Ein kleines Mädchen war im Sommer 2008 im Zusammenhang mit seiner außerklinischen Geburt aus Beckenendlage gestorben. Dessen Eltern waren vier Wochen zuvor aus Lettland zum Wohnort der Geburtshelferin angereist und hatten sich in der Nähe einquartiert, um ihr Kind in deren Praxis zur Welt zu bringen. Zu Hause hatte der Schwangeren ausschließlich die Option »primärer Kaiserschnitt« zur Verfügung gestanden.
Der Geburtshelferin war die volle Verantwortung für den Tod des Kindes zugesprochen worden, sie habe mit »bedingtem Vorsatz« gehandelt, habe den Tod des Mädchens kommen sehen und ihn »billigend in Kauf genommen«. Aufgrund ihrer Ideologie, weil sie die Klinik prinzipiell ablehne, habe sie die Gebärende nicht ins Krankenhaus verlegt. Dort hätte das Kind mit einem Kaiserschnitt »mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit« überlebt, bei Verlegung schon am Nachmittag wahrscheinlich gesund. Die Ärztin und Hebamme sei »entschlossen« gewesen, »die Entbindung auf jeden Fall und auch für den Fall eines tödlichen Ausgangs« außerklinisch weiterzuführen. Sie habe durch eine Verlegung ihre »Reputation« nicht aufs Spiel setzen wollen. Das war das Fazit des fünfköpfigen Richterteams nach 59 Verhandlungstagen gewesen.
Mit einem »Ausschlussverfahren«, wie der Vorsitzende Richter Wolfgang Meyer die Vorgehensweise bei der Beweisaufnahme genannt hatte, habe man verschiedene mögliche Todesursachen durch Gutachter:innen überprüft und sei zu dem Schluss gekommen, dass das Mädchen bei seiner Geburt an einem Sauerstoffmangel gestorben sei. Sechs Jahre und neun Monate Haft, Berufsverbote für ihre beiden Berufe, Entschädigungszahlungen an die Eltern und Übernahme der erheblichen Gerichtskosten, besagte das Urteil.
Erst im darauffolgenden Mai liegt das schriftliche Urteil des Landgerichts Dortmund vor – mit einer 436 Seiten starken Begründung. Fast wortgleich hatte der Vorsitzende Richter das Urteil fast drei Stunden lang in freier Rede verkündet. Ich bin beim Lesen überrascht, dass ein Urteil von solcher Tragweite persönliche Sichtweisen und Fantasien des Richterteams enthält und auch mit moralisierenden, wertenden Begriffen nicht spart. Von »dreisten Lügen«, »Dreistigkeit und Impertinenz« ist dort die Rede, von »Zynismus« und »Verdrehung der Tatsachen«. Nicht nur über die Aussagen der Angeklagten, sondern auch über unbescholtene Zeug:innen – Frauen, die sie betreut hatte, Hebammen, mit denen sie zusammengearbeitet hatte, oder Gutachter:innen, die die Verteidigung gestellt hatte.
Manche dieser Aussagen hätte ich anders eingeordnet als Hebamme, die sowohl mit der Klinik- wie auch der Hausgeburtshilfe vertraut ist und auf zahllosen Kongressen die fachlichen Diskussionen der schulmedizinischen und der außerklinischen Geburtshilfe verfolgt hat. Unabhängig vom gesellschaftlichen Auftrag eines Gerichts, Schuld und Strafe zu ermitteln, macht ein Satz auf den letzten Seiten nachdenklich: »Letztlich bedeutet das Urteil für die Angeklagte den wirtschaftlichen und persönlichen Ruin.«
Die Haftstrafe antreten
Die Revision der Verteidigung wird vom Bundesgerichtshof ein Jahr später im Mai 2016 zurückgewiesen, das Urteil gegen die Geburtshelferin bestätigt. Um eine inhaltliche Überprüfung geht es dort nicht, sondern lediglich um Rechtsfehler. Ich höre davon unterwegs im Auto in den Nachrichten. Nun ist klar, die Kollegin muss ihre Gefängnisstrafe antreten. Im Spätsommer findet sie in ihrem Briefkasten Post: Zu einem bestimmten Termin soll sie sich in der Justizvollzugsanstalt Berlin-Lichtenberg einfinden. Ihre Sachen zu packen und sich auf den Weg zu machen – sie schafft es nicht. Eines ihrer drei Kinder braucht sie ganz besonders: Ihr zweiter Sohn, der mit Anfang 30 in einer Lebensgemeinschaft für Menschen mit Behinderungen lebt, ist regelmäßig bei ihr zu Hause und eng mit ihr verbunden. Ihre über 90-jährige Mutter lebt in einem Seniorenheim. Diese beiden Menschen in den nächsten Jahren nicht zu sehen, sie kann es sich nicht vorstellen. Wird sie ihre Mutter überhaupt je wiedersehen, wenn sie inhaftiert ist? Sie lässt den Termin verstreichen, vielleicht mit der stillen Hoffnung, dass sie vergessen wird. Ihr Sohn ist in den Herbstferien bei ihr, sie feiern seinen Geburtstag.
Eine Woche vor Weihnachten 2016 holt die Polizei sie ab, ohne Ankündigung. Zunächst wird sie in die JVA Gelsenkirchen gebracht, Mitte Januar 2017 soll sie ins Frauengefängnis Berlin-Pankow überstellt werden. Durch Zufall lese ich von einem kurzfristigen Pressetermin dort: Das Gefängnis ist umgebaut und neu eröffnet worden, die Presse zur Besichtigung eingeladen. Der Berliner Justizsenator, Dirk Behrens, der damalige Leiter der vier Berliner Frauengefängnisse, Andreas Kratz, und die Leiterin des Frauengefängnisses Pankow, Daniela Leschhorn, wollen den Umbau und vor allem die Mutter-Kind-Abteilung vorstellen, die vorbildlich sein sollen.
Zwei Tage später befinde ich mich unter den etwa 20 Medienvertreter:innen, die über das Frauengefängnis informiert werden. »Wir sind hier im Berliner Vollzug sehr liberal und gehen mit großem Augenmaß vor. Wir schauen genau auf den Einzelfall«, sagt Kratz: »Es ist immer sinnvoll, eine Anstalt nach außen sicher zu machen und nach innen möglichst liberal, so dass die Frauen sich innen möglichst frei bewegen können.«
Wir werden durch die Räumlichkeiten geführt, Schlüsselbunde klirren in Türschlössern, vor jedem neuen Flur. Die schmalen, acht Quadratmeter großen Zellen haben alle ein eigenes Bad. Die gefangenen Frauen könnten rund um die Uhr nach außen telefonieren, Gespräche würden nicht kontrolliert. Anrufe von außen seien nicht möglich. Kürzlich habe man eine Auszeichnung erhalten von der internationalen Anti-Folter-Kommission, die unangemeldet Gefängnisse überprüft. »In Zeiten schlechter Bedingungen für den Strafvollzug und sehr hoher Personalnot ist das schon ein Ritterschlag«, sagt Kratz zum Ende des Besuchs. Man nimmt ihm sein Engagement ab.
Vielleicht sehe ich diese Führung mit etwas anderen Augen als die anderen Journalist:innen: Die verurteilte Ärztin und Hebamme, deren Gerichtsprozess und die Zeit danach ich inzwischen seit über vier Jahren verfolgt und begleitet habe, wird in wenigen Tagen hier leben. Zwei Jahre geschlossener Vollzug im Frauengefängnis Pankow liegen vor ihr.
Acht Wochen später kann ich sie dort treffen. Ich warte alleine im Besuchszimmer: Teppichboden, mehrere Tischgruppen, ein Automat für Getränke und Süßigkeiten. Unser Treffen liegt außerhalb der streng reglementierten Besuchszeiten. Ich darf sie als Journalistin dreimal im Jahr besuchen, wir werden jeweils drei Stunden für uns allein haben. Die Kollegin hier wiederzusehen ist bewegend, hinter ihr die Gitterstäbe an den Fenstern, sie sieht ernst und erschöpft aus.
Versuchen zu verstehen, ohne zu urteilen
Vor dem Prozess in Dortmund kannten wir uns nur flüchtig. Sie hatte einige Beiträge in der DHZ veröffentlicht, zweimal haben wir uns auf Tagungen gesehen. Ihren Gerichtsprozess hatte ich an fast allen der insgesamt 59 Verhandlungstage verfolgt und dokumentiert (siehe Kasten). Nach dem Urteil hatten wir den Kontakt gehalten.
Ich müsste die Frau, die einmal Ärztin und Hebamme gewesen war, nach ihren gerichtlich angeordneten Berufsverboten hier richtigerweise »ehemalige Kollegin«, »ehemalige Geburtshelferin« und »ehemalige Ärztin und Hebamme« nennen. Sie damit persönlich aus dem Kreis meiner Kolleginnen auszuschließen, obwohl sie weiterhin mit der Geburtshilfe stark verbunden ist und diese beiden Berufe ihr Leben lang ihre Identität ausgemacht haben, erscheint mir nicht richtig. Unabhängig vom Urteil könnte sie heute nicht mehr praktizieren, wegen einer Erkrankung ihrer Hände, sagt sie.
Während der Gerichtsverhandlung hatte ich mir vorgenommen, einen sorgfältigen Blick der »Allparteilichkeit« einzunehmen, um zu verstehen und möglichst nicht zu urteilen – weil das schon genug andere taten. Nicht nur eine Kollegin auf der Anklagebank mit einem Totschlagvorwurf zu sehen, hatte mich beeindruckt. Die trauernden Eltern des verstorbenen Mädchens mit ihren persönlichen Schilderungen zu erleben, hatte mich zutiefst angerührt. Ihre Reise auf der Suche nach einer Alternative zum primären Kaiserschnitt – an ihrer Stelle hätte ich vermutlich ebenfalls nach eigenen Lösungen gesucht. Den geburtshilflichen Gutachter kannte ich seit Jahren von Kongressen und hatte immer Hochachtung vor seinem Engagement, das Wissen um die vaginale Beckenendlagengeburt in der Geburtshilfe wiederzubeleben und weiterzutragen. Viele Fragen waren für mich bei der Verhandlung offengeblieben – auf allen Seiten und auch beim Urteil.
Durch viele Gespräche lerne ich meine Kollegin mehr und mehr kennen: Sie ist offen, immer gastfreundlich und bereit, ihre Gedanken zu teilen und vieles von sich zu zeigen.
Vieles ist mir vertraut in der Haltung der Kollegin, zumal wir unsere Hebammenausbildung an derselben Schule durchlaufen haben – sie drei Jahre vor mir – und den Aufbruch in der Frauenbewegung Ende der 1970er Jahre miterlebten. Beide waren wir damals von der Überzeugung getragen, für eine reformierte, menschlichere, frauenorientierte Geburtshilfe einzutreten. Nicht in allen Punkten folge ich ihr, als Hebamme war mein Betreuungsspektrum begrenzter. Sie hatte für sich in der Personalunion aus Ärztin und Hebamme die ideale Verbindung gefunden: in der Betreuung rund um die Geburt und den Lebensanfang des Kindes, nah an der Frau und ihrer Familie mit dem gleichzeitigen Wissen und Können einer Medizinerin. Bei Gericht war ihr Ärztinnenberuf kaum beachtet worden: Sie war auf das einschränkende Berufsgesetz für Hebammen festgelegt worden, ihrer hochwertigeren Qualifikation wurde wenig Gewicht beigemessen.
Im Gefängnis
»Ja, Frauenknast«, beginnt die Kollegin, als wir uns in der JVA Pankow gegenübersitzen. Ich zeichne unser Gespräch auf, höre ihr zu: »Das Gute ist, ich habe hier überhaupt keine Probleme. Das, was man vielleicht vom Fernsehen kennt, diese Gewaltszenen, das Sich-Zusammenrotten, das ist gottseidank nicht. Es gibt auch keine Gemeinschaftsduschen, wo du mal zusammengeschlagen werden könntest. Ich kann die Fenster aufmachen und habe dann nur sieben Gitterstäbe vor mir – nicht wie in Gelsenkirchen einen Drahtverhau. Die allermeisten Bediensteten sind freundlich. Nur wenige brauchen eine Art Befehlston.«
»Ich bin bemüht, hier meine eigenen Freiheiten zu entwickeln«, fährt sie fort: »Das sind natürlich auch die der Definition. Da es mir hier nicht wirklich ausgesprochen schlecht geht, abgesehen von den zusätzlichen Quälereien von außen, wie eintreffende Zahlungsforderungen im Zusammenhang mit dem Urteil oder dass ich weiß, dass meine Tochter mit der Situation zu Hause durch meine Abwesenheit überfordert ist. Und dass mein behinderter Sohn jetzt unter Psychopharmaka steht, weil er die Situation überhaupt nicht geregelt kriegt. Und dass meine Mutter sich Gedanken macht, warum ihre Tochter ununterbrochen in Berlin arbeitet.« »Sie weiß das gar nicht?«, frage ich. »Nein«, antwortet die Kollegin: »Ich bin der Auffassung, dass man ihr nicht zumuten kann, mit 91 Jahren zu akzeptieren, dass ihre Tochter im Gefängnis gelandet ist, das kriege ich nicht fertig.«
Sie erzählt: »Andererseits inspiriert mich das hier auch. Denn hier sind viele Mütter, Großmütter, Leute in meinem Alter – ich bin bald 64 – und eine 70-Jährige. Wenn du mit solchen Leuten in Kontakt bist, weißt du, sie sind im Prinzip ungefährlich. Es ist so wenig sinnvoll, sie hinter Mauern zu setzen. Was du hier offensichtlich lernen sollst und wo ich den Eindruck habe, das brauche ich eigentlich nicht unbedingt, ist Bescheidenheit – mit dem Vorlieb nehmen, was hier geboten wird. Warten können, darin bin ich sowieso Meisterin. Mein Geist geht dann spazieren an alle Orte, Szenen von Reisen, wo ich mit meinem Partner war. Ich lasse mich überraschen. Mir schießen urplötzlich Bilder von einem Markt in der Provence in den Kopf: Ich sehe die Stände vor mir, die Farben, die Treppe, die zu irgendeiner Kirche führt und da gehe ich spazieren und habe so eine gewisse Lust rauszugehen. Aber hier im Innenhof, da hast du ein Karree, das ist dreizehn mal zehn Schritte lang. Da stehen drei Bäume drauf und wenn du das fünfzehn Mal umrundet hast, musst du die Richtung wechseln, sonst kriegst du einen Drehwurm. Das ist so langweilig, dass ich jetzt immer schon Ausflüchte mache – da ist ein Eingang mit zwei Stufen, da gehe ich dann eine Weile Stufen rauf und runter und mache Sprünge. Hier ist eine Treppe, die ist etwas höher, da gehe ich dann zehnmal rauf und runter. Bei der Kellertreppe mache ich das Gleiche und versuche eine Stunde rumzukriegen. Es ist trotzdem langweilig.«
Die guten Dinge sehen
Sie arbeitet in der Gefängnisbibliothek, diese Tätigkeit hatte sie sich von allen Arbeitsmöglichkeiten hier gewünscht. Sie habe Glück gehabt, sagt sie: Wenn sie aus ihrem Zimmer schaue, sehe sie eine schöne Backsteinfront mit abgesetzten Bögen in hellem Putz, die sie an die alten Zechenhäuser im Revier erinnerten. Würde sie auf der anderen Seite wohnen, sähe sie nur weiße Flächen mit vergitterten Fenstern. »Vielleicht versuche ich auch mit aller Macht, mich an den angenehmen Sachen hochzuziehen.«
Die drei Stunden vergehen wie im Flug. Sie spricht reflektiert von ihren Erlebnissen, ihrer Inhaftierung, dem Transport nach ihrer Festnahme, der Odyssee durch verschiedene Gefängnisse, bis sie endlich hier angelangt ist. Die Behandlung auf diesem Weg mit den vielen Stationen sei teilweise freundlich, teilweise barsch gewesen, manchmal sei sie in Handschellen transportiert worden. Im Gefängnisbus, der sie vom Gelsenkirchener Gefängnis zur nächsten Station gefahren hatte, habe sie in einer kleinen Zelle gesessen, so eng, dass sie ihre Beine über Stunden nicht habe ausstrecken können. Sie war die einzige Gefangene in dem großen Polizei-Omnibus. Ein winziges Fenster lag so hoch, dass sie die sonnige Landschaft nicht sehen konnte, durch die der Bus fuhr.
»Wenn du irgendwo ankommst, ist das immer eine merkwürdige Situation«, schildert sie: »Du hast das Gefühl, sicherheitshalber behandeln sie dich erst einmal wie einen Schwerverbrecher. In einer Habachtstellung, das Gegenteil zu dem, wie ich gearbeitet habe und wo ja vielleicht letztlich ein Fehler von mir lag.« Sie reflektiert: »Vertrauen hat die Grundlage meiner Arbeit ausgemacht: In Beziehung gehen und parteiisch sein für die jeweilige Frau und Vertrauen aufzubauen – auch mein Vertrauen, vielleicht sogar im Vorhinein. Hier bin ich mit einer Situation konfrontiert, wo du spürbar mit Misstrauen zu tun hast, was ich natürlich nachvollziehen kann. Hier soll es Leute geben, die tatsächlich gewalttätig geworden sind, die vielleicht auch unberechenbar sind. Es ist eine Einstellung zu spüren, gerade denjenigen, die besonders aufgeschlossen rüberkommen, erst einmal zu unterstellen, dass sie einen anlügen. Da bin ich wieder im selben Thema wie im Prozess. In meinem wirklichen Leben war ich eine, von der man gesagt hat, ehrlich bis zur Taktlosigkeit. Und im Prozess werde ich als Lügnerin dargestellt. Hier wird im Grunde auch immer wieder abgeklopft, ob ich nicht lüge.«
Gedanken an den Tod
Ende desselben Jahres besuche ich sie erneut in der JVA Pankow – ein Jahr Haft im geschlossenen Vollzug liegt hinter ihr, noch weitere Jahre Gefängnisstrafe vor ihr. Sie sagt: »Jetzt in dieser Winterdepressions-Jahreszeit beschäftige ich mich jeden Tag mit dem Tod. Ich denke, was ist das hier eigentlich? Warum machen Menschen das mit anderen Menschen? Es ist, als hätte ich mein Todesurteil erhalten. Da haben Menschen entschieden, wir machen diese Frau kaputt. Und das könnte gelingen, ich habe das langsam begriffen – über Rufmord, über Enteignung, über Entführung und Wegsperren.«
Die Kollegin erlebt gerade mit, dass eine Frau auf ihrer Station ihren Lebensmut verloren hat. »Sie sagt, sie kann ohne Lockerung nicht mehr leben. Sie muss ihre Tochter sehen. Sie ist seit ein paar Tagen im Hungerstreik und trinkt auch nichts mehr. Ich weiß nicht, ob es irgendjemand mitgekriegt hat.«
Sie habe versucht, das Personal zu informieren, wisse nicht, ob zwischen Weihnachten und Neujahr jemand ihre Nachricht empfangen hat. »Sie meint das ernst. Sie hat ihr Testament geschrieben und sagt, sie kann einfach nicht mehr. Das Einzige, was ihr bleibt ist, selbst ihren Tod zu bewirken, statt noch weiter abzuwarten. Sie ist schon lange in Haft und aus unerfindlichen Gründen kriegt sie keine Lockerung. Sie sagt, das würde sie noch am Leben halten, wenn sie in absehbarer Zeit ihre 14-jährige Tochter sehen könnte, die den Kontakt zur Mutter braucht. Ich kann das alles nachvollziehen.«
Lockerungen
Im Februar sehen wir uns wieder. Obwohl sie im geschlossenen Vollzug untergebracht ist, gibt es erste Lockerungen für sie. Eines Tages ein Anruf – ich bin zufällig in Berlin. Sie lädt mich ein, sie bei ihrem ersten Ausgang zu begleiten. Es geht gleich los. Ihr Partner hat ein kleines Ausflugsprogramm durch Berlin zusammengestellt. S- und U-Bahn-Fahren, ins Café mit dem besten Apfelstrudel, thailändisch Essen gehen. Sie sieht gerührt das Handyvideo vom Enkelkind ihres Freundes, das vor wenigen Monaten geboren ist. Sehr blass sieht sie aus. Ich spüre in ihrer Gesellschaft die Kostbarkeit dieser alltäglichen Normalität und der Beweglichkeit.
Sie hat danach öfter Ausgang. Bald darf sie sogar für einige Tage nach Hause fahren und ihre Familie wiedersehen. Ihr Sohn kann in diesen Tagen bei ihr sein und sie besucht ihre Mutter. Als ihre Mutter einige Monate später im Krankenhaus liegt, darf sie für drei Wochen nach Hause fahren und kurz darauf noch einmal, als die Mutter stirbt.
Im Herbst 2018 wird die ehemalige Geburtshelferin zur Preisverleihung des Ingeborg-Drewitz-Literaturpreises für Gefangene eingeladen, der alle drei Jahre verliehen wird. Sie hatte einen Text eingereicht, der minutiös und reflektierend ihre Festnahme beschreibt. Sie gehört zu den wenigen Inhaftierten, die persönlich an der Feier teilnehmen dürfen, und ist allein aus Berlin nach Dortmund angereist.
Ihr Text »Die Menschenwürde ist angreifbar« wird von einer Schauspielerin gelesen: »Wenn sie dich das erste Mal fesseln, bist du vielleicht spät abends von einer Wohnungsrenovierung müde, reinigungsbedürftig und hungrig in deine Heimstatt zurückgekehrt. Du willst mit dem zubereiteten Essen und einem Glas Wein in der Hand aus der Küche in das Wohnzimmer, freust dich auf die Mahlzeit.« Sie schildert in ihrem Text, wie sie »plötzlich das freundlich wirkende Gesicht eines Mädchens mit blonden Haaren« durch die Scheibe der Haustür erkennt, »das im Licht aus der Küche erhellt wird. Hinter ihr drei dunkle Schemen.«
Sie vermutet späte Besucher, die zu ihren Mitbewohnern wollen, und öffnet. »Und dann erlebst du, wie sich vier Leute in den Raum drängen, dich umringen, sich breitbeinig aufbauen. Einer der drei Männer unterstellt dir mit barschem Tonfall eine bestimmte Identität. (…) Der andere Mann zieht nun ein paar Handschellen aus seiner Jacke. Ich registriere sie, habe noch nie echte Stahlfesseln gesehen, denke gleichzeitig an sexuelle Fesselungsspiele, weiß der Himmel, warum. Was hat er damit vor? Er öffnet sie. Ich höre das sanfte Klicken. Er will, dass ich ihm meine Handgelenke zur Verfügung stelle. Ich verschränke meine Arme instinktiv vor der Brust, richte mich zu voller Größe auf. Ich bin höher gewachsen als er. Ich nehme in Kauf, dass ich jetzt vielleicht bedrohlich für ihn wirke. Er versucht es mit einer Erklärung, er müsse zu dieser Maßnahme greifen. (…) Ich probiere es mit Worten: ›Hören Sie, das ist unnötig. Ich bin weder gewalttätig noch fluchtbereit. Ich habe nichts verbrochen. Lassen Sie mich in Ruhe.‹
Seine Miene ist unbewegt. Er wiederholt, dass die Fesselung sein ›müsse‹, schiebt noch nach, dass Menschen ›in dieser Situation‹ zu unberechenbaren Aktionen neigen und lässt keinen Zweifel an seiner Durchsetzungsabsicht. (…) ›Schauen Sie, ich bin ein Mensch wie Sie, eine Großmutter und alleine. Sie sind zu viert. Glauben Sie wirklich, Sie müssen diese entwürdigende Maßnahme durchziehen?‹ Ich werde ganz starr in dem Begreifen, dass ich völlig ausgeliefert bin, mir niemand helfen wird. ›Ist nicht die Polizei für den Schutz der Bevölkerung da?‹, ist ein irritierender Gedanke.
Ich fühle, wie sich die schmale Stahlfessel um mein mageres rechtes Handgelenk schmiegt, wie es eng wird und wie scharf der Rand ist, höre das Einrasten. Das Metall ist noch warm von der Körpertemperatur des Mannes, der sie anlegt. (…) Ich beobachte mich selbst, wie ich auch den zweiten Arm hinhalte, wie mein Widerstand erlischt. Ich habe aber nicht damit gerechnet, dass mir jetzt die Arme auf den Rücken gedreht und dort zusammengeschlossen werden. Diese Haltung öffnet meinen Körper für Angriffe. Auf einmal ist mein Mund ganz trocken. (…)«
Im Rahmenprogramm der Preisverleihung wird der Jurist und Autor Thomas Galli interviewt. Der ehemalige Gefängnisdirektor schildert, wie er über 15 Jahre im Strafvollzug gearbeitet und diesen zunehmend kritisch gesehen habe. Er plädiert für eine Abschaffung von Gefängnissen, weil diese nutzlos seien, und hält stattdessen verpflichtende gemeinnützige Arbeit für sinnvoll. Er würde ein Konzept mit einem Täter-Opfer-Ausgleich in den Mittelpunkt stellen. Nur Verurteilte, vor denen die Allgemeinheit geschützt werden müsse, sollten in einem abgeschlossenen Gebiet untergebracht werden.
Im Band der ausgewählten Texte der Gefangenen lese ich später in seinem Vorwort: »Die allerwenigsten Straffälligen sind bösartige Menschen (…). Jede und jeder von uns kann straffällig werden. In und hinter fast jeder Tat, mit der ein anderer geschädigt wird, steckt auch etwas anderes, das verstanden werden will. Dies zu erfassen ist unabdingbare Voraussetzung dafür, dass es sich in Zukunft anders Ausdruck verleihen kann als in der Schädigung anderer. (…) Wer anderen Gewalt antut oder einen schweren Schaden zufügt, der trennt, spaltet, schafft Gräben, verletzt. Wer andere zur Strafe inhaftiert, der trennt, spaltet, schafft Gräben, verletzt«, schreibt Galli.
In den offenen Vollzug
Im Januar 2019 zieht die Kollegin in die JVA Reinickendorf um – dort herrscht offener Vollzug. Sie ist für eine Weiterbildungsmaßnahme angemeldet: Moderation und Coaching. Die Kurse finden ganztags an fünf Tagen die Woche statt. Sie fährt dazu in einen anderen Stadtteil und muss sich abends wieder im Gefängnis einfinden. Der Kontakt mit den anderen Teilnehmer:innen, Neues und Sinnvolles zu lernen, das lässt sie spürbar aufleben. Am Ende des Sommers hält sie ihr Zertifikat glücklich in den Händen und hat große Lust, auf diesem Gebiet zu arbeiten, zu dem sie so viele Vorkenntnisse aus ihren bisherigen Berufen mitbringt. Erste zuversichtliche Bewerbungen und Arbeitsmöglichkeiten laufen ins Leere – wenn potenzielle Arbeitgeber erfahren, dass das Gehalt über die JVA läuft, gibt es Absagen.
Der Alltag wird wieder enger, wie vor der Weiterbildungsmaßnahme. Freie Tage und Besuche sind genau festgelegt. Sie verbringt wieder die meiste Zeit im Gefängnis. Sie stellt einen Antrag auf vorzeitige Haftentlassung wegen guter Führung.
Der Beginn der Covid-19-Pandemie bringt eine unerwartete Wendung: Sie darf nach Hause reisen, eine Art »verlängerter Ausgang«, der von Woche zu Woche von der JVA verlängert wird. Anfangs ist sie noch erleichtert, zu Hause zu sein, lebt dort relativ zurückgezogen. Mehr und mehr kommt eine Unruhe dazu – die Vorstellung, wieder zurück ins Gefängnis zu müssen, ist zunehmend belastend. Als die Corona-Inzidenz sinkt, wird die Angst konkreter. Gleichzeitig denkt sie darüber nach, was nach der Haftzeit auf sie zukommt. Erhebliche Geldforderungen der Eltern des verstorbenen Mädchens und die enorme Rechnung für den Gerichtsprozess stehen an.
Schließlich ein Termin bei einer Richterin am Landgericht Berlin im August 2020 wegen ihrer vorzeitigen Entlassung. Enttäuscht kommt sie aus dem Gespräch zurück: Zunächst muss ein psychologisches Gutachten erstellt werden. Wieder vergehen Monate. Ein Psychiater telefoniert mit ihr Anfang dieses Jahres und fertigt dann ein 66-seitiges Gutachten über ihre Persönlichkeit an. Offenbar spricht nichts gegen ihre Entlassung. Als sie vor einigen Wochen, Anfang Juni 2021, einen neuen Termin am Landgericht hat, bekommt sie grünes Licht für die Entlassung. Sie hat mehr als Zweidrittel ihrer Strafe verbüßt, eine Entlassung ist nun bei »guter Führung« ein übliches Vorgehen.
Eine Sorge hatte sie bis zum Schluss gehabt: Weil sie das Urteil gegen sie nie akzeptiert und sich nicht wie gefordert, »positiv mit ihrer Straftat auseinandergesetzt« hatte, hätte die Entscheidung auch anders ausfallen können. Noch immer wisse man nicht, woran das Kind genau gestorben sei, sagt sie. Und noch immer suche sie nach einer Erklärung für den tragischen Ausgang der Geburt.
Entlassung aus der JVA Reinickendorf
Die Entlassung aus der Haft verläuft unspektakulär. Schon eine Woche später, Mitte Juni, reist sie vom Ruhrgebiet wieder nach Berlin. Ich warte vor dem großen blauen Gefängnistor auf sie, bis sie die Entlassungsformalitäten erledigt hat.
Wir gehen auf den nahegelegenen Friedhof, ein stiller Ort, wo sie manche freie Stunde verbracht hat. »Es gab noch eine kurze Belehrung, ich werde einen Bewährungshelfer kriegen. Das hab ich so übersetzt, er sei wohl die Vermittlungsperson zwischen der Justiz und mir. Ja, so sei das und damit war die Geschichte auch schon beendet«, schildert sie die letzten Momente im Gefängnis. Sie erhält ihre verbliebenen Habseligkeiten und ihren Personalausweis zurück und muss noch ein paar Unterschriften leisten: »Ich musste auch unterschreiben, dass ich in der Haft keine Körperverletzung erlitten hatte. Dann hab ich den Schlüssel noch abgegeben. Dann war es gut, dann konnte ich raus.«
Wie es ihr jetzt gehe, frage ich. »Ich bin da nicht mit einem Gefühl von Aufregung reingegangen«, schildert sie: »Es war ja jetzt irgendwie ein Stück Zuhause für mich, weil ich ja immer dahin zurückkehren musste, da ein Bett hatte und zu Essen bekam. Es ist so eine Art Unterkunft gewesen. Das war jetzt auch zwanglos. Wie gesagt, keine große Erleichterung. Nur, es ist jetzt ein Strich gemacht.«