An Kindern, die nicht mit eindeutigem Geschlecht zur Welt kommen, werden in Deutschland immer noch geschlechtsverändernde Operationen vorgenommen, die medizinisch nicht notwendig wären. Betroffene, ihre Verbände sowie nationale, europäische und internationale Organisationen kritisieren diese Praxis seit Jahren und fordern ein Verbot dieser Operationen im Kindesalter. Am 25. März wurde vom Bundestag das Gesetz zum Schutz von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung beschlossen (siehe Links).
Die Stimme der Betroffenen hören
»Als ich 18 war, habe ich mich entschieden, meine Hoden entfernen zu lassen. Mir war vom Arzt mitgeteilt worden, dass ich ein hohes Krebsrisiko habe, wenn ich diese behalte. Ich sei trotz meiner XY-Chromosomen eine Frau, wurde mir versichert. Die andere Möglichkeit wäre gewesen, ein Mann zu sein, und das war ich nun auch nicht. Also habe ich das als richtig hingenommen und danach gelebt. Eine Frau darzustellen war mir allerdings nicht möglich. 15 Jahre später begegnete ich in einer Selbsthilfegruppe anderen intergeschlechtlichen Menschen. Diese Begegnungen haben mein Geschlechterbild erweitert und ich konnte endlich als intergeschlechtlicher Mensch da sein. Das kannte ich bisher nicht. Hätte ich diese OP nun noch machen lassen, ohne diesen Wunsch, zu den Frauen zu gehören? Ich weiß es nicht.«, so resümiere ich, Anjo Kumst, heute meinen Weg.
In der Diskussion um Operationen und Behandlungen an Menschen mit Varianten der Geschlechtsentwicklung stellt sich immer wieder die Frage, ab wann ein Mensch einwilligungsfähig ist. Das ist allerdings für jede Person zu einem anderen Zeitpunkt gegeben. Manche Kinder können mit drei Jahren schon etwas über ihre Geschlechtsidentität aussagen; einige Jugendliche stehen im Alter von 12 bis 16 Jahren vor der Frage, welche Hormone sie zur »richtigen« Körperentwicklung nehmen möchten. Und ganz oft müssen Entscheidungen im Jugendalter getroffen werden, die man erst mit 30 Jahren fundiert treffen kann. Die Behandlungen haben Folgen, die nicht umkehrbar sind, insbesondere Operationen. Um Kinder vor den Folgen von unnötigen und später vielleicht nicht gewollten Operationen zu schützen, wurde ein Gesetz beschlossen, das diese Behandlungen reglementiert.
Etwa 1,7 % aller Menschen leben laut der WHO mit einem intergeschlechtlichen Potenzial. Bei einem von 500 Neugeborenen wird es bereits rund um die Geburt entdeckt, bei anderen in der Pubertät oder im Erwachsenenalter, bei wieder anderen niemals.
Operationen, ihre Geschichte und aktuelle Entwicklungen
Intergeschlechtlichkeit beschreibt vielfältige Varianten körperlicher Geschlechtsmerkmale, die bei intergeschlechtlichen Menschen zwischen der gängigen medizinischen Definition von Männern und Frauen oder um diese herum liegen beziehungsweise eine Mischung darstellen.
Oftmals werden schon bei Kleinkindern chirurgische Maßnahmen an den Genitalien und/oder Gonaden vorgenommen. Diese Operationen dienen nur dazu, dass die Kinder eindeutig männlich oder weiblich aussehen sollen. Sie sind in der Regel nicht medizinisch notwendig, sondern rein kosmetischer Natur. Und das mit verheerenden Folgen: Narbengewebe schmerzt, Nerven sind durchtrennt, empfindliches erektiles Gewebe zerstört, die sexuelle Empfindungsfähigkeit, sowie die Orgasmusfähigkeit gehen verloren oder sind stark eingeschränkt. Diese Operationen können nicht rückgängig gemacht werden. Medizinisches Personal weiß: Ist der Nerv durchtrennt, gibt es kaum Möglichkeiten ihn zu heilen. Die Betroffenen sind oft noch nicht im einwilligungsfähigen Alter, müssen jedoch ihr ganzes Leben mit den Folgen leben. Diese Operationen sind in den letzten Jahren nicht zurückgegangen, haben Josch Hoenes und KollegInnen in einer Follow-up-Studie zur Häufigkeit normangleichender Operationen »uneindeutiger« Genitalien im Kindesalter herausgefunden (Hoenes et al. 2019).
Zum Outcome, also zur Behandlungszufriedenheit und zum Behandlungsergebnis dieser Operationen, gibt es nur wenige Studien. Doch diese zeigen: Das Outcome ist katastrophal schlecht. In fast allen Fällen treten schwerwiegende Komplikationen auf, die weitere Operationen notwendig machen. Ein Großteil dieser Operationen hat nicht nur nichts genützt, sondern sogar geschadet (Voß 2012). Von medizinischen Behandlungen wird eigentlich anderes erwartet.
Das Recht auf Selbstbestimmung
Dass diese Eingriffe im ersten oder zweiten Lebensjahr eines Kindes stattfinden, wird damit begründet, dass die Traumatisierungen durch eine OP später nicht erinnert würden. Das ist aber nicht bewiesen. Auch geht man davon aus, dass ein Kind, das eindeutig männlich oder weiblich aussieht, in der Schule nicht ausgegrenzt würde. Das ist nicht unbedingt der Fall, denn auch nach einer OP kann ein Anderssein erkannt und eine entsprechende Reaktion gezeigt werden. Grundlage für solch eine Argumentation ist sicherlich, dem Kind helfen zu wollen, es ist allerdings selten erfolgreich und mit großem Leiden für das Kind verbunden.
Ein weiteres Argument für eine solche Behandlung ist, dass die Eltern ihr Kind nur dann richtig annehmen könnten. Man weiß allerdings nie, wie sich ein Kind entwickelt, ob es nun eine Variante der Geschlechtsentwicklung hat oder nicht. Mit einer solchen Praxis erleiden die Kinder Behandlungen, weil die Eltern oder die Gesellschaft ein Problem mit Anderssein haben.
Selbstorganisationen intergeschlechtlicher Menschen wehren sich seit den 1980er Jahren gegen diese Operationen. Betroffene fanden zusammen, um gemeinsam auf ihre Situation aufmerksam zu machen und für das Recht intergeschlechtlicher Menschen auf geschlechtliche Selbstbestimmung sowie körperliche und seelische Unversehrtheit zu kämpfen. Sie zeigten und zeigen auf, dass diese Behandlungspraktiken gegen international anerkannte Menschenrechtsnormen verstoßen, etwa das Übereinkommen über die Rechte des Kindes (Kinderrechtskonvention), das Übereinkommen zur Beseitigung der Diskriminierung der Frau (Frauenrechtskonvention) und das Übereinkommen gegen Folter (Antifolterkonvention) sowie die Europäische Menschenrechtskonvention.
Sexualität als Persönlichkeitsmerkmal
Nun wäre es zu kurz gegriffen, den Mediziner*innen, die früher genitalverändernde und -herstellende Operationen durchführten, böse Absichten zu unterstellen. Sie waren Kinder ihrer Zeit und diese Zeit war eine binäre und eindeutige! In den 1960er Jahren wurde international ein Behandlungsprogramm durchgesetzt, das bei »uneindeutigen« Geschlechtsmerkmalen eine »Vereindeutigung« vorsah. Die Entwicklung einer »gesunden«, also eindeutigen Geschlechtsidentität war höchstes Ziel und konnte nur mit einem eindeutigen männlichen oder weiblichen Körper erfolgen. Nach den Operationen sollte in der Familie Stillschweigen bewahrt werden. Das war der Plan, funktioniert hat er kaum. Zwar wurde innerhalb der Familie nicht über die Intergeschlechtlichkeit des Kindes geredet, aber immer merkten die Kinder den berühmten rosa Elefanten im Raum und stießen auf eine Mauer des Schweigens. Zuletzt haben es die Kinder meistens doch herausgefunden.
Die 1960er Jahre sind lange vorbei und die Gesellschaft ist eine andere, plurale geworden: Die körperliche und seelische Unversehrtheit ist ein Menschenrecht! Die Gesundheit von Menschen gilt als schützenswertes Gut. Die Sexualität ist ein individuelles Persönlichkeitsmerkmal eines jeden Menschen.
Auch in Bezug auf das Kindeswohl und die Rechte des Kindes hat es seit den 1960er Jahren einige gesellschaftliche Veränderungen gegeben. Nun sind Kinder nicht nur Verlängerungen ihrer Eltern, sondern Menschen mit eigenen Rechten, die geschützt werden müssen. In der Gesellschaft stellt sich die Frage, inwieweit Eltern über genitalverändernde Operationen bei ihren Kindern entscheiden dürfen. Viele Organisationen denken vielfältig und ziehen nicht-binäre Menschen in ihr Handeln ein. Seit der Einführung des diversen Personenstands ist die Vielfalt sogar in Stellenanzeigen und öffentlichen Dokumenten zu finden.
Böses muss aber doch einigen Mediziner*innen unterstellt werden, und zwar jenen, die immer noch diesem »optimal gender paradigma« aus den 1960er Jahren anhängen, die nicht auf die Stimmen der Betroffenen hören, die Selbstorganisationen intergeschlechtlicher Menschen ignorieren, die katastrophalen Studienergebnisse schönreden und die Zeichen der Zeit ausblenden. Die Lösung kann nur eine vielfältige Gesellschaft sein, die Diversität nicht als Bedrohung, sondern als Selbstverständlichkeit wahrnimmt.