Wie die Gendermedizin herausfand, unterscheiden sich der männliche und weibliche Organismus stärker voneinander, als bisher in der Medizin berücksichtigt. Foto: © GraphicsRF/stock.adobe.com
Wenn die körperlichen Voraussetzungen junger Männer Ausgangspunkt wissenschaftlicher Fragestellungen, für die Entwicklung von Medikamenten, Therapien und Innovationen sind, und Frauen erst in Phase II oder III und nur mit erforderlichem Mindestanteil einbezogen werden, dann läuft etwas schief! Frauenleiden stehen bis heute kaum im öffentlichen Interesse. Wenn es wichtiger ist, erektile Störungen des Mannes zu beheben, nicht aber denselben vielversprechenden Wirkstoff Sildenafil zur nebenwirkungsfreien Behandlung des Prämenstruellen Syndroms von Milliarden Frauen zu Ende zu entwickeln (Dmitrovic 2013), dann kann die tief sitzende, kulturelle Rollenverteilung nicht klarer zum Ausdruck kommen. Mit unnötigen Hysterektomien klingelt der Geldbeutel von Ärzt:innen in Kliniken, die entweder an der Börse notiert sind oder mit solchen am Markt konkurrieren, anstatt körperschonende Methoden zum Ziel zu haben. Seit drei Jahrzehnten etabliert sich mühsam und gegen viele Widerstände nun eine neue Sichtweise auf die Medizin: die Gendermedizin.
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Eine Studie zeigte auf, dass die 18.670 gefundenen Gene im menschlichen Körper in 53 Gewebearten aktiv sind, aber 6.500 Gene – also gut ein Drittel davon – in 7 Gewebearten bei Frauen vollkommen anders agieren als bei Männern (Gershoni et al. 2017). Die genderspezifischen genetischen Unterschiede wirken sich auch aus auf Morphologie (Beschaffenheit und Organisation) und Metabolismus (Stoffwechsel) verschiedener Gewebearten bis auf die Zellebene (Whitley et al. 2009), die kardiovaskuläre Homöostase (Graves 2017) und das Reizleitungssystem des Herzens. Weibliche und männliche Metabolite, die Vorstufen für den Auf- und Abbau (Ana- und Katabolismus) von Stoffwechselprodukten und der Einfluss der weiblichen und männlichen Hormone darauf, spielen eine wesentliche Rolle für Art und Umfang der Verstoffwechselung von Arzneimitteln, das heißt auf Wirkstärke, -effekte, -dauer, Halbwertszeit im Blutserum sowie den Abbau über Leber, Nieren oder Darm. So bauen Frauen Stoffwechselprodukte und bestimmte Wirkstoffe langsamer ab als Männer (Pollitzer 2013).
Wie die Gendermedizin herausfand, unterscheiden sich männliche und weibliche Zellen zunächst unabhängig von Einfluss und Wirkung von Hormonen (Pollitzer 2013). Hinzu kommt der Einfluss von Geschlechtshormonen wie Östrogen im Zyklusverlauf, aber auch von Stresshormonen wie Cortisol, Adrenalin oder Noradrenalin und Gewebehormonen, zum Beispiel von Serotonin. Geschlechtshormone können die Wirksamkeit von Medikamenten deutlich verstärken oder drosseln. Da Frauen mehr Fettgewebe als Männer besitzen, haben lipophile Medikamente wie zum Beispiel Benzodiazepine oder neuromuskuläre Blocker, wie Muskelrelaxantien, bei Frauen eine längere Wirkdauer (Whitley et al. 2009).
Ob ein Wirkstoff potenziell unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW) nach sich zieht oder für Frauen sogar schädlich ist, hat daher weniger mit Körpergewicht, Größe oder Alter zu tun, als mit den Unterschieden in Morphologie und Metabolismus in weiblichen oder männlichen Geweben und Zellen. Die Dosierung nach dem Körpergewicht zu senken oder zu erhöhen kann nur Teil, nicht aber die Lösung sein. Dennoch ist der Verband forschender Arzneimittelhersteller (vfa) der Auffassung, die Wirkung eines Medikaments ändere sich hinsichtlich der mittleren Serumkonzentration und Verweildauer eines Wirkstoffes im Blut statistisch weniger durch das Geschlecht, als vielmehr durch das Alter oder das persönliche Gesundheitsverhalten der Patient:innen (vfa 2021). Der Verband nennt selbst sieben Medikamente, für die es ganz offensichtlich keinen unwichtigen Unterschied macht, ob sie eine Frau oder ein Mann einnimmt, und die nach Geschlecht differenziert eingenommen werden müssen (vfa 2021). Zu diesen Medikamenten gehören unter anderem Follitropin bei Fruchtbarkeitsstörungen (Ei- und Spermienreifung) oder Zolpidem gegen Schlafstörungen. Letzteres führte aufgrund undifferenzierter Dosisangaben in den USA zu häufigen Autounfällen, an denen Frauen nach der vorabendlichen Einnahme am Morgen häufiger beteiligt waren.
Erst seit 2004 ist es in Deutschland verpflichtend, Frauen in Arzneimitteltests überhaupt einzubeziehen. Ausnahmen gibt es nur dann, wenn ein Medikament nur für ein Geschlecht zugelassen werden soll. Betroffene des anderen Geschlechts haben dann das Nachsehen (Beispiel: 500 Brustkrebsfälle bei Männern pro Jahr, vfa 2021). Zuvor wurden Medikamente oft überhaupt nicht an Frauen getestet, wie zum Beispiel Aspirin (Schiebinger 2003) oder Diazepam. Noch heute werden lediglich 12 % der Studien zu frauenspezifischen Erkrankungen – insofern überhaupt nach Geschlecht differenziert wird – tatsächlich auch an weiblichen Tieren durchgeführt (Yoon et al. 2014, zitiert nach Criado-Perez 2020).
Der vfa gibt zu, dass »[a]n einer Teilnahme [an Arzneimittelforschungen] interessierte Frauen und Mädchen im fortpflanzungsfähigen Alter […] nachgewiesen nicht schwanger sein [dürfen] und […] sich zu zuverlässiger Verhütung verpflichten [müssen].« Weiter heißt es: »In der Regel wird Verhütung mit zwei Methoden zugleich verlangt« (vfa 2021) – mit anderen Worten: Verhütung mit Pille und Kondom. Einige Genetikerinnen und Gendermedizinerinnen sehen hier ein großes Problem: Die Forschungen sind zu ungenau und undifferenziert. Auch die amerikanische Lebens- und Arzneimittelbehörde, die Food and Drugs Administration (FDA), sah sich nicht umsonst zwischen 1997 und 2001 gezwungen, zehn Medikamente aus dem Verkehr zu ziehen, von denen acht lebensgefährliche UAW bei Frauen auslösten (Pollitzer 2013).
Die australische Genetikerin Prof. Dr. Jenny Graves an der La Trobe Universität für Molekularwissenschaften in Melbourne, macht deutlich, dass das Y-Chromosom 27 Gene besitzt, von denen eines nach der zwölften Schwangerschaftswochen die Richtung des Geschlechts angibt; bei Frauen sind die Gene auf den beiden X-Chromosomen in doppelter Menge vorhanden (Graves 2017). Von diesen Genen werden hunderte weitere Gene beeinflusst. Auf diesen Unterschied wird die Ursache für das stärkere Immunsystem zurückgeführt, aber auch die häufigeren unerwünschten Nebenwirkungen auf Arzneimittel oder Impfstoffe (Klein et al. 2014) und auch die höhere Inzidenz für Autoimmunerkrankungen (Anderson 2008).
Ethikkommissionen und Behörden lehnen es häufig ab, Schwangere und stillende Mütter für spätere Phasen von Arzneimitteltests zuzulassen. Oft sind die Studien dann nicht ausgereift, wenn Medikamente für Frauen in unterschiedlichen Zyklusphasen auf den Markt kommen – die Sicherheit für sie ist dann geringer. So hat es auch bis zu einer sicheren Impfempfehlung der STIKO und einer klaren Haltung gegenüber Impfungen gegen Sars-CoV-2 für Schwangere und Frauen mit Kinderwunsch zu lange gedauert, so dass schwere Covid-19-Verläufe bei Schwangeren mit letalem Ausgang für Mutter oder Kind keine Seltenheit waren und noch immer nicht sind (SWR 2021). Bei der Entwicklung von Impfstoffen wird noch zu wenig auf die geschlechtsspezifische Immunreaktion geachtet. So sprechen sich manche Wissenschaftler:innen für unterschiedliche Influenza-Vakzine für Frauen und Männer aus (Klein et al. 2014).
Geht es nach den beiden US-Forscherinnen Dr. Heather P. Whitley und Dr. Wesley Lindley, beide an der Harrison Pharmazeutischen Fakultät an der Auburn University im US-Bundesstaat Alabama, ist die höhere Inzidenz für UAW bei Frauen von 50 bis 75 % (Rademaker 2001) auf drei Faktoren zurückzuführen:
Eine häufigste Nebenwirkung seien kardiovaskuläre UAW (75 % häufiger als bei Männern).
Tatsächlich zeigen Frauen deutlich höhere Risiken für sogenannte polymorph-ventrikuläre, potenziell letale »Torsade-de-Pointes-Tachykardien«, aufgrund ihrer geringeren »kardialen Repolarisations-Reserve« bei Medikamenteneinfluss (Drici 2001). Sie können durch eine Reihe von Pharmaka ausgelöst werden, welche auf die QTc-Zeit (die Zeit zwischen Erregungsausbreitung und Repolarisation in beiden Herzkammern) einwirken und diese verlängern können. »Östrogene erleichtern dabei die Bradykardie-induzierte Verlängerung des QT-Intervalls und die Gefahr einer Arrhythmie«, so Dr. Milou-Daniel Drici, Professor für Medizin und Klinische Pharmakologie am Universitätsmedizinischen Zentrum in Nizza, Frankreich (Drici 2001).
Zu den Medikamenten, die Torsade-de-Pointes-Tachykardien auslösen können, gehören vor allem
Auffällig sind aber auch andere Laborparameter. Erleiden Frauen zum Beispiel am Tage einen Herzinfarkt, so zeigen sie eine höhere Neutrophil-Antwort als in der Nacht (Criado-Perez 2019). Der hochsensitive Troponin I-Wert (hsTNI) ist bei Frauen geringer als beim Mann und liegt damit oft unter der Schwelle dessen, was beim Mann als Nachweis für einen Herzinfarkt herangezogen wird. So werden Myokardinfarkte ohne klare EKG-Veränderungen bei Frauen immer wieder auf eine psychovegetative Ursache hin bewertet, statt genauer untersucht. Besonders junge Frauen erhalten Fehldiagnosen, die für sie tödlich enden können (Regitz-Zagrosek et al. 2020). Die Weiterentwicklung genderspezifischer Biomarker für Herzanfälle könnte daher eine bessere Diagnosestellung und so eine zielführende Behandlung erlauben (Kautzky-Willer in Science Daily 2016). Auch psychosozialer Stress äußert sich bei Frauen häufiger in kardialen Symptomen.
Dass gesunde junge Männer wenig mit Schwangeren gemein haben, liegt auf der Hand. Die Forschung hört hier aber nicht auf. So hat die Epigenetik festgestellt, dass es zwischen den weiblichen und männlichen Ausprägungen des Geschlechts ein Kontinuum auf Ebene von Zellen und Hormonen gibt. Gendermedizin in zwei Schubladen – Frau und Mann – zu denken, wäre daher nicht zielführend. Vielmehr sollte es um eine individualisierte, patientenzentrierte Medizin gehen, die unter den Ökonomisierungsmaximen der letzten Jahrzehnte unter die Räder kam. Den Blick auf Gendermedizin zu richten birgt die große Chance, Selbstverständlichkeiten in den Blick zu nehmen und kritisch zu beleuchten und so das Bewusstsein dafür zu schaffen, dass die Hälfte der Menschheit nicht etwa eine Ausnahme oder eine Minderheit darstellt, die man nach einem männlichen »Goldstandard Mensch« nebenher eben mal mitversorgt.
Gendermedizin soll als verpflichtendes Querschnittsfach in die Ausbildung von Ärzt:innen aufgenommen werden; das fordern Studierende im Hartmannbund und der Deutsche Ärztinnenbund (ÄrzteZeitung 2021). – »Aus wissenschaftlicher Sicht ist alles, was keine Gender-Perspektive hat, defizitär«, erklärt auch die Ärztin Brigitte Strahwald an der Pettenkofer School of Public Health, Ludwig-Maximilians-Universität München (Ärzte-Zeitung 2021).
Der Gender Data Gap und damit der Gender Health Gap können nicht ohne solche Schritte reduziert werden. Heute stehen mehr Forschungsmöglichkeiten mit modernster Technik zur Verfügung, so zum Beispiel MRTs mit sieben Tesla-Magnetstärke, die neue Erkenntnisse über die Funktionsweise von Herz, Gehirn und anderen Organsystemen ermöglichen – auch genderbezogen. Forschungslücken, zum Beispiel im Bereich des weiblichen Herzens, könnten so geschlossen und bisherige Therapien weiterentwickelt werden. Es hat sich gezeigt, dass die Einbeziehung sozialer Aspekte in gesundheitsbezogene Forschungsfragen zu einem höheren Frauenanteil in den wissenschaftlichen Teams führt.
Auch die Geburtshilfe kann beitragen, indem sie bisherige Praktiken beherzt in Frage stellt. So sollten, wie es die Hebamme Ulrike Harder beim Hebammenforum 2019 in Wiesbaden forderte, zum Beispiel überkommene Termini wie »Blasensprengung« oder »Fruchtwalze«, wie sie Militärärzte in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts erschufen, ohne dabei die Frauen nach ihren Bedürfnissen zu fragen, endlich ablegt und neue Akzente gesetzt werden. Auch in der Ausbildung sollte die Gendermedizin einen selbstbewussten Platz finden.
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Clayton JA: Studying both sexes. A guiding principle for biomedicine. the FASEB Journal 2015. 30 (2): 519–524, https://doi.org/10.1096/fj.15–279554
Dmitrovic R, Kunselman AR, Legro RS: Sildenafil citrate in the treatment of pain in primary dysmenorrhea: a randomized controlled trial. Human Reproduction 2013. 28 (11): 2958–2965. doi: https://doi:10.1093/humrep/det324
Drici MD et al.: Is gender a risk factor for adverse drug reactions? The example of drug-induced long QT syndrome. Drug Saf. 2001. 24(8):575–585. doi:10.2165/00002018–200124080–00002
Graves J: Not just about sex: throughout our bodies, thousands of genes act differently in men and women. http://theconversation.com/not-just-about-sex-throughout-our-bodies-thousands-of-genes-act-differently-in-men-and women-86613
Gershoni M, Pietrokovski S: The landscape of sex-differential transcriptome and its consequent selection in human adults. BMC Biology 2017. 15(1). doi: 10.1186/s12915–017–0352-z
Hünerfeld P: »Ungeimpfte auf der Corona-Intensivstation – Freiburger Pflegepersonal zwischen Frust, Betroffenheit und Wut«. SWR-aktuell 2021. www.swr.de/swraktuell/baden-wuerttemberg/suedbaden/covid-patienten-auf-intensivstation-freiburg-100.html
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