Die Staatsanwältin und eine Schöffin Illustration: © Nikolaus Baumgarten
Der vorletzte der fünf Verhandlungstage beginnt am 12. November wie üblich gegen 9.30 Uhr (siehe auch Teil 1 der Gerichtsreportage, DHZ 12/2019, Seite 94ff.) Das Interesse von Öffentlichkeit und Presse ist heute überschaubar. Zunächst geht es um die Biografien der beide Mediziner, die des Totschlags angeklagt sind: Die 58-jährige Gynäkologin schildert ihren familiären und beruflichen Lebensweg. Im Berliner Klinikum, wo der verhandelte Fall am 12. Juli 2010 stattgefunden hatte, ist sie seit 2005 als leitende Oberärztin tätig.
Der Vorsitzende Richter der 32. Strafkammer Matthias Schertz spricht für das Richterteam aus drei BerufsrichterInnen, einer Frau und zwei Männern, sowie zwei Frauen als Geschworenen. Er erkundigt sich: »Gab es Überlegungen, Sie dort von Ihren Aufgaben zu entbinden?« Die Medizinerin schildert, zu Beginn der strafrechtlichen Ermittlungen hätten Gespräche mit der Geschäftsführung ihrer Klinik und der Abteilung Justiz stattgefunden, man habe ihr weiter das Vertrauen ausgesprochen. Auch als zum Auftakt des Prozesses Ende Oktober der Fall an die Öffentlichkeit kam, habe die Geschäftsführung ihr versichert, man stehe hinter ihr.
Die Ärztin gibt an, sie sei Mitglied in der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG), der Deutschen Gesellschaft für Pränatal- und Geburtsmedizin (DGPGM), habe seit 2006 den Berliner Kongress der Deutschen Gesellschaft für Perinatale Medizin im wissenschaftlichen Bereich organisiert und sei auch in der Ärztekammer ehrenamtlich tätig. Als ihr ehemaliger Chefarzt Ende September 2012 in den Ruhestand getreten sei, habe sie die Klinik kommissarisch geleitet, bis der neue Chefarzt im Mai 2014 seine Stelle angetreten habe.
Der mitangeklagte 73-jährige Mediziner stellt ebenfalls seine Vita vor: ein Lebensweg im Zeichen von vielerlei Erfolg in verantwortlichen Positionen, Forschung und innovativen Entwicklungen. Zu Beginn steht ein breit angelegtes Studium – nicht nur der Medizin mit den Fächern Frauenheilkunde und Geburtshilfe sowie Endokrinologie, sondern auch der Soziologie und der Sozialpsychologie – als Rentner absolviert er noch ein Masterstudium in Krankenhausmanagement, übt Beratungs- und Lehrtätigkeiten aus. Er ist eine international vernetzte Leitfigur der Geburtshilfe.
Bevor der Vorsitzende die Beweisaufnahme schließt, geht es noch um Details aus den Behandlungsunterlagen der Schwangeren, nachdem Komplikationen ihrer eineiigen Zwillingsschwangerschaft festgestellt worden waren: Im Mai waren in der gemeinsamen Plazenta der Kinder Querverbindungen der Gefäße und damit Kurzschlüsse zwischen den Blutkreisläufen beider Kinder diagnostiziert worden – ein Fetofetales Transfusionssyndrom (FFTS), das kurz darauf in einem Hamburger Klinikum mit einer fetalchirurgischen Laserkoagulation behandelt worden war. Einige Wochen später war bei einem der Zwillingsmädchen eine periventrikuläre Leukomalazie erkannt worden – eine durch erheblichen Sauerstoffmangel verursachte Schädigung der weißen Substanz im Gehirn.
Die Staatsanwältin weist auf einen Vermerk zum Schwangerschaftsverlauf vom 21. Juni 2010 im OP-Bericht hin, dass angesichts der Diagnose »Leukomalazie« nach langer Beratung der Entschluss zum Fetozid im Rahmen der Sectio gefallen sei und wöchentliche Kontrollen durch den behandelnden Feindiagnostiker geplant seien. Eine Eintragung vom 2. Juli gibt Wohlbefinden der Patientin an, ein langes Gespräch und den Befund über eine Muttermundsweite von drei Zentimetern.
Das Indikationsschreiben des mitbehandelnden Pränataldiagnostikers vom 28. Juni 2010 besagt, die 27-jährige Schwangere, Gewicht 54 kg, mit spontaner Konzeption von Zwillingen und errechnetem Termin am 27. August 2010, habe sich in der Praxis am 11. Juni vorgestellt. Nach vorausgegangener stationärer Aufnahme und Laserbehandlung des FFTS sei occipitotemporal eine periventrikuläre Leukomalazie diagnostiziert worden – eine schwerwiegende Veränderung, ohne dass ein Zusammenhang zur Lasertherapie bestehe. Die Behinderung des Kindes gefährde die seelische und körperliche Gesundheit der Mutter. Der selektive Schwangerschaftsabbruch sei aus mütterlicher Indikation begründet.
»Hohes Gericht«, beginnt die Staatsanwältin Silke van Sweringen, zu diesem ungewöhnlichen Verfahren sei in der Presse zu gelesen gewesen, »dass es ohne die beiden Angeklagten das neunjährige Mädchen nicht gäbe.« Die Mutter hätte bis zur Geburt abtreiben können, dann wären beide Kinder tot. »Das stellt sich in keiner Weise so dar«, widerspricht sie entschieden. Über eine Spätabtreibung müsse jeder moralisch selbst entscheiden. »Aber: Die Angeklagten haben hier keine Abtreibung vorgenommen, sie sind keine Lebensretter!« Die Mutter habe die rechtliche Möglichkeit eines Schwangerschaftsabbruchs gehabt, die Ärzte jedoch keineswegs die Verpflichtung, diesen auch umzusetzen. 2010 habe in der Berliner Fachklinik nicht die hochdifferenzierte Möglichkeit bestanden, die Situation eines selektiven späten Schwangerschaftsabbruchs medizinisch so zu lösen, dass der behinderte Zwilling nicht überlebt und der gesunde nicht gefährdet würde. »Wenn das nicht möglich ist, kann der Fetozid eben nicht umgesetzt werden«, betont die Staatsanwältin: »Die Alternative wären zwei lebende Babys gewesen: ein gesundes und ein behindertes.« Die Anklage wegen Totschlags sei angemessen.
Es geht um den zeitlichen Übergang zwischen legalem Fetozid und illegaler Tötung eines Kindes. »Wann beginnt das Menschsein?« Der Bundesgerichtshof (BGH) habe dazu eine gefestigte Rechtsprechung: bei einer natürlichen Geburt mit Eröffnungswehen, Abgang von Fruchtwasser oder bei einem Kaiserschnitt mit Eröffnung der Gebärmutter. »Gedacht haben die Angeklagten, dass solche Wehen vorliegen, Wehen trotz Wehenhemmer.« Denn daraufhin sei der Entschluss gefasst worden, »mit dem geplanten Kaiserschnitt nicht mehr zuzuwarten«.
Der ehemalige Chefarzt habe dargestellt, dies sei ein strategischer Entschluss gewesen, weil der OP gerade frei gewesen sei. Jedoch habe man eigentlich mindestens bis zur 34. Schwangerschaftswoche warten wollen. Eindeutig sei es eine Tötung des zweiten Zwillings gewesen, als die Gebärmutter eröffnet und der erste Zwilling geboren gewesen sei, befindet die Staatsanwältin. Die Verteidigung habe ins Feld geführt, das erste Kind hätte geboren werden können und das zweite Kind Tage später – oder eine fetalchirurgische Operation hätte intrauterin durchgeführt werden können, wozu ebenfalls die Gebärmutter eröffnet würde. Man habe damit angedeutet, die Geburt des ersten Kindes bedeute noch nicht das »Menschsein« des zweiten Kindes.
In den Unterlagen sei allerdings früh vermerkt worden, der eine Zwilling würde »unmittelbar mit Geburt des anderen getötet« – die Schwangerschaft sei damit beendet. Das Szenario der Verteidigung, man habe die Gebärmutter theoretisch auch wieder zunähen können und die Schwangerschaft hätte sich dann für den zweiten Zwilling fortgesetzt, lässt die Staatsanwältin nicht gelten: »Das ist abwegig. Es gab dafür keinen medizinischen Grund.« Dies sei eine makabre Idee, ohne rechtliche Relevanz: »Auch das zweite Kind war ein Mensch.« Es handele sich um »Vorsatz. Wissen um das, was man tut«.
Das zweite Zwillingsmädchen habe nach der Abtreibungsindikation sterben sollen und sei dann wissentlich durch das Abklemmen der Nabelschnur getötet worden. Die Ärzte hätten gewusst, dass es ein Kind gewesen sei und kein Fötus. »Die Angeklagten unterliegen nicht der Wahrheitspflicht, ihnen muss nicht gefolgt werden«, weist sie die Darstellung der Mediziner zurück. Sie hätten sich in diesem Prozess zur OP und zur Tötung des zweiten Zwillings »in vollem Umfang eingelassen«: »Ich werde das würdigen«, hält sie zugute. »Aber es ist nicht hinnehmbar, dass sie nicht gewusst haben sollen, wann ein Fötus zum Mensch wird und welche Konsequenzen das hat.« Der ehemalige Chefarzt habe gewusst, welche Methoden es gegeben habe, die üblichen seien zu gefährlich gewesen. »Für eine solche Tötung gibt es keine Rechtfertigung. Eine Abwägung von Menschenleben ist nicht möglich.«
Die Angeklagten hätten nicht überprüft, ob ihr Handeln rechtlich in Ordnung sei. Einen »Verbotsirrtum« lege sie für den Strafrahmen nicht zugrunde. »Die Angeklagten wussten als ausgewiesene Fachleute von minimalinvasiven Methoden.« Mit der Mutter seien viele Fragen besprochen worden, die Rede sei vom selektiven Fetozid gewesen. »Natürlich wussten sie, was in Hamburg gemacht wird«, dass Kaliumchlorid im dortigen Klinikum nicht eingesetzt werde, zur Schonung des anderen Zwillings. Schon seit 2000 werde das Verfahren der Nabelschnurokklusion mittels Laser dort angewandt, 2010 habe es dazu Fachveröffentlichungen in Deutschland gegeben. »Es hat keine Fachveröffentlichung über die hier angewandte Methode gegeben, den zweiten Zwilling im eröffneten Mutterleib zu töten«, betont sie. Auf die Frage warum, habe der Sachverständige Prof. Dr. Peter Kozlowski ausweichend geäußert, es handele sich um eine »Grauzone«. »Rechtlich ist dies keine Grauzone«, stellt van Sweringen klar: »Es ist verboten und medizinethisch und rechtlich nicht vertretbar.« Dass sich das zweite Zwillingsmädchen noch im Mutterleib befunden habe, sei »reine Kosmetik«, rechtlich sei es dasselbe Kind als wenn es aus dem Mutterleib herausgeholt worden wäre. »Man fragt sich, warum machen sich andere Zentren die Mühe, wenn es so einfach geht?«
Zum Risiko für die Mutter sagt die Staatsanwältin: »Ein Risiko hat die Patientin im Einzelfall immer zu tragen«, hier auch das Risiko für das gesunde Kind. Es habe ein statistisches Risiko von 10 bis 18 % für den Tod des gesunden Kindes bestanden. Aus ihrer Sicht sei der geplante selektive Fetozid in einer weiter entfernteren Fachklinik auch eine Option gewesen. In der 30. Schwangerschaftswoche sei »eine dadurch ausgelöste Frühgeburt nicht mehr so dramatisch«, interpretiert sie die Erläuterungen des Sachverständigen. Das Timing sei in einem solchen Fall sicher diffizil: »Das rechtmäßige Alternativverfahren war das lebende Zurweltbringen beider Zwillinge.«
Eine »Pflichtenkollision« erkennt die Staatsanwältin nicht: »Es gab keine akute Gefahr, weder für die Mutter noch für das gesunde Kind. Einen anderen medizinischen Grund für die Tötung gab es nicht – es ging keine Gefahr von dem kranken Kind aus.« Zum Schutz der psychischen Gesundheit der Mutter gebe es das Recht auf Abtreibung. »Dies gilt aber nur für den Fötus.«
»Die Angeklagten werden zu bestrafen sein«, beschließt sie ihr Plädoyer. 5 bis 15 Jahre Freiheitsentzug stehe auf Totschlag. »Davon reden wir nicht.« Dies sei ein besonderer Fall und »der Erfolgsunwert ist gering. Bei Durchführung eines kunstgerechten Fetozids wäre das Kind auch gestorben.« Die Auswirkungen hätten sich möglicherweise nicht wesentlich von einem legalen Verfahren unterschieden. Die Angeklagten hätten sich davon leiten lassen, maximale Sicherheit für das gesunde Kind zu erreichen. Sie sehe einen »minder schweren Fall des Totschlags«. Für die Angeklagten sprächen ihre »geständigen Einlassungen«. Die Ärztin habe aufrichtig gesagt, eine akute Gefahr sei nicht gegeben gewesen.
Der Vorfall liege neun Jahre zurück und sei durch eine anonyme Anzeige ausgelöst worden, was für die Angeklagten besonders belastend sei. Auch das lange Verfahren und dass beide Mediziner vorher und nachher nicht mit dem Gesetz in Konflikt geraten seien, hält van Sweringen ihnen zugute. Der »Gedanke der Machbarkeit in der Medizin« sei ohne medizinethische Grundlage verfolgt worden. Die Oberärztin habe die Tötung erdacht, ihr ehemaliger Chefarzt habe diese als Vorgesetzter gebilligt und unterstützt und nicht gebremst. Eine Kompensation beim Strafmaß für das lange Verfahren hält sie nicht für angebracht: Neben den Nachteilen habe die Angeklagte auch den Vorteil »durch den nicht unerwünschten Aufschub« gehabt, dass sie im schwebenden Verfahren weiter als leitende Oberärztin habe tätig sein können. Die Staatsanwältin spricht sich dafür aus, dass beide Mediziner gleich bestraft werden: mit einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten auf Bewährung und ohne Berufsverbot.
Nach einer kurzen Pause folgt das Plädoyer der Strafverteidigerin der Oberärztin Dr. Tonja Gaibler. Fast eineinhalb Stunden lang schildert sie das medizinische Dilemma der Ärzte und die in der Rechtsprechung nicht eindeutig definierten Kriterien zur Grenze, wann die Leibesfrucht zum Menschen wird. Im Strafgesetzbuch (StGB) sei sie nicht definiert, anders als im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB).
In dem ungewöhnlichen Verfahren sei es um einen Sonderfall gegangen – der Sachverständige Prof. Dr. Kozlowski habe von »klitzekleinen Fallzahlen« gesprochen – um einen Notfall und Konfliktlagen. Beide Zwillinge seien »auf Gedeih und Verderb« miteinander verbunden gewesen. Das große Engagement ihrer Mandantin zeige sich in ihrer ständigen Erreichbarkeit, dass sie ihrer Patientin sogar ihre Handynummer gegeben habe. Bei der Indikation zum selektiven Fetozid mit Teilabbruch der Schwangerschaft des kranken Kindes sei zusätzlich das gesunde Kind vor einer Gefährdung zu schützen gewesen. Die »ex post Sichtweise« der Staatsanwältin sei interessant. Die ärztliche Sicht sei aber »ex ante« gewesen, da habe man auch mit zwei behinderten und auch mit zwei toten Kindern rechnen müssen. »Ich weiß nicht wo das Unrecht sein soll?«, fragt die Strafverteidigerin: »Wenn ich in der Situation gewesen wäre, hätte ich mir eine solche Ärztin gewünscht«.
Bei der hochrisikoreichen monochorialen Zwillingsschwangerschaft habe es drei Optionen gegeben: die Beendigung am Anfang, die Reduktion auf ein Kind oder die Situation anzunehmen und das Beste daraus machen. »Beide Kinder hatten ein hohes Risiko zu sterben.« In der Folge kam es zur schweren Grunderkrankung des einen Zwillings, möglicherweise durch den Lasereingriff, und zur Aufklärung über die Möglichkeit eines selektiven Fetozids. Die Mutter habe es sich nicht leicht gemacht – nach reiflicher Überlegung habe sie sich dafür entschieden, lange vor ihrem ersten Kontakt mit der Oberärztin.
Als die Schwangere dann im Berliner Klinikum aufgenommen worden sei, habe die behandelnde Ärztin sich mit ihrem damaligen Chef ausgetauscht. Eine Sectio war geplant, weil die Schwangere »schmal gebaut« gewesen sei. Man habe überlegt, dabei den Fetozid vorzunehmen. »Gibt es ein anderes sicheres etabliertes Verfahren?«, hätten die Mediziner erörtert. Danach sei die Problematik des selektiven Fetozids ausführlich mit den Eltern besprochen worden. Durch die Injektion von Kaliumchlorid wäre das andere Kind massiv gefährdet gewesen. Die Eltern hätten den Schutz für ihr gesundes Kind gewollt. Um es reifen zu lassen, sollte der Fetozid so spät wie möglich sein.
Die Oberärztin habe dafür Sorgen getragen, dass die Indikationspapiere in den Unterlagen ordnungsgemäß vorhanden gewesen seien. Für das gesunde Kind sei eine Lungenreifebehandlung vorgenommen worden. Der auffällige Hirnbefund des kranken Kindes sei durch die Charité bestätigt und mit einer Magnetresonanztomografie gesichert gewesen.
Die Mutter habe sich bei der Ärztin gut aufgehoben gefühlt nach dem Vertrauensverlust im Hamburger Klinikum. Von dort habe sie berichtet: »Wir hatten 1.000 Fragen, keine wurde beantwortet.« Die Oberärztin habe alle, auch viele redundante Fragen immer wieder geduldig beantwortet – klar und mit offenen Karten. »Es gab kein Wissen, das nicht geteilt wurde«, schildert die Strafverteidigerin.
Zur Rechtssicherheit habe die Kripobeamtin als Zeugin ausgesagt, was über die rechtliche Grenze gesagt worden sei: »Wir sind auf der sicheren Seite, solange das Kind den Uterus nicht verlassen hat.« Kein Wissen sei vorenthalten worden, keine Angaben wider besseren Wissens gemacht worden. Der OP-Bericht mit der Interpretation von Wehen am 11. Juli sei ohne Zweifel korrekt verfasst worden, dort sei nicht die Rede von Eröffnungswehen gewesen.
Als bei der zeitnahen OP der gesunde Zwilling geboren sei, sei die Eihülle des kranken Fötus intakt gewesen. Er sei im Uterus verblieben. Erst als das Herz nicht mehr geschlagen habe, sei er entnommen worden. Die Cervix sei bei der Sectio auf zwei Zentimeter dilatiert worden, nach einem rückläufigen Befund von vorher drei Zentimetern Muttermunderöffnung. Zum Geburtsbeginn habe der Sachverständige Prof. Dr. Kozlowski bei seiner Vernehmung gesagt: »Wir wissen es nicht gesichert aus retrospektiver Sicht. Es kann sein, dass die Ärzte davon ausgegangen sind.«
Illustration: © Nikolaus Baumgarten
Damals habe es international geringe Fallzahlen derartiger Komplikationen gegeben und kein etabliertes Verfahren. Die Mediziner hätten mit einem enormen Sterberisiko von 15 bis 20 % für das gesunde Kind umzugehen gehabt. Egal bei welchem Vorgehen: Das Risiko einer Hirnschädigung sei das Hauptproblem der Frühgeburtlichkeit gewesen. Jede Intervention hätte auch die Schwangerschaft für das gesunde Kind beenden können, das klein und durch das FFTS belastet gewesen sei. Es habe möglichst erst nach der 34. Schwangerschaftswoche geboren werden sollen. Die wenigen Zentren in Hamburg, Bonn, Leiden und Barcelona, die für diesen Fall in Frage gekommen wären, standen in jenem Sommer mit ihren Kapazitäten nicht immer zur Verfügung: »In der Urlaubszeit konnte man nicht leicht woanders hingehen.«
Der Sachverständige habe das »schreckliche Dilemma« eines terminlich geplanten Eingriffs aus Sicht des Mediziners aufgezeigt: »Wir machen den Fetozid in der 32. Schwangerschaftswoche. Wir verlegen das Risiko auf die Mutter und das Kind, auf Grund von wohlverstandenen Interessen des Arztes – um nicht in eine rechtliche Grauzone zu kommen.« Man belaste das gesunde Kind mit zusätzlicher Problematik, nur um sich selbst zu schützen. »Wir haben es gut mit unseren Jobs, wir kommen nicht in eine solche Situation«, sinniert die Anwältin. »Auch wenn es vielleicht eine rechtliche Grauzone gewesen sein mag, es war der medizinisch sichere Weg.«
Eine rechtliche Grauzone habe ihre Mandantin jedoch nicht gesehen. Man müsse diesen Sachverhalt rechtlich würdigen. »Klares Nein, dies war kein Totschlag«, betont Gaibler entschieden, denn es heiße im Gesetz, »wer einen Menschen tötet«. »War hier bereits geborenes Leben – der geborene Mensch im Gegensatz zur ungeborenen Leibesfrucht?«
»Menschenqualität« sei »kein rein deskriptives Element in unserer deutschen Rechtsordnung«. Es gebe eine »unterschiedliche Auslegung«. Im Zivilrecht des BGB beginne die Rechtsfähigkeit des Menschen, wenn die Geburt vollendet sei – mit vollständigem Austritt aus dem Mutterleib. Genau den Gedanken habe die Ärztin gehabt. Im Strafrecht sei jedoch der Beginn der Geburt ausschlaggebend. »Wie kann eine Rechtsordnung zwei verschiedene Maßstäbe anlegen?« Diese Divergenz entspringe rechtspolitischen Erwägungen. Eigentlich würde man werdendes Leben in die Geburt einbeziehen. Weil die Geburt gefährlich sei, sei der Strafrechtsschutz ausgedehnt worden.
In einem Übergangsbereich habe sich der Bundesgerichtshof in seinem Urteil vom 22. April 1983 zum Beginn des Menschseins geäußert – bei einer regulären Geburt sei dies frühestens bei Eröffnungswehen. Weitere Kriterien seien unbeantwortet geblieben und bis heute nicht höchstrichterlich entschieden: Es gebe sehr unterschiedliche Auffassungen, welche Bedeutung die Bauchdecke, eine Narkose oder die Fruchtblase dabei hätten. Beispielsweise sei ein Uterusschnitt kein rechtsklares Kriterium: Die Eröffnung des Uterus sei nicht immer eine OP, um das Kind auf die Welt zu bringen, es könne sich auch um einen fetalchirurgischen Eingriff handeln.
»Der Uterusschnitt war in diesem Fall dazu da, um das gesunde Kind aus der Gefahrenzone zu bringen, er war für diesen Zwilling bestimmt.« Jede Situation sei gesondert zu bewerten, die Mehrlingsschwangerschaft anders als eine Einlingsschwangerschaft. Es gebe zweizeitige Geburten, wo die Menschwerdung des einen nicht das andere Kind betrifft. Hochkomplexe Fragen stellten sich hier, problematisiert Gaibler. »Es bedarf einer normativen Korrektur«, stellt die Verteidigerin klar: »Es steht nicht im Strafgesetz, wann ein Mensch ein Mensch wird.« Es sei kein rechtsfreier Raum, aber »es ist nicht entschieden«. Diesser Fall mache die strafrechtliche Konfliktlage bei einer medizinisch sinnvollen Lösung deutlich.
»Sie wollte keinen Menschen töten, sie wollte einen Fötus abtöten«, erklärt die Strafverteidigerin: »Ich weiß, das klingt schrecklich.« Das Handeln der Oberärztin habe sich auf die Leibesfrucht bezogen. »Wenn ich klare Vorstellungen habe, muss ich nicht Zweifel haben.« Es sei kein Handeln wider besseren Wissens gewesen: »Sie ist vom Schwangerschaftsabbruch ausgegangen«, und sei »subjektiv vom Rettungswillen getragen« gewesen. Der Medizinerin würde ein Wissen als juristischer Laiin abverlangt, das selbst für erfahrene Juristen nicht eindeutig sei: Als die Ermittlungen in dem Fall losgegangen seien, hätten der stellvertretende Institutsleiter der Rechtsmedizin an der Charité und ein Staatsanwalt den Fall eingehend überprüft und beurteilt, es habe sich um eine Leibesfrucht gehandelt – genauso wie es die Oberärztin gesehen habe. Sie hätten den Fall damals eingestellt.
Die juristische Grenze zwischen Leibesfrucht und Mensch spiele im Alltag von Geburtshelfern keine Rolle. Sie selbst sei in 20 Jahren Tätigkeit als Fachanwältin für Medizinrecht erst einmal auf diese Problematik gestoßen. Wenn nicht einmal ein Rechtsmediziner und ein Staatsanwalt die korrekte Rechtslage erkannt hätten, wo hätte sich die Geburtshelferin erkundigen können? Es sei fraglich, ob sie die richtige Auskunft bekommen hätte. Die Ärztin habe immer Leben schützen wollen und ein außergewöhnliches berufliches Engagement gezeigt. Auch wenn sie ihre Berufstätigkeit habe fortsetzen können, habe das Verfahren eine erhebliche Belastung für die Gynäkologin bedeutet: Nach Abschluss der Ermittlungen habe sie keine Fachärzte mehr prüfen dürfen. Bei einer Verurteilung wegen Totschlags drohe ihr – wie bei jeder Vorsatztat – der Entzug ihrer Approbation.
Die Strafverteidigerin beantragt, ihre Mandantin freizusprechen, hilfsweise eine Verfahrenseinstellung oder die mildeste denkbare Strafe.
Hinweis:
Am 19. November wurde das Urteil verkündet: »Schuldig des Totschlags in einem minder schweren Fall«, zwei Jahre auf Bewährung. Die leitende Oberärztin wird mit einem Jahr und sechs Monaten, ihr ehemaliger Chef mit einem Jahr und neun Monaten Haft bestraft. Die Bewährungszeit beträgt für beide zwei Jahre. Berufsverbote werden nicht ausgesprochen. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Die Frauenärzte haben Revision eingelegt.
Im 3. Teil wird es um das Plädoyer des Strafverteidigers des damaligen Klinikchefs und um die Begründung für das Urteil gehen.