Die menschliche Fortpflanzung beginnt damit, dass ein Spermium in eine Eizelle eindringt. Diese zur Befruchtung fähigen männlichen und weiblichen Keimzellen entstehen ihrerseits, indem diploide Vorläuferzellen – Spermatogonien beim Mann und Oogonien bei der Frau – den komplexen Prozess der Reduktionsteilung beziehungsweise Meiose durchlaufen. Hier wird im ersten Schritt die Anzahl der Chromosomen halbiert. In der Genetik wird der Chromosomensatz oder Karyotyp der Frau durch die kurze Formel 46, XX ausgedrückt. Dies bedeutet: Die Gesamtzahl der Chromosomen beträgt 46 und zwei davon sind X-Chromosomen. Nach der im Eierstock ablaufenden Meiose enthält eine Eizelle 23 Chromosomen, wovon eines ein X-Chromosom ist. Beschrieben wird das als 23, X. Der Karyotyp des Mannes lautet hingegen 46, XY. Somit entstehen nach der im Hoden ablaufenden Meiose Spermien mit den Chromosomensätzen 23, X oder 23, Y. Vereinigen sich eine weibliche und eine männliche Keimzelle, gibt es zwei Möglichkeiten für das Geschlecht des entstehenden Embryos:
- 23, X (Eizelle) + 23, X (Spermium) = 46, XX (weiblicher Embryo) oder
- 23, X (Eizelle) + 23, Y (Spermium) = 46, XY (männlicher Embryo).
Das Geschlecht des Embryos und – bei erfolgreicher Schwangerschaft – des Neugeborenen wird also durch den Chromosomensatz des Spermiums bestimmt.
Nun könnte man annehmen, dass bei Betrachtung einer großen Zahl an Neugeborenen die, statisch gesehen, gleich große Wahrscheinlichkeit für Jungen oder Mädchen besteht. Die Anzahl an männlichen Neugeborenen dividiert durch die Anzahl an weiblichen Neugeborenen sollte damit annähernd den Wert 1 ergeben.
Ungleiches Geschlechterverhältnis
In der Realität liegt das Geschlechterverhältnis bei Betrachtung verschiedenster Populationen jedoch relativ konstant bei 1,05. Somit sind von 205 Neugeborenen 105 Jungen und 100 Mädchen. Zuweilen wird dies auch als Prozentsatz, bezogen auf männliche Neugeborene, ausgedrückt (Austad 2015). 51,3 % bedeutet, dass sich unter 1.000 Neugeborenen 513 Jungen und 487 Mädchen finden. Der Quotient 513/487 ergibt wiederum einen Faktor von 1,053388.
Als Beispiele seien die Zahlen aus drei verschiedenen Ländern und Zeiträumen genannt. In Dänemark wurden zwischen 1980 und 1993 insgesamt 815.891 Lebendgeburten mit einem Anteil von 51,3 % Jungen registriert (Jacobsen et al. 1999). Das Geschlechterverhältnis von Jungen zu Mädchen für 36.609 Geburten zwischen Juni 2003 und Dezember 2006 in Jerusalem (Israel) betrug 1,05 (Ein-Mor et al. 2010). Im Jahr 2017 wurden in Deutschland 402.510 Jungen und 382.374 Mädchen geboren, hieraus errechnet sich ein Faktor von 1,0526604 (Statistisches Bundesamt 2018). In der Tat wird die leichte Überzahl an Jungen im Bereich von 51,3 % als so beständig angesehen, dass im Fall größerer Abweichungen sofort geschlechtsspezifische Schwangerschaftsabbrüche oder Kindstötungen in Verdacht geraten (Austad 2015).
Andererseits wird in der wissenschaftlichen Literatur eine Vielzahl von Faktoren diskutiert, die das Geschlecht des Neugeborenen beeinflussen könnten.
Tschernobyl als Indiz
Hierzu zählen unter anderem die Häufigkeit des Geschlechtsverkehrs, der Tag des Verkehrs in Bezug zum Zeitpunkt des Eisprungs, das Alter der Eltern, deren Hormonspiegel zum Zeitpunkt der Empfängnis und Umweltfaktoren wie Krieg und Hungerperioden, Naturkatastrophen oder Schadstoffe (Ein-Mor et al. 2010; Austad 2015). Die Auswirkungen derartiger Faktoren werden jedoch als gering angesehen (Austad 2015) und kritisch kommentiert, weil viele vorläufige Ergebnisse in größeren Untersuchungen meist nicht bestätigt wurden (Wilcox & Baird 2011).
Im Folgenden soll dennoch ein möglicher Störfaktor vorgestellt werden: die radioaktive (Niedrig-)Strahlung. Die ausführlichsten Daten zu diesem Thema hat die Arbeitsgruppe um Dr. Hagen Scherb vom Helmholtz-Zentrum München vorgelegt. Die WissenschaftlerInnen analysierten die Geburtenregister von 39 europäischen Staaten und den USA und stellten fest, dass sich das Geschlechterverhältnis in Europa in den Jahren 1975 bis 1986 und in den USA zwischen 1975 und 2002 verringerte – die Mädchen hatten »aufgeholt«.
Im Gegensatz zu den USA wurde dieser Trend in Europa jedoch zwischen 1987 und 2000 unterbrochen. Nun kamen wieder erheblich mehr Jungen als Mädchen zur Welt (Scherb & Voigt 2011). Als mögliche Erklärung für dieses Phänomen wurden Auswirkungen der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl im April 1986 in Betracht gezogen. Damals waren weite Teile Russlands, Weißrusslands, der Ukraine wie auch Europas von der Kontamination durch eine radioaktive Wolke betroffen. Aufgrund der klaren zeitlichen und räumlichen Zusammenhänge – der Trend im Geschlechterverhältnis änderte sich ein Jahr nach Tschernobyl und Staaten ohne Kontamination zeigten keine derartige Trendwende – ist für die WissenschaftlerInnen ein Einfluss radioaktiver Strahlung äußerst wahrscheinlich. Doch damit nicht genug: Auch in einem Umkreis von bis zu 35 km um Nuklearanlagen (Kernkraftwerke, Forschungsreaktoren und Endlager) waren Abweichungen vom erwarteten Geschlechterverhältnis entsprechend einer höheren Anzahl an neugeborenen Jungen festzustellen. Analysiert wurden hierzu Daten aus Deutschland, der Schweiz und später auch aus Frankreich (Scherb & Voigt 2011; Scherb et al. 2016).
Interessanterweise war bereits in den 1990er Jahren ein abweichendes Geschlechterverhältnis unter Kindern aufgefallen, deren Väter in der Atomanlage in Sellafield in England arbeiteten: Der Faktor betrug 1,094 im Gegensatz zu 1,055 für die gesamte Grafschaft (Dickinson et al. 1996). Jedoch führten erst die neueren Daten zur Prägung des Begriffs »Verlorene Mädchen«. Dieser erklärt sich aus der Annahme, dass bei einem Anstieg des Geschlechterverhältnisses (beispielsweise von 1,05 auf 1,08) relativ gesehen weniger Mädchen geboren wurden als erwartet – diese Kinder fehlen in der Geburtenstatistik. Erste Berechnungen der Arbeitsgruppe um Dr. Hagen Scherb gingen von rund 220.000 »verlorenen« Mädchen in Westeuropa aus (siehe Links).
Angesichts dieser erstaunlichen Berichte muss zunächst gefragt werden, wie die Menschen der radioaktiven Strahlung ausgesetzt waren. Natürlich könnte die Radioaktivität von außen auf den menschlichen Körper eingewirkt haben – ähnlich wie bei einer Röntgenuntersuchung. Nach Meinung vieler ExpertInnen stellt jedoch die Belastung des Bodens mit verschiedenen Isotopen – radioaktive »Sorten« eines Elements – und deren Aufnahme durch Pflanzen das größere Problem dar.
Der Verzehr von kontaminierten Pflanzen
Die kontaminierten Pflanzen können dann vom Menschen direkt als Gemüse oder Obst gegessen werden oder zunächst als Viehfutter dienen, woraufhin radioaktive Stoffe nach Verzehr tierischer Produkte wie Fleisch, Eier und Milch in den menschlichen Körper gelangen. Die in dieser Hinsicht wichtigsten Elemente sind die Isotope von Cäsium (Cs-137) und Strontium (Sr-90). Aufgrund ihrer chemischen Verwandtschaft mit Kalium und Calcium werden sie ähnlich wie diese von Pflanzen aufgenommen. Einmal im menschlichen Körper vorhanden, können radioaktive Stoffe ihre Energie an alle Körperzellen, somit auch an Keimzellen und deren Vorläuferzellen abgeben. Für die Fortpflanzung besonders fatal sind natürlich Elemente mit einem Hang zur Bindung an die DNS, wie Strontium (Sr-90), Barium (Ba-140) und Uran (Schmitz-Feuerhake et al. 2016). Letztlich sitzt die Strahlenquelle also im Körper selbst und verursacht dort Schäden, ohne dass dieser Belastung ausgewichen werden könnte.
Eine weitere Beobachtung verdient Erwähnung: Auch auf der vom radioaktiven Niederschlag nach Tschernobyl nicht betroffenen Insel Kuba wurde ab 1987 bis zum Jahr 2000 eine deutliche Abweichung des Geschlechterverhältnisses festgestellt (Venero Fernández et al. 2011). Nach einer Hypothese der Arbeitsgruppe um Dr. Hagen Scherb (Scherb et al. 2013) könnte hierfür der Import radioaktiv kontaminierter Lebensmittel, vor allem von Molkepulver, aus der ehemaligen Sowjetunion verantwortlich sein, wobei insbesondere eine Belastung mit Cäsium infrage kommt. In der Arbeit wird auch darauf hingewiesen, dass Mexiko und Brasilien offensichtlich den Import kontaminierten Molkepulvers gestoppt hätten, während eine derartige Maßnahme für Kuba nicht bekannt sei.
Auswirkungen nicht bewiesen
Aber wie könnte sich radioaktive Strahlung auf das Geschlechterverhältnis auswirken? Dies ist nicht endgültig geklärt. Es besteht der Verdacht, dass bereits eine geringe Strahlendosis bevorzugt Defekte auf dem größeren X-Chromosom hervorruft, während das kleinere Y-Chromosom weniger anfällig ist (siehe Links; Schmitz-Feuerhake et al. 2016). War vor allem der Vater radioaktiver Strahlung ausgesetzt, würde somit von ihm ein geschädigtes X-Chromosom vererbt und ein nicht lebensfähiger weiblicher Embryo (46, XX) entstehen, während männliche Embryonen (46, XY) sich weiterentwickeln. Diese Schädigung während der Embryonalentwicklung würde erklären, warum die Verschiebung des Geschlechterverhältnisses mit etwa einem Jahr Verzögerung auftritt. Andererseits wird in der wissenschaftlichen Literatur diskutiert, dass bei Bestrahlung der Mutter eigentlich eine Verringerung des Geschlechterverhältnisses zu erwarten wäre (James 1997) – bei Strahlenexposition beider Eltern sollten sich die Effekte dann weitestgehend gegenseitig aufheben. Rückblickend wird nicht mehr zu klären sein, welcher Elternteil wann und wie stark von radioaktiver Strahlung betroffen war. Es ist gut möglich – und dies wird auch von Dr. Hagen Scherb eingeräumt – dass Embryonen weiblichen und männlichen Geschlechts geschädigt wurden, aber die weiblichen vermehrt betroffen waren. Auch vermehrte Fälle von Trisomie 21 ein Jahr nach Durchzug einer radioaktiven Wolke deuten auf genetische Effekte radioaktiver Strahlung hin (Sperling et al. 2012).
Wie sind die bislang existierenden Befunde abschließend zu bewerten? Die beteiligten ForscherInnen geben zu, dass statistische Erhebungen zwar Zusammenhänge nahelegten, diese aber nicht endgültig bewiesen. In einer Stellungnahme der Strahlenschutzkommission aus dem Jahr 2014 wird daher argumentiert, dass »es bisher keine überzeugende konsistente wissenschaftliche Evidenz für die bislang betrachteten möglichen Einflussfaktoren« gebe und dass dies insbesondere für ionisierende Strahlung gelte. Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass auch keine klaren Beweise für die Unschädlichkeit der Radioaktivität vorgelegt werden.
Mutterschutz
Das Mutterschutzgesetz (§ 11 BGBl I) besagt, dass Schwangere vor ionisierender und nicht-ionisierender Strahlung zu schützen sind. Hätten nicht im Rahmen einer »Technikfolgenabschätzung« auch Auswirkungen auf die Keimzellreifung und die Embryonalentwicklung untersucht werden müssen? Sind die amtlichen Grenzwerte ausreichend (siehe Link zu contratom.de/2011/11/20)?
Das Thema erscheint zu brisant, um nicht weiter erörtert zu werden. Zudem ist der mögliche Einfluss auf das Geschlechterverhältnis nur ein Aspekt – schwerer wiegen die Berichte über Fehl- und Totgeburten sowie Fehlbildungen nach radioaktiver Verstrahlung.