Die Intersex-Flagge, entworfen 2013 von Morgan Carpenter von der Selbsthilfeorganisation Intersex Human Rights Australia. Illustration: © o_a/stock.adobe.com

»Wird es ein Junge oder ein Mädchen?« Diese Frage wird werdenden Eltern häufig schon vor der Geburt gestellt. Aber es gibt mehr Varianten der Geschlechtsentwicklung. 

Die Frage »Wird es ein Junge oder ein Mädchen?« bezieht sich auf unser biologisches Geschlecht. Die menschliche Geschlechtsentwicklung beginnt in der vierten Schwangerschaftswoche. Dann finden sich beim Embryo alle Anlagen für das innere und äußere Genitale. In diesem Stadium zeigen die Strukturen jedoch noch keinerlei Geschlechtsunterschiede, weshalb es auch als indifferentes Stadium bezeichnet wird (Sadler 2014). Unsere Geschlechtschromosomen und weitere Gene bestimmen, wie sich die indifferenten Gonadenanlagen entwickeln (Lucas-Herald & Bashamboo 2014).

Bei den meisten Menschen entstehen zwei Hoden oder zwei Eierstöcke. In den Gonaden werden Geschlechtshormone in unterschiedlichen Mengen gebildet, die die weitere Entwicklung des inneren und äußeren Genitals beeinflussen. Das komplexe Zusammenwirken aller Faktoren lässt unterschiedliche Varianten der Geschlechtsentwicklung zu. Diese Varianten werden im Englischen auch mit »Differences of Sex Development (DSD)« bezeichnet.

Wie häufig solche Varianten der Geschlechtsentwicklung vorkommen, lässt sich nur schwer schätzen. Nicht bei allen Menschen wird im Laufe des Lebens eine Diagnose gestellt und nicht alle werden medizinisch begleitet. In Deutschland kommen jährlich etwa 140 Neugeborene mit ausgeprägten Besonderheiten des äußeren Genitals zur Welt (Thyen et al. 2006). Eine Variante der Geschlechtsentwicklung kann nach der Geburt außerdem dadurch auffallen, dass das Aussehen des äußeren Genitals nicht mit dem Chromosomensatz übereinstimmt, der in einer Pränataluntersuchung bestimmt wurde.

Anlaufstellen und Informationsmaterial

»Es ist ein Mädchen!« oder »Es ist ein Junge!« drücken also ein binäres Geschlechterverständnis aus, schließen aber keineswegs das gesamte Spektrum der menschlichen Geschlechtsentwicklung ein. Dieser Tatsache wurde in den letzten Jahren durch Änderungen des Personenstandsgesetzes Rechnung getragen. 2013 wurde zunächst die Möglichkeit gegeben, das Geschlecht des Neugeborenen beim Eintrag ins Geburtenregister offen zu lassen. 2018 wurde es um den Personenstand »divers« erweitert (BGBl 2018).

Wenig handeln, viel aufklären

Ein äußerlich intergeschlechtliches Genitale kann sich auch bei Mädchen mit einem adrenogenitalen Syndrom (AGS) finden. Dies ist eine Stoffwechselerkrankung, bei der die Cortisolproduktion in der Nebennierenrinde aufgrund eines Enzymdefektes beeinträchtigt ist. Stattdessen werden vermehrt Androgene hergestellt, die bei Mädchen eine Virilisierung (Vermännlichung) des äußeren Genitals bewirken. Ein Cortisolmangel kann sich beim Neugeborenen schon in den ersten Tagen durch Unterzuckerungen und Trinkschwäche zeigen. Bei manchen Kindern kommt ab der zweiten Lebenswoche ein bedrohlicher Salzverlust hinzu. Das Neugeborenen-Stoffwechselscreening beinhaltet daher auch die Untersuchung auf ein AGS. Durch die frühzeitige Diagnose und sofortige medikamentöse Behandlung können lebensbedrohliche Stoffwechselkrisen vermieden werden (Speiser et al. 2018).

Bei allen anderen Varianten der Geschlechtsentwicklung liegt im Allgemeinen kein sofortiger Handlungsbedarf vor. Trotzdem bestehen bei den betroffenen Familien oft eine große Verunsicherung und viel Informationsbedarf. Daher sollte zeitnah der Kontakt zu einem spezialisierten DSD-Zentrum hergestellt werden, in dem eine gezielte Diagnostik und interdisziplinäre Betreuung der Familie durch ein erfahrenes Team aus verschiedenen medizinischen und psychosozialen Fachkräften erfolgt. Frühzeitig werden auch Kontakte zu Selbsthilfegruppen und Peerberatung angeboten (Hughes et al. 2006; Deutsche Gesellschaft für Urologie et al. 2016; Cools et al. 2018).

Zunächst einmal ist es jedoch wichtig, den Familien vor Ort Sicherheit und Unterstützung zu bieten und offen zu kommunizieren. Die Eltern sorgen sich vor allem um die Gesundheit ihres Babys, die durch die variante Genitalentwicklung allein nicht beeinträchtigt ist. Der Befund sollte den Eltern offen mitgeteilt werden. Eine voreilige Geschlechtszuweisung ist dabei unbedingt zu vermeiden – es können zum Beispiel neutrale Begriffe wie »Kind« oder »Baby« verwendet werden. Hilfen zum Gespräch mit den Eltern finden sich in den empfohlenen Informationsbroschüren (siehe Kasten). Auch für die Eltern gibt es empfehlenswertes Informationsmaterial. Eine Broschüre der britischen Selbstorganisation »dsd families« wurde auch übersetzt: »Wenn Ihr Kind bei der Geburt nicht wie ein typisches Mädchen oder ein typischer Junge aussieht. Die ersten Tage« (siehe Kasten).

Wenn eine Kinderklinik vor Ort ist, kann zeitnah ein ausführlicheres ärztliches Gespräch mit den Eltern stattfinden. Anderenfalls sollte Kontakt zu einer kooperierenden Kinderklinik oder einem DSD-Zentrum aufgenommen werden.

Zwischen Leitlinie und Selbstorganisation

Für die Versorgung von Menschen mit Varianten der Geschlechtsentwicklung wurde erstmals im Jahr 2006 eine internationale Konsensusempfehlung veröffentlicht. Sie empfiehlt unter anderem die Behandlung durch multidisziplinäre Teams, ausführliche Aufklärung der Betroffenen und Angehörigen und deren Einbeziehung in Entscheidungsfindungen wie die Geschlechtszuweisung und chirurgische Therapie (Hughes et al. 2006). Diese Elemente sind auch in die deutsche Leitlinie »Varianten der Geschlechtsentwicklung« eingeflossen (Deutsche Gesellschaft für Urologie et al. 2016). Die Leitlinie und neuere europäische Empfehlungen (Cools et al. 2018) wurden unter Einbeziehung von Patient:innenorganisationen entwickelt, um die Belange der Betroffenen besser zu erfassen und ihnen eine gleichberechtigte Teilnahme an der Versorgung zu ermöglichen.

Nach den Änderungen des Personenstandsgesetzes ist im März 2021 auch das Gesetz zum Schutz von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung verabschiedet worden. Dies soll frühzeitige geschlechtsangleichende Operationen bei nicht Einwilligungsfähigen verhindern und eine spätere selbstbestimmte Entscheidung ermöglichen. Da das Gesetz nicht in allen Details unumstritten ist und wissenschaftliche Evidenzen über langfristige Outcomes schwer zu erheben sind, ist eine Re-Evaluation der Nutzen und Nachteile der Umsetzung nach fünf Jahren geplant.

Die Versorgung von Menschen mit seltenen Erkrankungen im Allgemeinen und Menschen mit Varianten der Geschlechtsentwicklung rückt nicht zuletzt durch den Einsatz der Selbstorganisationen zunehmend in den Fokus der Öffentlichkeit. Im Projekt »DSDCare« haben sich sechs zertifizierte DSD-Zentren (in Lübeck, Kiel, Berlin, Münster, München, Ulm und Tübingen), drei chirurgisch-urologisch spezialisierte Zentren (in Essen, Jena, Mannheim), das Universitätsklinikum Frankfurt als Entwickler des Open-Source-Registersystem für Seltene Erkrankungen und die Selbstorganisationen Intergeschlechtliche Menschen e.V. und AGS – Eltern- und Patienteninitiative e.V. zusammengeschlossen. Das Projekt wird vom Bundesministerium für Gesundheit gefördert. Es hat zum Ziel, die Versorgung von Menschen mit Varianten der Geschlechtsentwicklung über die gesamte Lebensspanne zu verbessern. Dies betrifft nicht nur die leitliniengerechte spezialisierte Betreuung an den genannten Zentren, sondern auch die Kommunikation mit Versorgenden außerhalb der Zentren. Über die Projekt-Homepage kann sich medizinisches und psychologisches Fachpersonal in Zukunft an eine Lotsenstelle am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein in Lübeck wenden (siehe Kasten). So können wichtige Fragen zeitnah beantwortet und Kontakte zu umliegenden Spezialist:innen vermittelt werden. Zusätzlich wird dort Informationsmaterial zu verschiedenen Versorgungsaspekten bei Varianten der Geschlechtsentwicklung bereitgestellt.

Das Projekt »Empower-DSD« setzt ein Schulungs- und Informationskonzept um, das die Partizipation von Patient:innen und Angehörigen in der Versorgung stärken soll (siehe Kasten). Es wird durch den Innovationsausschuss des Gemeinsamen Bundesausschusses gefördert. In diesem Rahmen wurde auch eine Broschüre für medizinisches Personal außerhalb der DSD-Zentren entwickelt: »Kinder mit Varianten der Geschlechtsentwicklung – ein Leitfaden für Hebammen, Pflegepersonal und Mediziner« (siehe Kasten).

Für Hebammen und Familien stellen auch die Selbstorganisationen AGS – Eltern- und Patienteninitiative e.V. und Intergeschlechtliche Menschen e.V. sehr gute und ausführliche Informationsbroschüren auf ihren Webseiten zur Verfügung (siehe Kasten).

Resümee

Ein guter Start ins Leben hängt nicht vom Geschlecht ab, sondern von einer liebevollen und professionellen Versorgung durch Eltern und medizinisches Fachpersonal und allgemeiner Gesundheit. Nichtsdestotrotz stellt eine Variante der Geschlechtsentwicklung alle Beteiligten auch heute noch vor große Herausforderungen in unserer Gesellschaft. Diese können durch eine bessere Aufklärung der Bevölkerung, Information und Vernetzung von Fachkräften und ein umfassendes Versorgungsangebot für die Familien bewältigt werden.

Zitiervorlage
Döhnert, U. (2021). Mehr als nur zwei Geschlechter. Deutsche Hebammen Zeitschrift, 73 (8), 66–69.
Literatur
Bundesgesetzblatt Jahrgang 2018 Teil I Nr. 48, ausgegeben zu Bonn am 21. Dezember 2018: Gesetz zur Änderung der in das Geburtenregister einzutragenden Angaben.

Cools M, Nordenström A, Robeva R, Hall J, Westerveld P, Flück C, Köhler B, Berra M, Springer A, Schweizer K, Pasterski V, COST Action BM1303 working group 1: Caring for individuals with a difference of sex development (DSD): a Consensus Statement. Nat Rev Endocrinol 2018. 14(7): 415–429

Deutsche Gesellschaft für Urologie (DGU) e.V.; Deutsche Gesellschaft für Kinderchirurgie (DGKCH) e.V.; Deutsche Gesellschaft für Kinderendokrinologie und -diabetologie (DGKED) e.V.: S2k -Leitlinie Varianten der Geschlechtsentwicklung. www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinie/174–001l_S2k_Geschlechtsentwicklung-Varianten_2016–08_01.pdf. 2016

Hughes IA, Houk C, Ahmed SF, Lee PA, LWPES/ESPE Consensus Group: Consensus Statement on Management of Intersex Disorders. Arch Dis Child 2006. 91 (7): 554–563

Lucas-Herald AK, Bashamboo A: Gonadal Development. In: Hiort O, Ahmed SF: Understanding Differences and Disorders of Sex Development (DSD). Endocr Dev. (27): 1–16. Karger, Basel 2014

Sadler TW: Medizinische Embryologie. 12. Auflage. Georg Thieme Verlag. Stuttgart, New York 2014

Speiser PW, Arlt W, Auchus RJ, Baskin LS, Conway GS, Merke DP, Meyer-Bahlburg HFL, Miller WL, Murad MH, Oberfield SE, White PC: Congenital Adrenal Hyperplasia Due to Steroid 21-Hydroxylase-Deificiency: An Endocrine Society Clinical Practice Guideline. J Clin Endocrinol Metab 2018. 103 (11): 4043– 4088

Thyen U, Lanz K, Holterhus PM, Hiort O: Epidemiology and initial management of ambiguous genitalia at birth in Germany. Horm Res 2006. 66 (4): 195– 203

https://staudeverlag.de/wp-content/themes/dhz/assets/img/no-photo.png