Neugeborene erinnern sich sogar an Melodien, die sie vorgeburtlich gehört haben. Illustration: © Birgit Heimbach

Fördert klassische Musik die Gehirnentwicklung ungeborener Kinder? Studien zur pränatalen Gehörentwicklung zeigen, dass Neugeborene bereits Melodien erkennen, verschiedene Stimmen und Sprachen unterscheiden können. Ihr Spracherwerb profitiert davon nachhaltig.

Noch vor rund 130 Jahren ging man davon aus, dass Neugeborene praktisch gehörlos geboren würden. Forschungsergebnisse der vergangenen Jahrzehnte konnten aber zeigen, dass bereits im letzten Schwangerschaftstrimester das fetale Gehör voll funktionsfähig ist (Moore & Linthicum 2007). Der Fetus ist dabei in der Lage, akustische Reize, wie zum Beispiel Stimmen, Geräusche und Musik, wahrzunehmen und darauf zu reagieren. Ob und was der Fetus schon hören kann, hängt allerdings nicht nur vom Reifegrad des Hörsystems ab. Vielmehr wird der Hörvorgang dadurch beeinflusst, auf welche Art und Weise die Schallwellen zum Innenohr des Fetus übertragen werden. Außerdem hängt es von der Lautstärke und Tonhöhe (Frequenz) der akustischen Reize ab sowie von der intrauterinen »Geräuschkulisse«.

Im Uterus herrscht nie absolute Stille. Vielmehr dringt eine Vielzahl von Geräuschen zum Fetus durch. Diese werden zum Beispiel durch die mütterliche Atmung, das kardiovaskuläre System oder auch Körperbewegungen hervorgerufen (Benzaquen et al. 1990).

Es ist allgemein bekannt, dass viele Neugeborene gerne in einer Geräuschkulisse schlafen. So mögen manche Babys zum Beispiel das Rauschen des Föhns, da es sie an die intrauterine Umgebung erinnert und ein sicheres und vertrautes Gefühl gibt. Aber auch Laute von außerhalb des Mutterleibes dringen über die Bauchdecke der Mutter zum Fetus durch. Die Bauchdecke, die Muskelschicht des Uterus sowie das Fruchtwasser wirken dabei als sogenannte Tiefpassfilter: Höhere Frequenzen werden gedämpft, sodass nur die tieferen Töne die Barriere passieren können (Richards 1992). Dies führt dazu, dass der Fetus prosodische Merkmale, also die Melodie und den Rhythmus der Sprache, wahrnimmt, aber keine einzelnen Laute wie zum Beispiel «k« oder »t« oder gar Wörter hören beziehungsweise unterscheiden kann (Woodward & Guidozzi 1992). Die Melodie und der Rhythmus der Muttersprache oder auch anderer Sprachen, die der Fetus zu hören bekommt, stellen also den ersten Kontakt mit Sprache dar. Die Tatsache, dass nur tiefere Töne zum Fetus durchdringen, korrespondiert auch damit, dass sich das Gehör der Feten so entwickelt, dass zunächst nur tiefere Töne in einem Frequenzbereich von ungefähr 250 bis 500 Hz wahrgenommen werden können (Holst et al. 2005).

Hören über die Knochenleitung

Während die extrauterinen Laute gedämpft werden, nimmt der Fetus die Stimme der Mutter sogar etwas lauter wahr, als sie außerhalb des Mutterleibs zu hören ist. Dies lässt sich durch eine Besonderheit des pränatalen Hörens erklären: Dadurch, dass der äußere Gehörgang und das Mittelohr des Fetus mit Fruchtwasser gefüllt sind, sind beide – anders als beim Hören an der Luft – kaum am Hörvorgang beteiligt. Das Hören geschieht somit hauptsächlich über die Knochenleitung (Gerhardt et al. 1996). Die Schallwellen werden also nicht wie in der extrauterinen Welt durch die Luft über das äußere Ohr und das Mittelohr ins Innenohr geleitet, sondern vielmehr durch die Schädelknochen des Fetus zum Innenohr transportiert. Besser noch als Stimmen anderer Personen, können Feten die der Mutter hören, da ihre Laute direkt über die Knochen in den Uterus weitergeleitet werden (Querleu et al. 1981). Die Stimme der Mutter ist für den Fetus somit die wichtigste Schallquelle.

Welchen Einfluss haben nun das pränatale Hören und die frühe Wahrnehmung von Melodie und Rhythmus auf die Sprachentwicklung? Bereits pränatal können Reaktionen der Feten auf Stimmen und Sprache sowie spracherwerbsrelevante Leistungen gemessen werden. Während im Rahmen von älteren Studien meist behaviorale Methoden zum Einsatz kamen, werden heute überwiegend elektrophysiologische Verfahren, wie zum Beispiel die Magnetenzephalografie (MEG) verwendet. Im Kontext von behavioralen Studien wird mittels Ultraschall beobachtet, wie Feten auf verschiedene akustische Stimuli reagieren. Beobachtet werden hier zum Beispiel der Blinzelreflex oder auch die motorische Aktivität. Reaktionen des Fetus können jedoch nur indirekt über sein Verhalten abgeleitet werden.

Durch den Einsatz der MEG als elektrophysiologisches Verfahren können die vom fetalen Gehirn erzeugten Magnetfelder über den mütterlichen Abdomen direkt erfasst werden und Aufschluss über die Wahrnehmung und Verarbeitung der Reize im Gehirn geben (Holst et al. 2005). Die Forschungsergebnisse der vergangenen Jahrzehnte liefern dabei ein einheitliches Bild: Im letzten Drittel der Schwangerschaft verfügen Feten bereits über beträchtliche sprachrelevante Leistungen. So können sie durch den frühen Kontakt mit der Sprachmelodie und dem Sprachrhythmus der Mutter bereits gegen Ende des letzten Schwangerschaftstrimesters die Stimme der Mutter von derjenigen einer fremden Sprecherin unterscheiden (Kisilevsky et al. 2003).

Illustration: © Birgit Heimbach

Erinnerung an (Sprach-)Melodien

Neugeborene erinnern sich sogar an Melodien, die sie vorgeburtlich gehört haben, wie eine behaviorale Studie von Hepper aus dem Jahr 1988 demonstriert. Die an der Studie teilnehmenden Mütter schauten in den letzten drei Monaten der Schwangerschaft regelmäßig eine Fernsehserie mit charakteristischer Titelmelodie. Nach der Geburt wurde den Neugeborenen die Titelmelodie erneut vorgespielt und sie zeigten deutlich mehr Aufmerksamkeitsreaktionen, verglichen mit Neugeborenen, die die Melodie nicht schon vorher gehört hatten. Die Entwicklungspsychobiologin Carolyn Granier-Deferre von der Pariser Universität Descartes und ihre KollegInnen haben 2011 im Rahmen ihrer Studie Feten in der 35. bis 37. Schwangerschaftswoche eine Klaviermelodie vorgespielt. Sie konnten zeigen, dass sich die Babys sogar noch einen Monat nach der Geburt an die Melodie erinnerten.

Eine Woche alte Neugeborene ziehen auch schon die Stimme der Mutter gegenüber fremden Stimmen vor (DeCasper & Fifer 1980; Lee & Kisilevsky 2014). Sie präferieren die Muttersprache gegenüber fremden Sprachen (Moon et al. 1993). Für »bilinguale« Neugeborene, deren Mütter in der Schwangerschaft zwei Sprachen gesprochen hatten, konnte gezeigt werden, dass die Babys keine der beiden Sprachen präferierten (Byers-Heinlein et al. 2010). Daran kann man gut erkennen, wie die Wahrnehmung der Neugeboren schon durch die intrauterine Spracherfahrung geprägt wird. Eine weitere besondere Fähigkeit der Neugeborenen ist es, Lautkontraste aller Sprachen der Welt zu erkennen. Japanische Neugeborene können zum Beispiel noch den Unterschied zwischen den Lauten »r« und »l« wahrnehmen, verlieren diese für ihre Sprache irrelevante Fähigkeit aber in der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres und spezialisieren sich dann mehr auf die Lautkontraste der Muttersprache (Kuhl et al. 2006).

Die Forschungsergebnisse zeigen somit einheitlich, dass der Spracherwerb von Seiten der Wahrnehmung (Perzeption) bereits vor der Geburt stattfindet. Eine Schlüsselrolle übernehmen dabei Melodie und Rhythmus (Prosodie) der Sprache ( Gervain 2018).

Neugeborene erinnern sich an Spracheigenschaften und Melodien, die sie pränatal gehört haben, und zeigen bereits bemerkenswerte sprachliche Leistungen, die einerseits auf den pränatalen Erfahrungen beruhen (Kisilevsky et al. 2003), andererseits aber auch durch eine angeborene Sensibilität für Melodie und Rhythmus zu erklären sind (Wermke & Mende 2011). Diese frühen perzeptiven Sprachleistungen bilden den Grundstein für die mit dem ersten Schrei nach der Geburt beginnende produktive Sprachentwicklung (Wermke & Mende 2016). Forschungsergebnisse belegen, dass diese vorgeburtlichen Erfahrungen förderlich für die Sprachentwicklung sind. So konnte beobachtet werden, dass niederländische Erwachsene, die im Alter von weniger als sechs Monaten aus Korea adoptiert wurden, leichter Koreanisch lernen als eine Kontrollgruppe von Erwachsenen, die in niederländische Familien geboren wurde, der also die pränatale und frühe postnatale Erfahrung mit dem Koreanischen fehlte (Choi et al. 2017). Inwiefern aber diese vorgeburtlichen Lauterfahrungen für einen erfolgreichen Lautspracherwerb unbedingt notwendig sind, wird derzeit erforscht (Moon 2017).

So können Kinder mit hochgradiger Hörschädigung, die während der Schwangerschaft keinerlei Erfahrungen mit Sprache und Musik hatten, bei frühzeitiger Diagnose und Versorgung mit Hörgeräten oder Cochlea-Implantaten, die Sprache trotzdem lernen – sowie auch hörende Kinder gehörloser Eltern, denen die pränatalen Spracherfahrungen fehlen (Brackenbury 2006; Geers & Nicholas 2013).

Den Spracherwerb unterstützen?

Um auf die einleitenden Fragen zurückzukommen: Wie können (werdende) Eltern den frühen Spracherwerb unterstützen? Zum Beispiel, indem sie viel mit dem ungeborenen Kind sprechen oder auch singen, was zugleich einen stärkenden Effekt auf die frühe Eltern-Kind-Bindung haben kann (Persico et al. 2017). Auch können die Eltern dem Fetus Musik vorspielen. Hierbei sollten sie melodiöse Musik wählen, denn das Ungeborene kann variationsreiche Tonhöhenverläufe besonders gut wahrnehmen. Ähnlich wie das Hören von Rauschgeräuschen, kann das Hören der vertrauten Melodien einen beruhigenden Effekt erzielen.

Wichtig ist vor allem, dass die Eltern auf ihr Gefühl hören. Wer selbst nicht gerne singt oder lieber die Stille einer musikalischen Beschallung vorzieht, sollte sich nicht für das vermeintliche Wohl des Kindes dazu zwingen. Für die Sprachentwicklung förderlich ist es aber, wenn Eltern vor und nach der Geburt viel mit ihrem Kind sprechen – auch wenn es sein erstes Wort erst mit ungefähr einem Jahr spricht, so kommt es doch sprachlich kompetent zur Welt.

Zitiervorlage
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Literatur

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