Gebären und Geborenwerden ist weltweit mit ungleichen Chancen für Gesundheit und Leben verbunden. Laut Schätzungen der UNO könnten jährlich 4,3 Millionen Frauen und Babys gerettet werden, wenn Betreuungslücken geschlossen würden. Etwa 900.000 Hebammen bräuchte es dafür, vor allem in afrikanischen Ländern. Ungleiche Chancen gibt es aber auch in den westlichen Industrieländern, wo marginalisierte Gruppen wie Migrant:innen und Geflüchtete unterversorgt sind, während andere Überversorgung erleben.
Angesichts der Corona-Pandemie, des Krieges in der Ukraine, des Klimawandels und den damit verbundenen Flüchtlings- und Migrationsbewegungen sind Themen wie Gleichheit und Gerechtigkeit beim Zugang zu Ressourcen brennend aktuell.
In der Hebammenarbeit spiegeln sich die gesellschaftspolitischen, ökonomischen und ökologischen Krisen wie in einem Brennglas. Dazu gehört der Kampf für gerecht verteilte Ressourcen inklusive Hebammenbetreuung und Zugängen zur Notfallversorgung.
Das Thema der 6. internationalen Konferenz der DGHWi »Chancengleichheit – Equality & Equity in Childbirth« hätte nicht aktueller sein können. Mit 113 Teilnehmenden vor Ort und 23 online fand die ursprünglich für Februar 2022 geplante Konferenz am 28. und 29. Juli mit großer Resonanz in Winterthur statt. Viele fachlich hervorragende Beiträge und die große Freude, sich nach zwei Jahren Pandemie endlich wieder persönlich zu begegnen, sich auszutauschen und zu netzwerken, schafften eine großartige Atmosphäre am neuen Standort der ZHAW in den lichten Räumen des Adeline-Favre-Hauses
Hebammenarbeit als politischer Auftrag
In ihrem Eröffnungsvortrag »Implementing Midwife-led Continuity of care (MLCC), a balancing act between science and politics« fasste Franka Cadée, Präsidentin der International Confederation of Midwives (ICM), die Evidenz kontinuierlicher hebammengeleiteter Versorgung zusammen.
MLCC – die kontinuierliche Versorgung über den gesamten Betreuungsbogen durch eine Hebamme oder ein kleines Hebammenteam – sei frauenzentriert. Das Konzept basiere auf der Überzeugung, dass Schwangerschaft und Geburt normale Ereignissen im Lebenslauf sind, und dem Modell einer therapeutischen Partnerschaft zwischen Frau und Hebamme. MLCC sei nicht begrenzt auf Low-Risk-Frauen, sondern schließe auch Frauen mit einem hohen oder sozialen Risiko ein, ebenso wie marginalisierte Gruppen.
MLCC habe zahlreiche Evidenzen: 16 % weniger Totgeburten, 19 % weniger IUFT vor der 24. Schwangerschaftswoche, 24 % weniger Frühgeburten, 15 % weniger PDA, 10 % weniger operative Geburten, 16 % weniger Episiotomien und 5 % mehr Spontangeburten. Trotz dieser sehr deutlichen und stetig weiterwachsenden Evidenz und ihrer positiven Wirkung zum Erreichen der Nachhaltigkeitsziele der Agenda 2030 sei die Implementierung von MLCC im Vergleich zu anderen Interventionen bemerkenswert langsam. Es gebe aber mittlerweile Zeichen für eine Veränderung, denn zunehmend sei es Konsens unter den führenden Gesundheitsorganisationen, dass es mehr gezielte Strategien brauche, um MLCC für eine universelle, flächendeckende, gerechte und respektvolle Gesundheitsversorgung im Betreuungsbogen zu implementieren. Die WHO habe deshalb MLCC-Modelle sowohl in der Schwangerenvorsorge als auch in der Geburtshilfe für eine positive Schwangerschafts- und Geburtserfahrung empfohlen.
Für den ICM habe das Konzept der MLCC für alle Frauen Top-Priorität, besonders aber für diejenigen, die es am meisten bräuchten. Die zentrale Botschaft von Franka Cadée: »Wir haben alle Evidenzen, jetzt müssen wir politisch werden! Wir brauchen einen politisch gewollten Systemwechsel im Gesundheitswesen.«