. Da hatte eine Hebamme tatsächlich mit dem Jugendamt aufgrund der Kindeswohlgefährdung korrespondiert und gesagt, aus ihrer Sicht müsse das Kind aus der Familie rausgenommen werden. Da lief es schon nicht mehr nach dem Motto, wir schauen mal anonym, sondern es stand eine konkrete Kindeswohlgefährdung im Raum. Das Jugendamt ist aktiv geworden und hat das Kind tatsächlich in Obhut genommen. Die Eltern haben daraufhin Strafanzeige erstattet gegen alle Beteiligten des Jugendamtes, insbesondere auch gegen die Hebamme wegen der Beihilfe zur Entziehung Minderjähriger. Das Verfahren wurde dann für die Hebamme zu ihren Gunsten beendet.

Aber an der Stelle wird deutlich, in welchen Konstellationen man sich aufhält und wie sensibel dieser Bereich ist. Man muss gut aufpassen und sorgfältig entscheiden, ob man Daten weitergibt. Und man muss sich immer fragen, unter welchen Voraussetzungen darf ich die Daten in erlaubter Weise weitergeben – ohne die Entbindung von der Schweigepflicht? Und wann muss ich mich regelhaft auf die Schweigepflichtsentbindung zurückziehen und sie erst mal einholen? Das gilt für alle Beteiligten, sowohl für den Arzt oder die Ärztin als auch für die Hebamme oder für klinisches Personal. Solche Beschwerden landen bei den Berufsaufsichtsbehörden – bei den Gesundheitsämtern bisher und neuerdings auch bei den Landesdatenschutzaufsichtsbehörden. Da werden dann auch entsprechende Auskünfte bei der Hebamme eingeholt nach der Datenschutzgrundverordnung, der DSGVO.

Welche Konsequenzen drohen einer Hebamme schlimmstenfalls?

Ann-Kathrin Hirschmüller: Eine Geldstrafe, Ordnungsgelder.

Kein Berufsverbot?

Armin Octavian Hirschmüller: Nein, aber mit einem Verstoß gegen den Datenschutz kann automatisch auch eine Schweigepflichtsverletzung einhergehen. Dann sind wir im strafrechtlich relevanten Bereich und überdies wieder bei der Berufsaufsicht.

Haben Sie Fälle erlebt, dass eine Hebamme dann mit ernsthaften Sanktionen belegt wurde?

Armin Octavian Hirschmüller: Aufgrund einer Verschwiegenheits­verletzung? Nein, das gab es bei uns noch nie. In den Fällen, wenn ich die Hebammen verteidigt hatte, sind sie entweder freigesprochen oder die Verfahren eingestellt worden. Auch beim Datenschutz gibt es bis jetzt noch keine rechts­kräftigen Entscheidungen. Die Fälle haben wir bisher alle gut geregelt und abgewendet, da gab es keine Konsequenzen. Wir müssen nur schauen, was kommt jetzt Neues auf die Hebammen zu?

Ann-Kathrin Hirschmüller: Die Eltern sind sensibler geworden, was den Datenschutz angeht. Was auch sehr zugenommen hat, sind die negativen Bewertungen auf Internetplattformen und in den sozialen Medien.

Wie kann sich eine Hebamme dagegen wehren – auch gegen falsche Behauptungen? Manchmal gehen sie in Richtung Verleumdung.

Ann-Kathrin Hirschmüller: Das kommt auf den Fall an: Man kann sich direkt bei Google melden, sie haben eigene Richtlinien. Dabei habe ich gute Erfahrung gemacht: Wenn die Hebamme sagt, das war nicht so, und das belegen kann, löschen sie den Eintrag sofort. Dann muss man schauen, ob der strafrechtliche Bereich tangiert ist – also ob es sich um eine Beleidigung handelt oder eine Verleumdung. Das ist schwieriger, da sind die Hebammen teilweise sehr aufgebracht. In der Regel ist es am zielführendsten, die negative Bewertung einfach löschen und das auf sich beruhen zu lassen, wenn bestimmte Grenzen nicht überschritten wurden. Da ist das, was rechtlich möglich ist, aber manchmal leider weit entfernt von dem, was eine Hebamme gerne hätte, die sich persönlich angegriffen fühlt.

In der Regel machen wir gute Erfahrungen, wenn tatsächlich böswillige Vorwürfe erhoben wurden. Wenn die Frau unzufrieden mit der Betreuung ist, ist es ihr gutes Recht, das zu schreiben. Wenn sie nicht lügt, dann ist das nun mal so! Es ist natürlich manchmal schwer zu ertragen, wenn jemand die Betreuungsqualität anders wahrgenommen hat als man selbst. Die Hebamme kann natürlich immer eine Gegendarstellung schreiben, wenn sie eine andere Sicht auf die Dinge hat.

Solche Bewertungen bleiben stehen. Manchmal sind die verrücktesten Behauptungen Jahre später noch im Netz zu finden.

Armin Octavian Hirschmüller: Wenn das erlaubte Maß überschritten ist, empfehlen wir den Hebammen, sich anwaltlich zur Wehr zu setzen und sich mit einem entsprechenden Unterlassungs- und Beseitigungsanspruch an die Frau zu wenden, damit solche Einträge aus dem Internet entfernt werden.

Eine persönliche Meinungs­äußerung ist nicht angreifbar. Man muss sich diese Bewertung im Einzelnen genau anschauen, denn oftmals ist sie doch eine Schmähkritik oder hat beleidigenden Charakter, oder es werden unwahre Tatsachen behauptet. An der Stelle kann ich dann eingreifen, das ist mein Einfallstor, um dagegen vorzugehen. Das Internet ist kein rechtsfreier Raum. Darüber müssen sich die Eintragenden im Klaren sein.

Sie haben einen großen Überblick, was unseren Berufsstand betrifft.

Armin Octavian Hirschmüller: Ja. Wir arbeiten jetzt im zwölften Jahr für den DHV und für die Hebammen. Wir können nicht alles machen, oftmals sind wir nur der Wegweiser für die einzelne Hebamme.

Was können Sie nicht übernehmen?

Armin Octavian Hirschmüller: Theoretisch könnten wir natürlich alles machen. Aber unser Rechtsgebiet ist das Strafrecht und das Medizinrecht. Mietrechtliche, sozialrechtliche oder arbeitsrechtliche Angelegenheiten sind nicht unser Spezialgebiet – wobei wir das auch im Einzelfall machen. Bei vielen rechtlichen Fragen sind wir Wegweiser und können eine Ersteinschätzung geben. Es ist auch Teil unserer Beratung, zu sagen: »Wenden Sie sich bitte an den entsprechenden Fachanwalt oder die Fachanwältin, der oder die zu diesem Rechtsgebiet eine höhere Expertise aufweist«.

Haben Sie nur mit Hebammen zu tun?

Armin Octavian Hirschmüller: Nein, auch mit anderer Mandantschaft.

Ann-Kathrin Hirschmüller: Aber die juristischen Probleme von Hebammen sind ein klarer Schwerpunkt von uns. Ich sehe bei der nachfolgenden Generation, den Studierenden, dass sie rechtlich sehr umfassend informiert sind. Sie denken auch kaufmännischer. Man kann als Hebamme heute nicht mehr sagen, ich hole Kinder auf die Welt und alles andere interessiert mich nicht.

Ja, das Selbstverständnis war früher anders.

Ann-Kathrin Hirschmüller: Einige, oftmals jüngere Hebammen, kommen zu mir: Hier ist meine Homepage, gucken Sie mal drüber? Man merkt dann, dass man sich im Vorfeld mit diesem Thema ausgiebig auseinandergesetzt hat. Während andere sich mit solchen Dingen nicht gerne beschäftigen. Die junge Generation wächst da schon mehr hinein. Wenn man freiberuflich tätig ist, muss man sich aus anderen Professionen Hilfe holen. Man kann ja nicht in allem gut sein. Ich würde mir wünschen, dass die Hebammen nicht nur aus ihrem Herzen heraus, sondern mehr mit dem Kopf handeln und sich absichern. Denn die Eltern sind heutzutage anders und alles schlägt größere Wellen durch die sozialen Medien.

Die Sorge vor juristischen Konse­quenzen und das eigene Absicherungsbedürfnis sickern heute überall in die Arbeit ein, auch in medizinische und geburtshilfliche Entscheidungen.

Ann-Kathrin Hirschmüller: Es gab in den USA eine Untersuchung, dass wenn sich ein Arzt entschuldigt, dies wohl die Rate um 30 % senkt, verklagt zu werden. Ich kann mir gut vorstellen, dass ein solcher Umgang in einigen Fällen tatsächlich zielführender wäre. Aber man kann es eben nicht mit Sicherheit vorhersagen. Daher muss man rein rechtlich immer raten, lieber nichts zu sagen. Und deshalb machen das die Ärzt:innen im Krankenhaus nach meiner Erfahrung auch nicht, weil der Haftpflicht­versicherer ihnen sicherlich rät, sich bloß nicht zu positionieren. Vielleicht würde ein anderer Umgang mit Fehlern die Klagebereitschaft wieder eingrenzen. Hier in Deutschland ist es haftungsrechtlich schwierig, weil man insbesondere das Problem haben könnte, dass einem eine Entschuldigung dann in einem Strafprozess eventuell auf die Füße fällt.

Kann man seine Empathie in einer tragisch ausgegangenen Situation nicht anders formulieren?

Ann-Kathrin Hirschmüller: Ja, man kann sagen: Mir tut es um den Ausgang leid. Aber zur Sache äußern sollte man sich nicht. Deswegen ist es gut, wenn die Hebamme sich nach so einem Fall schnell telefonisch bei uns meldet, um zu wissen, was sie machen kann, wenn zum Beispiel die Kripo Fragen hat.

Was sollte die Hebamme grundsätzlich wissen, bevor ein Schaden eingetreten ist? Betroffene machen sonst vielleicht Fehler, wenn sie im Schock etwas Unbedachtes sagen.

Ann-Kathrin Hirschmüller: DHV-Mitglieder erhalten einen klaren Leitfaden: Was tue ich nach einem schlimmen Vorfall? Wo melde ich mich zuerst für eine vorsorgliche Schadensmeldung? Rufe ich den Verband an? Rufe ich gleich in der Kanzlei an, wenn ich DHV-Mitglied bin? Was mache ich mit meiner Dokumentation? Wir erklären den Hebammen, die anrufen, alles Notwendige. Wenn sie direkt beim Verband anrufen, geben die beratenden Hebammen ihnen genau diese Vorgehensweisen an die Hand. Sie sind nicht alleingelassen, wenn ein solcher Fall eintritt und sie sich melden.

Manche Hebamme leidet darunter, wenn sie für die Frauen zur Gegnerin wird. Oft fordert auch die Versicherung, dass sie keinen Kontakt mehr mit der Frau haben darf, obwohl sie vielleicht mehrere Geburten miteinander erlebt haben. Die Frauen und die Hebammen werden gegeneinander aufgebracht.

Ann-Kathrin Hirschmüller: Ich muss ehrlich sagen, auch wir beraten so. Angenommen, eine Frau will eine bestimmte Maßnahme partout nicht – beispielsweise die Hebamme möchte den Rettungswagen rufen, weil ihr beim Geburtsverlauf etwas nicht gefällt. Die Hebammen fragen mich auf Fortbildungen: Wenn die Frau nicht will, was mache ich dann? Dann sage ich: Sie rufen den Rettungswagen! Auch um aus der Haftung zu kommen. Denn die Frau, die entschieden sagt, bloß keinen Rettungswagen, ist später die erste, die sagt, hätte ich gewusst, dass mein Kind sterben kann, wäre ich natürlich einverstanden gewesen.

Das Klima wechselt leider schnell von Seiten der Frauen, nicht von Seiten der Hebammen. Das muss man wissen. Für ein Vertrauensverhältnis ist es schwierig, im Hinterkopf zu haben, dass es sich schnell in Feindseligkeit wandeln kann. Deswegen ist es die richtige Beratung nach einem Schadensfall, möglichst wenig Kontakt zu haben oder in der Nachsorge nicht darüber sprechen. Das ist ein Balanceakt, im rechtlichen Interesse der Hebamme ist es aber nicht anders möglich. Aber darunter leiden die Hebammen, denn sie sind oft auch Frauenrechtlerinnen.

Nicht immer sind es die Frauen, die gegen die Hebammen vorgehen, sondern ihre Krankenversicherung möchte den Prozess anstrengen, weil sie bestimmte Leistungen nicht bezahlen und sie an die Haftpflichtversicherung weitergeben wollen.

Ann-Kathrin Hirschmüller: Das ist unser System. Die Tendenz ist nun einmal so, dass die Versicherungen den Hut aufhaben. Sie nehmen dann die Position ein: Wir zahlen, deshalb mischen wir jetzt mit.

Die Hebammen sind rechtlich angreifbarer geworden.

Armin Octavian Hirschmüller: Das ist der Gegenpol zur berufspolitisch gewollten Entwicklung. Die Hebammen sollen in der ersten Reihe stehen und damit auch eine ganz eigene Verantwortung wahrnehmen. Je mehr Verantwortung übernommen wird, umso mehr steht man im Fokus und desto angreifbarer ist man.

Sie auch?

Armin Octavian Hirschmüller: Ja, sicher. Wir stehen dafür, wie wir Dinge bewerten, die wir teilweise erstmalig bewerten. Dafür müssen wir uns verantworten. Nicht jedem wird unsere Auffassung gefallen – dann werden wir angegriffen. Je mehr ich in den Vordergrund komme, desto eher bekomme ich möglicherweise Gegenwind. Auch damit müssen die Hebammen umgehen können.

Dass Eltern eine Entschädigung bekommen, wenn wirklich ein Kunstfehler passiert ist, das ist etwas Positives. Manchmal hat man heute allerdings den Eindruck, dass die Krankenversicherungen über diese Prozesse ihre Kosten auf die Haftpflichtversicherungen abwälzen wollen.

Ann-Kathrin Hirschmüller: Die Klagebereitschaft hat insgesamt zugenommen. Wenn ein Kind gestorben ist, bringt es kein Geld der Welt zurück.

Armin Octavian Hirschmüller: Wenn ihr Kind gestorben ist, geht es den Eltern in der Regel nicht ums Geld. Sie fordern aus ihrer Sicht Gerechtigkeit und benötigen eine verantwortliche Person für den erlittenen Verlust. Ganz allgemein habe ich das Gefühl, dass ein größerer Anteil der Gesellschaft immer weniger akzeptieren will, dass es auch schicksalhafte Verläufe gibt, die wir nicht im Griff haben. Die Tendenz, dass man eine Person oder mehrere unbedingt schuldhaft an den Pranger stellen will, hat sich verstärkt. Wir können immer schwerer akzeptieren, dass es Bereiche im Leben gibt, die wir als Mensch trotz unseres technischen Fortschritts nicht kontrollieren können, vielleicht auch niemals kontrollieren werden oder sollen. Etwas als schicksalhaft hinzunehmen, ist offenbar immer schwerer zu ertragen.

Umgekehrt gibt ja auch so etwas wie ein Versprechen – alles ist machbar. Das geht von Mediziner:innen, vielleicht auch von Hebammen aus – eine Art Überheblichkeit oder fehlende Demut.

Armin Octavian Hirschmüller: Das ist ein gutes Stichwort, Demut. Mangelnde Demut. Ich habe manchmal den Eindruck, dass die Ärzteschaft oder andere im medizinischen Bereich tätige Personen sich anmaßen, über den Menschen und seine persönlichen Interessen hinweg zu entscheiden, koste es, was es wolle – beispielsweise die unbedingte Lebenserhaltung, unabhängig davon, was der jeweilige Mensch oder die Eltern eines Neugeborenen tatsächlich wünschen.

Ann-Kathrin Hirschmüller: Was bei alten Menschen sich teilweise als schwierig darstellt, ist auch bei Neu­geborenen manchmal schwer durchzusetzen. Wir hatten einen Fall, in dem die Eltern gesagt hatten, sie wollten nach der Geburt ihres viel zu früh geborenen Kindes keine lebenserhaltenden Maßnahmen, weil klar war, es würde immer schwer geschädigt bleiben. Das Kind kommt auf die Welt und die Ärzte lassen ihm Maximalversorgung zukommen – entgegen der Entscheidung der Eltern. Was soll man da machen? Jetzt ist das Kind ein Pflegefall und lebt. Jetzt streitet man, ob man die Maschinen abstellt.

Armin Octavian Hirschmüller: Die Auseinandersetzung mit dem Leben und dem Tod ist pervertiert geworden. Es darf kein Mensch mehr sterben. So ist es aber nicht vorgesehen. Manchmal drängt sich der Eindruck auf, dass man seitens der Ärzteschaft und der Gutachter:innen dem Schicksal oder dem tragischen Zusammentreffen verschiedener Umstände gar keinen Raum mehr lässt oder lassen will. Man muss einen Schuldigen finden.

Das Gesundheitswesen selbst ist nicht so perfekt, wie man von Einzelnen in einem Gerichtsverfahren erwartet, wie sie hätten handeln müssen.

Ann-Kathrin Hirschmüller: … und wie die Eltern auch immer denken: Wir gehen in eine Klinik der Maximalversorgung, hier passiert mir nichts. Es muss die perfekte Geburt sein – selbstbestimmt am besten. Und dann geht etwas schief. Die Bilder im Kopf stimmen mit der Realität nicht überein. Die unterbesetzten Kreißsäle, der Personalmangel oder die überarbeiteten Hebammen. Eigentlich steigt die Fehleranfälligkeit aktuell. Man merkt es noch nicht, weil die Hebammen alles geben, um Missstände auszugleichen, aber wenn irgendwann etwas passieren sollte, wäre es kein Wunder bei dem Druck.

Armin Octavian Hirschmüller: Wenn ich mich als Hebamme um sieben Kreißende gleichzeitig kümmern muss, ist es nur eine Frage der Zeit, bis etwas passiert. Das führt natürlich zu einer gewissen Defensivhaltung, weil alle Angst vor Haftung und Schaden haben. Aber darunter leidet die Versorgungsqualität. Man hat die juristischen Risiken im Hinterkopf.

Ann-Kathrin Hirschmüller: Der Personalmangel ist noch nie so schlimm gewesen. Wobei es auch tatsächlich Kliniken gibt, die ausreichend und zufriedenes Personal haben.

Viele Kreißsäle haben sich in ihrem Anspruch einer humanen Geburtshilfe positiv verändert. Man hat aber eine falsche Vorstellung, wie die Arbeitsrealität durch den Fachkräftemangel heute zuweilen aussehen kann.

Armin Octavian Hirschmüller: Die Hebammen sind permanent gestresst. Dennoch muss man sich auf jede Frau einstellen, die berechtigterweise den Anspruch hat, dass sie jetzt hier die wichtigste Person ist. Die Rahmenumstände lassen doch dieses persönliche Eingehen auf die Frau gar nicht mehr zu. Man kann die Diskussion wieder aufleben lassen: Was hat eine physiologische Geburt im Krankenhaus zu suchen? Eigentlich gar nichts, das ist für krankhafte oder regelwidrige pathologische Zustände vorgesehen. Vielleicht kann sich eine Struktur etablieren, wo eine physiologische Geburt bedarfsgerecht stattfinden kann – außerklinisch oder klinisch oder eine Mischung. Natürlich mit der Hilfestellung sämtlicher Akteure im Fall der Fälle.

Vielen Dank Ihnen beiden für das ausführliche Gespräch und Ihre Sicht als Jurist:innen auf den Hebammenberuf.

Die Interviewten

Dr. Ann-Kathrin Hirschmüller und Armin-Octavian Hirschmüller arbeiten als Rechtsanwält:innen in gemeinsamer Kanzlei in Hannover. Seit 2012 sind sie die juristische Vertretung des Deutschen Hebammenverbands, beraten Hebammen im Rahmen der Rechtsstelle des DHV und vertreten sie im Rahmen von juristischen Auseinandersetzungen.

Kontakt: info@hirschmueller-rechtsanwaelte.de


Hinweis: Die ersten beiden Teile des Interviews sind in Heft 5 und Heft 6/2023 erschienen. Im ersten Teil sprechen die beiden Rechtsanwält:innen über rechtliche Entwicklungen der letzten Jahre und aktuelle Gerichtsprozesse, im zweiten Teil über die Verteidigung von Hebammen in Strafprozessen.


Zitiervorlage
Baumgarten, K. (2023). Interview mit Dr. Ann-Kathrin Hirschmüller und Armin Octavian Hirschmüller | Teil 3: »Die Klagebereitschaft hat zugenommen«. Deutsche Hebammen

Zeitschrift, 75 (8), 61–66.

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