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Die vielfältigen Reaktionen auf einen Essay über Geschlechtsidentität in der Deutschen Hebammen Zeitschrift wirft die Frage auf, was eine gute Debatte ist. Wie können wir es schaffen, eine umsichtige Streitkultur auch innerhalb unserer Berufsgruppe zu wahren? 

»Genderneutralität und die Interessen von Frauen«. So lautete der Titel eines Essays, der in der DHZ 12/2023 unter dem Pseudonym Elinor Hertwig veröffentlicht wurde. Der Artikel befasste sich mit der Bewegung für die Rechte von Trans-Personen und deren Forderung nach einer freien Genderidentität – persönlich und institutionell, rechtlich und sprachlich. Hinterfragt und diskutiert wurde, was eine Umsetzung dieser Forderungen gesamtgesellschaftlich bedeuten könnte. Logische Frage an dieser Stelle – oder doch nicht?

Allein die Tatsache, dass die Verfasserin das Bedürfnis hatte, anonymisiert zu diesem Thema zu schreiben, macht deutlich: Wir haben ein Problem in unserer Diskussionskultur. In der Debatte um Geschlecht und Sprache wirkt es mittlerweile so, als würden Inhalte nicht mehr als solche gelesen und mit Abstand reflektiert und dann eingeordnet und kritisiert werden, sondern als gebe es gewisse »Triggerworte«, die – quasi reflexartig – eine direkte Abwehr hervorrufen.

Zum Artikel hat die Redaktion einige Leserinnenbriefe bekommen – mit teils scharfen Worten und unversöhnlicher Kritik. Dies möchte ich für das Gelingen unserer künftigen Debatten und Diskussionen einmal genauer betrachten.

Inhalt statt Angriff

Vermehrt kommt es in der Kritik an Schriften zum Thema Geschlecht und Geschlechtsidentität, beziehungsweise dem Umgang damit, zu Angriffen. Zu beobachten ist dies vor allem im universitären Kontext und in den Sozialen Medien. Da sich die Ausbildung der Hebammen an die Universitäten verlagert hat, müssen wir uns als Berufsgruppe nun verstärkt auch anderen, breiter gefächerten Diskursen stellen – wie der Diskussion um die Frage nach dem Geschlecht und dem Umgang mit queeren Menschen und Transmenschen und deren Rechten. Zweifelsohne sind wir als Berufsgruppe in hohem Maß an der Gesundheit der Menschen interessiert, ist es doch unser Job, diese zu schützen und zu fördern. Es ist uns als Kolleg:innen jedoch nicht zuträglich, wenn wir uns in polarisierten Debatten verlieren und gegeneinander agieren.

Unbestritten ist der Artikel ein Beitrag, der das Konzept der Geschlechtsidentität und den Umgang damit sehr kritisch hinterfragt und seinen Schwerpunkt nicht auf das individuelle Erleben Betroffener legt, sondern eine gesamtgesellschaftliche Ebene betrachtet. Selbstverständlich bringt das mit sich, dass Menschen anderer Meinung sind und Umstände für sich anders betrachten, anders einordnen und Schwerpunkte anders setzen. Und das muss möglich sein.

Schwierig wird es, wenn dabei nicht mehr inhaltlich argumentiert wird, sondern ausschließlich emotional. Regelmäßig finden sich in der Kritik von Transaktivist:innen und deren sogenannten »Allys« (Verbündeten) reflexartig Worte wie »transfeindlich«, »antifeministisch«, »menschenrechtsverletzend«, »diskriminierend« und »rechtskonservativ« – so auch in verschiedenen Briefen und E-Mails an die DHZ-Redaktion (Ausschnitte siehe DHZ 1/2023, Seite 96ff. und DHZ 3/2023, Seite 121 ff.). Welcher Rhetorik bedienen wir uns? Es ist gefährlich, schwerwiegende Vorwürfe leichtfertig vorzubringen und an Stellen zu benutzen, an denen ihr eigentlicher Sinn umgedeutet und somit abgeschwächt wird. Unsere Geschichte geht weiter als die der Feminist:innen der dritten Welle und weiter als die bunten Erklär-Slides auf Instagram.

Was genau bedeutet »transfeindlich« – ab wann ist ein Mensch das? Und ab wann ist der Mensch dann »frauenfeindlich«? Ab wann kippt eine politische Ausrichtung? Bei gesellschaftlicher Analyse mit lautem Nachdenken? In dem Fall ist jegliche Reflexion gesellschaftlicher Entwicklung schwierig. Und genau an diesem Punkt sind wir in der Debatte.

»Canceln« als Antwort

Den Menschen sollte an einer ernstgemeinten Beobachtung gesellschaftlicher Phänomene und Entwicklungen und einer kritischen Diskussion gelegen sein – ohne sich dabei auf die Interessen einer einzelnen Gruppe zu beschränken, sondern um Phänomene im Gesamten zu bedenken. Bilden wir uns jedoch eine unumstößliche und geschlossene Meinung und lassen uns nicht auf eine sachliche Argumentation ein, dann sind wir nicht mehr fähig, Kontexte und Situationen mündig und reflektiv einzuordnen – ein wichtiger Grundpfeiler unserer Arbeit als Hebammen.

Leser:innen der DHZ wissen: Die Themen Geschlecht, Trans, LGBTQ+ und Inter finden nicht mit dem in der Kritik stehenden Beitrag erstmals Platz in der Zeitschrift – zahlreiche Artikel haben in den letzten Jahren verschiedene Aspekte dazu aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet. Nun erscheint ein Artikel, der der persönlichen Meinung einiger Leser:innen offenbar widerspricht. Beim Lesen der Briefe und E-Mails an die Redaktion lässt sich feststellen, dass die Reaktion auf das negative Erleben der Inhalte nicht etwa der proaktive Versuch zur Diskussion ist. Sie umfasst auch nicht allein das oben beschriebene reflexartige Benutzen politisch und historisch aufgeladener Begriffe, sondern reicht bis zum affektiven Abbruch des Abonnements.

Sicher gehen Meinungen auch beim Thema Spontangeburt nach Re-re-Sectio oder Betreuungskonzepten bei einer Geburt aus Beckenendlage auseinander. Auch zu gesellschaftlich polarisierenden Themen wie dem Schwangerschaftsabbruch gab es in der DHZ schon Beiträge aus sehr unterschiedlichen Perspektiven – doch hat deshalb noch niemand das ganze Medium an sich verbannt. Unsere Debattenkultur, die sonst in vielen Bereichen so wirksam und wertschätzend funktioniert, erlebt hier eine Krise.

Was dürfen wir?

Mangelnde persönliche Betroffenheit oder eigenes Erleben werden oft als Kritik oder Gegenargument benutzt, wenn Menschen sich an Debatten beteiligen, in denen sie nicht direkt betroffen sind. Kurz gesagt: Wenn ich nicht BPoC (Black and People of Colour) bin, darf ich mich nicht allzu sehr an Debatten über Rassismus beteiligen. Wenn ich kein:e Palästinenser:in bin, sollte ich mich in meiner Haltung zum Nahostkonflikt zurückhalten. Und wenn ich keine Transperson bin, dann darf ich auch in dieser Debatte nicht so einfach urteilen – denn ich weiß ja nicht, wie es sich anfühlt. Auch der Artikel von Elinor Hertwig wurde mit der Forderung kritisiert, man solle zu solchen Themen Betroffene schreiben lassen und nicht Menschen, die keine Erfahrungen mit dem Thema gemacht haben.

Marginalisierte Gruppen zu Wort kommen zu lassen ist wichtig – ja sogar unerlässlich, um Prozesse und Wandel nachhaltig zu gestalten. Die Gesellschaft muss sie hören und sich darin üben, verschiedene Perspektiven zu erkennen. Vor allem muss sie es schaffen, auf das Leid und die Sorgen dieser Gruppen wirksam einzugehen. Das wird nur gelingen, wenn alle an Fragen und Debatten teilnehmen dürfen. Darf ich als Wissenschaftler:in zwar Gender-Studies studieren, danach aber keinen kritischen Inhalt publizieren, weil ich diese Wissenschaft als cis-Hetero studiert habe?

Es gilt nicht mehr als zeitgemäß, Kindern Sanktionen mit den Worten »…, weil ich deine Mutter bin und es sage!« zu erklären – mit Grund. Also tun wir es untereinander auch nicht. Nehmen wir den eigenen Erlebnishorizont und die persönliche Betroffenheit als Indikatoren für absolute Gültigkeit, dann steht am Ende einer Debatte nur noch Position gegen Position. Um Probleme ganzheitlich anzugehen, brauchen wir aber wissenschaftliche Grundlagen. Wissenschaft muss von subjektiven Erfahrungen lernen, aber sie muss auch von ihnen abstrahieren können, um tatsächlich wissenschaftlich zu werden.

Menschen sind Expert:innen für ihre eigene Diskriminierung – aber nicht zwangsläufig Expert:innen für gesamtgesellschaftliche Phänomene. Wir dürfen also Fragen stellen und wir dürfen sie teilen, auch wenn wir nicht betroffen sind. Tun wir dies nicht, haben wir nicht nur ein Problem in unserer Debattenkultur, sondern schlicht keine Debatte mehr.

Wie geht es weiter?

Um miteinander zu sprechen, braucht es eine Reihe von Qualitäten. Die Bereitschaft, die eigene Position kritisch zu überprüfen, Bereitschaft zum Zuhören, zum Perspektivwechsel der anderen Meinung und Respekt dem anderen Menschen gegenüber. Es braucht Ambiguitätstoleranz – die Fähigkeit zu akzeptieren, dass scheinbar gegensätzliche Wahrnehmungen »richtig« sein können. »Kommunikative Vernunft bedeutet sowohl Konsensfähigkeit als auch Dissenstoleranz«, so formuliert es der Psychologe Stefan Busse (Busse, 2022). Das bedeutet: Aushalten, dass wir unterschiedlich denken und dass es hier keine alleinige Wahrheit gibt.

Das Netzwerk für Wissenschaftsfreiheit tritt für eine Debattenkultur ein, »… in der alle Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Studierenden ihre Erkenntnisinteressen frei von Sorgen vor moralischer Diskreditierung, sozialer Ausgrenzung oder beruflicher Benachteiligung verfolgen und ihre Argumente in Debatten einbringen« (Netzwerk Wissenschaftsfreiheit, 2023). Es ist diese Haltung, die wir uns auch für die Debatte in unserer Profession wünschen sollten.

Im Dialog bleiben

Wir Hebammen haben uns so vielen Herausforderungen zu stellen, es steht zu viel auf dem Spiel, um sich wegen einzelner Teildebatten zu spalten und zu verlieren. Die globale Situation der Schwangeren und Gebärenden ist prekär, die Müttersterblichkeit in Teilen der Welt so hoch wie seit Jahrzehnten nicht. Klinikschließungen machen nirgendwo Halt. Der Stellenschlüssel in den Kreißsälen schreit nach Burnout und immer noch müssen Schwangere und Gebärende hart um ihre Selbstbestimmung kämpfen – vom globalen Kampf für einen straffreien Schwangerschaftsabbruch und die schwerwiegenden Folgen für alle Betroffenen ganz zu schweigen.

Wir Hebammen haben gemeinsame Ziele, und zwar nicht wenige. Es ist vor allem der Blick darauf, der uns verbindet, und die Bereitschaft, aufeinander zuzugehen, einander zuzuhören, wertschätzend und fair miteinander zu sprechen und uns trefflich zu streiten – um am Ende mit vereinten Kräften diese vielen Aufgaben und Herausforderungen anzugehen.

Zitiervorlage
Scheede, A. M. (2023). Debattenkultur auf dem Prüfstand. Deutsche Hebammen Zeitschrift, 75 (5), 82–84.
Links
Busse, S. (2022). Supervision und die Verschiebung des Sagbaren. Positionen. Beiträge zur Beratung in der Arbeitswelt. 3/2022. https://www.dgsv.de/wp-content/uploads/2022/12/Positionen_3_2022.pdf

Netzwerk Wissenschaftsfreiheit: https://www.netzwerk-wissenschaftsfreiheit.de/

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