Katja Tempel: „Ich habe das Gefühl, ich muss noch weiter in den Konflikt gehen, was die Intimsphäre betrifft – was zum Beispiel die Abschließbarkeit von Zimmern angeht.“ Foto: © Michael Plümer
Katja Baumgarten: Sie wohnen im Landkreis Lüchow-Dannenberg und arbeiten dort als freie Hebamme, auch als Familienhebamme. Seit vier Jahren kommt die Betreuung für geflüchtete Familien hinzu. Haben Sie schon immer hier gelebt?
Katja Tempel: Ich bin 1989 über den Anti-Atom-Widerstand ins Wendland gekommen. Als Sozialpädagogin habe ich in einer Bildungsstätte für gewaltfreie Aktion Seminare gehalten und hier den Widerstand mitorganisiert. Durch die Hausgeburten meiner beiden Töchter habe ich mich für eine Umschulung zur Hebamme entschieden – um selbst Hausgeburten zu betreuen. Vor fünf oder sechs Jahren musste ich die Geburtshilfe wegen der Anhebung der Berufshaftpflichtversicherung leider aufgeben. Damals habe ich hier sechs bis zehn Hausgeburten im Jahr begleitet – allein vier oder fünf wären nur für die Finanzierung der Haftpflichtversicherung nötig gewesen.
Auch vertrug sich die Rufbereitschaft nicht mit der Familienhebammentätigkeit, die ich 2001 ebenfalls nach der Hebammenausbildung in meiner Doppelqualifikation als Hebamme und Sozialpädagogin begonnen hatte. Ich arbeite seit Jahren als Honorarkraft für einen kleinen basisdemokratischen Jugendhilfeträger, den Verbund Sozialtherapeutischer Einrichtungen (VSE), zusätzlich zu meiner Tätigkeit als freie Hebamme.
Katja Baumgarten: Betreuen Sie die geflüchteten Familien auch als Familienhebamme?
Katja Tempel: Ja. Die Frau, die mir bei meinem ersten Besuch als Hebamme in der Notunterkunft auf dem Polizeigelände in Lüchow einen schwersttraumatisierten Eindruck gemacht hatte, hat kurz danach im Krankenhaus ihr Kind geboren mit der großartigen Unterstützung einer Kollegin dort im Kreißsaal. Ich habe sie häufig besucht und täglich ihren Mann dorthin gefahren. Der Vater wäre allein nicht dort hingekommen, denn das Krankenhaus liegt 18 Kilometer entfernt, und die Familie war erst seit zehn Tagen in Deutschland. Weil es immer mehr Arbeitsstunden wurden, habe ich mich beispielsweise dann bei ihnen im Rahmen der Frühen Hilfen auch als Familienhebamme einsetzen lassen. Die Frühen Hilfen sind für alle Familien mit Kindern unter drei Jahren vorgesehen.
Katja Baumgarten: Die Notunterkunft in Lüchow wurde nun geschlossen – wie waren die Geflüchteten dort untergebracht?
Katja Tempel: Ende Januar wurde die Notunterkunft unter der Leitung der Johanniter geschlossen. Ich weiß nicht, wohin die Menschen von dort umgezogen sind. Sie befand sich in der Polizeikaserne, die meist leer steht, in der bei Einsätzen für den Castortransport jedoch weit über tausend Polizisten und Polizistinnen stationiert sind. Dort hatten seit vergangenem September 500 geflüchtete Menschen gelebt, darunter 200 Kinder. Die Unterkünfte sind nach außen hin freundlich gestaltet mit großen Fenstern. Doch die Zimmer sind spartanisch eingerichtet mit jeweils zwei Doppelstockbetten, einem Schrank, einem Tisch und Stühlen. Alle BewohnerInnen einer Etage teilten sich je ein Badezimmer für Männer und für Frauen. Die Sanitäranlagen wurden mehrmals am Tag gereinigt – es war sehr sauber.
Die BewohnerInnen haben nicht selbst gekocht, sondern bekamen eine Zentralverpflegung in einem beheizten Zelt mit einfachen Bierbänken – alles recht reizarm und trist. Immerhin hatten die Geflüchteten, die dort wohnten, das Glück, dass sie zu Fuß viel erreichen konnten. Das Gelände liegt sehr zentral zum Ort.
Nach einem Gespräch mit der Heimleitung im Oktober hat die Familie, die ich damals betreut habe, ein eigenes Zimmer bekommen – weil ich klar machen konnte, wie problematisch es ist, wenn Eltern mit einem Baby sich mit anderen Menschen ein Zimmer teilen müssen – auch für die anderen, wenn das Baby in der Nacht häufig wach ist.
Ich habe dort nicht allzu viele Familien betreut. An die Schwangeren, die dort lebten, kam ich nicht immer heran. Die Zusammenarbeit mit der Heimleitung hatte sich zwar verbessert, war aber nicht ideal. Eine Mutter mit einem Säugling, die ich beispielsweise bei meinem ersten Besuch in der Notunterkunft gesehen hatte, hätte es sicher gut gebrauchen können, noch einmal über Ernährung zu sprechen. Das Kind wirkte apathisch, darüber war ich irritiert. Ich habe jedoch als Hebamme den Anspruch, dass der Auftrag von den Betroffenen selbst kommen muss. Ich möchte nicht von mir aus den Bedarf definieren.
Katja Baumgarten: Haben Sie zu den beiden anderen Unterkünften in Ihrer Gegend auch Kontakt?
Katja Tempel: Jede Notunterkunft hat einen anderen Träger. Zu einer Notunterkunft des Deutschen Roten Kreuzes habe ich nur telefonischen Kontakt. Ich bin ansonsten jetzt in einer Notunterkunft des Arbeiter Samariter Bundes, des ASB tätig, die mitten auf dem Land in Woltersdorf liegt. Nicht die Polizei sichert dort das Gelände, sondern ein privater Wachschutz. Die Atmosphäre ist dort besser, als es in der Unterkunft der Johanniter auf dem Gelände der Polizei war: Ich brauche keinen Ausweis vorzuzeigen, sondern fahre nach Blickkontakt mit dem Wachdienst aufs Gelände.
Als ich dort zum ersten Mal einen Hebammentermin mit einer Frau hatte, kam eine Mitarbeiterin vom ASB und sagte: „Hier bin ich.” Ich fürchtete, jetzt geht es wieder los mit der Kontrolle – und habe zu ihr gesagt: „Ich glaube, ich komme auch so gut klar.” Da stimmte sie mir zu: „Ja, und für die Privatsphäre ist es auch besser”, und hat mich allein arbeiten lassen. Mit den Frauen konnte ich die nächsten Treffen in ihrem Zimmer verabreden. Beim ASB begegne ich Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen, die nur eine Dienstkleidung und keine Uniform tragen, wie die Johanniter. Das macht einen Riesenunterschied aus – ich erlebe sie als Menschen.
Katja Baumgarten: Wie war es bei den Johannitern?
Katja Tempel: Sie hatten in der Notunterkunft in Lüchow keinen Kontakt mit den Geflüchteten, weil ihr Büro weiter entfernt im Sanitätstrakt lag. Sie machten offenbar keine direkte Betreuung. Immer wenn ich meine Wöchnerin in der Unterkunft besuchte, sah ich viele Menschen – auch Polizeibeamte, die den Hinterausgang bewachten und mit den Bewohnern und Bewohnerinnen redeten, sie sprachen über Apps fürs Handy oder lasen Bescheide. Von den Johannitern habe ich niemanden außerhalb des Büros gesehen. In der Notunterkunft in Woltersdorf unter der Leitung des ASB ist das anders.
Katja Baumgarten: Wie arbeiten Sie in der Unterkunft des ASB?
Katja Tempel: Inzwischen bin ich die „Haus”-Hebamme der Unterkunft und arbeite eng mit dem Sanitätsbereich, der Ärztin und dem Sozialdienst zusammen. Ich organisiere auch die Besuche zu ärztlichen Schwangerenvorsorgen und werde angerufen, wenn es einer Frau nicht gut geht. Im Moment betreue ich dort vier Schwangere, die ich regelmäßig sehe.
Gerade habe ich eine Empfehlung für die Bediensteten der Sanitätsstation herausgegeben, wie sie sich bei einem möglichen Geburtsbeginn von Schwangeren verhalten sollten. Die Arbeit dort macht viel Spaß, sie fordert mich auch. Nach einem Nachmittag im Einsatz bin ich sehr geschafft. Die Situation ist immer noch nicht optimal – wie sollte sie es auch sein? Die Frauen leiden sehr unter der Lebenssituation. Ich mache mir Sorgen um die Babys. Beispielsweise hat neulich eine der Schwangeren drei Tage lang nichts von ihrem Kind gespürt – weil sie so mit ihrem Kummer beschäftigt war.
Katja Baumgarten: Sind Infektionskrankheiten ein Problem?
Katja Tempel: Gegen Tuberkulose bin ich selbst nicht geimpft, gehe da aber ohne Angst ran und hoffe, dass ich mich nicht anstecke. Ich habe etwas dagegen, dass bei jedem Menschen, der jetzt hierher kommt, vermutet wird, dass er oder sie krank oder ansteckend oder eine Gefährdung für meine Gesundheit wäre.
Katja Baumgarten: Sind Sie mit Gewalt in den Einrichtungen konfrontiert?
Katja Tempel: In der Notunterkunft in Lüchow gab es Polizeieinsätze wegen sexueller Belästigung. Unsere Zeitung hatte dazu recherchiert, dass solche Zwischenfälle dort weniger häufig vorkämen als anderswo – wenn man einen „Normalbereich” annimmt, der vergleichbar ist mit Lebenssituationen, wenn Menschen auf so engem Raum miteinander leben.
Mit zunehmend längerer Verweildauer in den Notunterkünften, ohne dass sie richtige Erstaufnahmelager sind, wird so etwas mit der Zeit wohl zunehmen. Hoffentlich wird die ehrenamtliche Tätigkeit von Menschen vermehrt integriert, bis sich das mögliche Gewaltpotenzial wieder entspannt.
Die Väter aus Syrien oder dem Iran, die hier mit ihren Frauen und Kindern während des Asylverfahrens leben, habe ich als sehr zugewandt und versorgend gerade für ihre Frauen erlebt. Ich hätte das bei muslimischen Familien so nicht erwartet – da hat sich mein Familienbild nochmal verändert. In anderen Familien hatte ich früher öfter erlebt, dass sich der Mann sehr schnell nach außen orientiert und die Frau mit Baby zu Hause war. Jetzt betreue ich mehrere Familien, wo der Mann seine Frau und mich mit Tee und Keksen versorgt und sich dann leise entfernt, damit wir alleine reden können. Dann bringt er das Baby, wenn es weint, und zieht es auch schon aus, damit ich es wiegen kann. Er nimmt eine unterstützende, sorgende Rolle ein. So lerne ich gerade viel Neues über neue Männer. Wenn ich bei den Frauen zur Sprache bringe, was sie für einen fürsorglichen Mann haben, ist es für sie normal. Es tut gut, wenn man seine Vorurteile gerade rückt.
Katja Baumgarten: Wie erfahren die Familien von Ihnen, die dezentral untergebracht sind?
Katja Tempel: Mittlerweile arbeite ich für die geflüchteten Frauen eng mit einer Frauenärztin zusammen, die Schwangere an mich weiterleitet. Ich betreue im Moment insgesamt 13 Frauen in der Notunterkunft oder in eigenen Wohnungen im Landkreis.
Katja Baumgarten: Gibt es Schwierigkeiten mit der Abrechnung, wenn die Familien noch nicht offiziell registriert sind?
Katja Tempel: Nein. Wenn die Menschen länger als eine Woche in einer geordneten Notunterkunft leben, werden sie erfasst: Sie werden mit voller Identität, aber ohne Fingerabdrücke aufgenommen, bekommen eine ID-Nummer und einen Hausausweis. Die niedersächsische Landesausländerbehörde in Braunschweig, die LAB übernimmt problemlos die Kosten der Hebammenleistungen für alle in Notunterkünften lebenden Schwangeren und für Mütter, die geboren haben. Ich trage sie in den Hebammenrechnungen als Kostenträger ein.
Anfangs hatte ich überlegt, ob ich meine Arbeit ehrenamtlich mache, aber es geht um einen Anspruch der Frauen auf Hebammenhilfe. Wenn es mir um die Durchsetzung dieses Anspruchs geht, muss diese Arbeit auch bezahlt werden. Es ist eine andere Haltung, wenn die Frau meine Auftraggeberin ist. Dann ist es verbindlicher, als wenn ich ehrenamtlich arbeiten würde.
Katja Baumgarten: Wie geht es für diese Frauen und ihre Familien weiter, die Sie jetzt betreut haben?
Katja Tempel: Bis jetzt konnte beispielsweise die eine Familie, die ich betreut habe, noch nicht einmal ihren Asylantrag stellen, obwohl sie seit September 2015 hier ist. Leider ist das reale Praxis – es betrifft fast alle Menschen, die seitdem hier in der Region untergebracht worden sind. Es gibt keine Bezeichnung für sie in diesem formalen Zustand. Die im Landkreis an die Kommunen zugewiesenen Flüchtlinge haben eine „BüMA”, eine „Bescheinigung über Meldung als Asylsuchende”, damit sie sich überhaupt ausweisen können und Leistungen nach dem AsylbLG bekommen.
Aber auch viele von denen, die im September gekommenen sind und inzwischen im Landkreis in eigenen Wohnungen leben, konnten sich bisher nicht registrieren lassen. Sie sind dadurch noch nicht im Asylverfahren, sondern in einer Wartesituation vor dem Asylverfahren.
Katja Baumgarten: Wie lange dauert dies nach Ihrer Erfahrung?
Katja Tempel: Es dauert manchmal Monate, bis das richtige Asylverfahren eröffnet wird. Dann unter Umständen noch einmal ein bis zwei Jahre, bis über den Antrag entschieden wird. Dann werden die Familien von hier aus hauptsächlich auf Niedersachsen verteilt – in der Amtssprache: den Kommunen „zugewiesen”. Entweder wohnen sie dann in Sammelunterkünften oder in eigenen Wohnungen. Erst dann ist die Familie nicht mehr „auf der Flucht”, sondern angekommen.
Hoffentlich geht es gerecht zu, so dass die, die es am nötigsten haben, am schnellsten zur Registrierung nach Braunschweig kommen, um dort ihren Asylantrag stellen können. Oder dass die Notaufnahmelager alle zu Erstaufnahmelagern umfunktioniert werden mit dem notwendigen Verwaltungsapparat, um die Registrierung vor Ort vorzunehmen.
Ich sehe mich in dem großen Widerspruch, dass ich eigentlich als Aktivistin Teil einer No-Lager-Bewegung war. Die Lager heißen hier jetzt Camps, um das etwas zu verschleiern oder um die Anspielung auf unsere Vergangenheit zu vermeiden. Die Lager sind zurzeit Maßnahmen, die wahrscheinlich sogar gerechtfertigt sind, damit die geflüchteten Menschen nicht an Bahnhöfen in Zelten schlafen müssen. Ich muss anerkennen, dass es im Moment eine Lösung für große Menschengruppen ist. Gleichzeitig ist es wichtig, immer wieder die Praxis dort zu kritisieren.
Katja Baumgarten: Welche sind Ihre Kritikpunkte?
Katja Tempel: Da wäre beispielsweise die Verweildauer: Wie lange lebt man hier auf dem flachen Land auf sechs Quadratmetern Deutschland? Oder die Mahlzeiten sind für die Geflüchteten kaum essbar, sie entsprechen nicht ihren Ernährungsgewohnheiten. Obst und Säfte müssen sich die Schwangeren selbst beschaffen. Milch und Joghurt werden zwar als Extrabedarf für sie bereitgestellt, aber immer wieder schleichen sich dann noch schlechtere Situationen ein: Wenn zum Beispiel der Caterer nur Milch mit einem Fettgehalt von 1,5 Prozent zur Verfügung stellt und das bei zum Teil unterernährten und ausgezehrten Menschen. Das bringt selbst die Leitung des Camps auf die Palme. So etwas scheint vielleicht von außen gesehen nachrangig, aber für Menschen, die im Lager rundum versorgt werden, bedeutet dies ein Ärgernis, das sehr viel Raum einnimmt. Es fragt sich auch, wie lebt es sich damit, dass die Zimmer nicht abschließbar sind? Dass die Toiletten in manchen Unterkünften nicht abschließbar sind, hat sogar Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig öffentlich kritisiert, weil der Kinder- und Frauenschutz – eigentlich die Menschenrechte – auf diese Weise nicht gewährleistet seien.
Katja Baumgarten: Warum sind manche Toiletten nicht abschließbar?
Katja Tempel: Anscheinend aus Sicherheitsgründen als Prävention gegen sexuellen Missbrauch – man könnte sich dort einschließen und übergriffig werden. Aber so geschieht es doch erst recht. Hier im Landkreis sind alle Toiletten abschließbar. Jedoch auch nicht abschließbare Wohnräume sind für mich inakzeptabel, insbesondere weil es ja auch allein reisende Frauen gibt. Man muss weiterhin eine solche Praxis massiv in Frage stellen. Insofern ist es wichtig, den Betreibern der Unterkünfte gut auf die Finger zu schauen und in ständigem Austausch zu bleiben.
Katja Baumgarten: Gehen eigentlich die Kinder zur Schule?
Katja Tempel: Bei uns in der Gegend schließen alle Dorfschulen, weil wir nicht genug Kinder haben. Es heißt, die Kinder aus der Notunterkunft dürften dort nicht beschult werden, weil sie ja sowieso nicht lange blieben. Gesetzlich ist die Beschulung bei Notaufnahmen nicht vorgesehen. Zusammen mit den geflüchteten Kindern könnten unsere Dorfschulen erhalten werden, das wäre ein Synergieeffekt. Die Kinder aus den Notunterkünften wären beschäftigt, würden Deutsch lernen und hätten Umgang mit anderen Kindern. Und die Integration könnte von unten und mit den Kleinsten beginnen.
Katja Baumgarten: Wie kommunizieren Sie ohne Dolmetscherin, wenn Sie die Sprache nicht beherrschen?
Katja Tempel: Gerade die Hebammen, die Geburten begleiten, sind damit vertraut, sich ohne die verbale Sprache zu verständigen – da läuft ja auch vieles über das Einfühlen, den Blickkontakt. Ich bewundere die Kolleginnen in der Klinik, wie einfühlsam sie die Geburten bei den Frauen betreuen, die kein Wort Deutsch sprechen. Ich erlebe immer wieder, wie begeistert die geflüchteten Frauen aus dem Krankenhaus nach Hause kommen und mir zu verstehen geben, ihre Hebamme sei so toll gewesen. Sie nennen sie immer „Doktor”, weil sie unseren Beruf nicht kennen. Wenn diese Kolleginnen das während der Betreuung der Geburten schaffen, dann schaffen es die Hebammen draußen bei der Schwangerenvorsorge und der Wochenbettbetreuung auch.
Katja Baumgarten: Kennen Sie inzwischen einzelne nützliche Worte?
Katja Tempel: Ich weiß, was „morgen” heißt, weil ich manchmal sage, „Morgen wird es besser.” Die geflüchteten Menschen lernen schneller Deutsch, als ich ihre Sprachen lernen könnte.
Katja Baumgarten: Können Sie hier im Wendland überhaupt Dolmetscherinnen unterschiedlicher Sprachen zu schwierigeren Gesprächen hinzu rufen oder wenn etwas wichtiges Medizinisches zu klären ist?
Katja Tempel: Nein. Das Angebot hochwertiger, professioneller Übersetzung für die Hebammenbetreuung ist in den meisten Regionen realistischerweise nicht zu leisten – vor allem haben wir viel mehr männliche als weibliche Übersetzer. Es gibt aber Menschen, die schon lange hier leben, die mich beispielsweise zu einer Familie begleiten, die nur Kurdisch spricht und uneinig ist, ob sie ihr Kind impfen lassen will.
Ich habe Hemmungen, für etwas, das ich in einer Stunde mit einer Frau bespreche, jemand anderen mit zusätzlicher Fahrzeit fast drei Stunden in seiner Freizeit zu beschäftigen. Außerdem übersetzen die nicht professionell ausgebildeten Übersetzer und Übersetzerinnen zum größten Teil sehr unzureichend. Kürzlich hatte ein Paar in der Notunterkunft beim ersten Kontakt einen Übersetzer mitgebracht, den sie organisiert hatten. Weil sie sehr lange warten mussten, habe ich als erstes gesagt: „Es tut mir leid, dass Sie lange gewartet haben, aber jetzt habe ich Zeit für Sie.” Darauf entgegnete der Übersetzer: „Ja, ist schon okay.” Ich musste ihn erst bitten, auch das zu übersetzen. Immer aufzupassen, ob etwas, was ich sage, wirklich übersetzt wurde, finde ich anstrengender, als mich intensiv direkt auf die Frau einzustellen und ihr auf meine Weise zu signalisieren, was ich sagen möchte, und ihr gut zuzuhören.
Katja Baumgarten: Wenn die unmittelbare Zuwendung auf die Frau direkt gerichtet ist, ist sicher viel an Verständigung möglich.
Katja Tempel: Bei weiblichen Übersetzerinnen habe ich es schon erlebt, wenn ich gefragt habe, ob das Baby geplant war oder ungeplant entstanden ist oder ob dies die erste Schwangerschaft ist, dass es diesen Frauen schon so peinlich war, die junge Mutter das zu fragen – gerade wenn auch noch der Partner daneben saß, dass ich merkte, sie übersetzt es nicht. Sie wurden rot und haben irgendetwas erzählt. Dann versuche ich mich lieber mit Gesten, mit Händen und Füßen auszudrücken. Wenn ich es nicht rauskriege, dann eben nicht. Wir müssen auch bestimmte Gepflogenheiten loslassen, was wir denken, unbedingt für die Anamnese wissen zu müssen. Es ist gut zu wissen, ob die Frau eine Penicillin-Allergie hat. Aber wenn ich das nicht weiß, kann ich damit auch leben, weil ich ihr sowieso kein Penicillin verordnen kann. Das muss dann die Ärztin erheben, die so ein Medikament verordnet.
Ich glaube an den Mut zur Lücke und vertraue darauf, dass alles gut ausgehen wird – wie sonst auch bei Schwangerschaften. Darauf, dass jetzt, wo die geflüchteten Frauen hier hoffentlich in Sicherheit sind, auch alles andere gut für sie ausgehen wird.
Katja Baumgarten: Wie sieht die Verständigung dann praktisch aus, bei konkreten Fragen?
Katja Tempel: Heute bin ich beispielsweise von einer Migrantenfamilie zur nächsten gegangen und habe immer überlegt, welche Sprache brauche ich jetzt? Kann die Familie lesen und kann ich das mit der Sprach-App abdecken? Ich verwende „Google Übersetzer”, eine App, die man kostenlos aus dem Internet herunterladen kann – ich habe sie einmal bei Migranten kennengelernt. Am besten funktioniert sie mit gleichzeitiger Internetverbindung. Sie ist sehr hilfreich und hat viele Sprachen – außer Kurdisch, weil sich im Kurdischen die Schriftsprache von der gesprochenen Sprache unterscheidet. Ansonsten hilft mir diese App zumindest für Farsi, Arabisch und Türkisch. Entweder tippt man das gewünschte Wort ein und erhält die Übersetzung schriftlich auf dem Bildschirm. Oder für Analphabeten kann man die Worte auch hineinsprechen und bekommt dann die Übersetzung per Lautsprecher. Man kann damit auch SMS übersetzen oder fotografierte Dokumente.
Damit funktioniert die Verständigung oftmals sehr gut. Man kann im Übersetzungsprogramm auch zu vorformulierten aufgelisteten Standardfragen immer wieder runterscrollen. Zum Teil ist es dann eine recht eintönige Kommunikation – immer Satz für Satz.
Katja Baumgarten: Mit der Mischung aus technischer Unterstützung und Ihrer unmittelbaren Kommunikation mit Gesten und Mimik können Sie also auch konkrete Fragen stellen und die Antworten verstehen?
Katja Tempel: Ja, wir versuchen zu reden mit Händen und Füßen und wenn es konkret wird, kann ich die App zu Hilfe nehmen. Das Problem ist, dass ich nur einfache Fragen ohne Nebensätze stellen kann, weil sonst die Übersetzung immer fehlerhafter wird.
Katja Baumgarten: Man lernt, sich schlichter auszudrücken?
Katja Tempel: Ja, genau.
Katja Baumgarten: Das Übersetzungsprogramm ist ja dann fast besser als ein schlechter Übersetzer.
Katja Tempel: Manches können die Leute nicht gut ausdrücken, Hämorrhoiden zum Beispiel. Dann ist diese Übersetzung mit einem Programm manchmal sehr hilfreich, aber manchmal auch nicht. Ich betreue eine syrische Flüchtlingsfamilie, deren Baby direkt vor der Geburt gestorben ist. Die Trauerarbeit über eine App zu machen, das war kaum möglich. Bei dieser Frau hatte ich die Schwangerenvorsorge gemacht – zwei Tage vorher war noch alles gut, dann hat sie einen Blasensprung gehabt und ist am nächsten Morgen ins Krankenhaus gefahren. Da waren keine Herztöne mehr da.
Katja Baumgarten: Hat man festgestellt, woran das gelegen hat?
Katja Tempel: Nein. Ich nehme an, das Kind hat auf dem Weg der Flucht zu viel Angst erlebt. Bei dieser Familie habe ich dann sehr wenig gesprochen, da bin ich regelmäßig hingefahren und war einfach nur da. Ich habe ein bisschen geguckt, ob die Frau weinen mag, was manchmal gelungen ist, manchmal aber auch nicht. Die Familie hat zum Glück nicht im Lager gewohnt, aber in einem ganz abgeschieden Dorf, wo sich die Menschen sehr abgeschoben fühlen, weil sie dort nichts mitbekommen und nicht wegkommen.
Katja Baumgarten: Haben Sie einen Einblick, welchen Hintergrund die geflüchteten Familien haben und was sie erlebt haben?
Katja Tempel: Wenig. Bei den Erstkontakten ist meine Eingangsfrage: „Wie lange seid ihr denn gereist, bis ihr hierhergekommen seid?”, um einen Anhaltspunkt zu haben. Einige sagen fünf Tage aus Syrien, eine andere Frau sagte neun Monate, weil sie zwischendurch in der Türkei gelebt hatte.
Bei der Familie, die ich zwei Jahre betreut habe, wurde mir am Anfang aus Angst nicht erzählt, warum sie flüchten mussten – und auch wegen der Sprachbarriere. Kürzlich beim Abschlussgespräch, als wir einen ganzen Tag zusammen im Park verbracht haben, habe ich sie gefragt – auch weil sie in den zwei Jahren viel von mir mitbekommen haben: „Ihr habt noch ein Geheimnis, dass wolltet ihr bisher nicht teilen. Vielleicht ist jetzt der Zeitpunkt, noch einmal etwas zu erzählen.” So habe ich erst jetzt nach zwei Jahren gehört, warum sie aus dem Iran fliehen mussten.
Manchmal dauert es zwei Jahre, bei manchen brauche ich auch gar nicht alles zu wissen. Bei manchen habe ich Protokolle von der Anhörung im Bundesamt für Migration, dem BAMF gelesen, die dann sehr genau oder auch ungenau sind, beispielsweise was Vergewaltigungen betrifft. Ich würde erst einmal gar nicht neugierig sein, sondern wahrnehmen, wie es in dem Moment ist. Das andere wird dann entweder kommen oder auch nicht. Es ist so eine typische Frage: „Warum musstet ihr gehen? Was habt ihr erlebt?”, die auch beim BAMF häufig gestellt wird. Dabei geht es dann um das ganze weitere Leben, je nachdem wie man das darstellt und wie man sich dort in der Situation öffnet. Ich möchte keine falschen Geschichten hören und ich möchte auch nicht in den Verdacht kommen, dass ich in irgendeiner Weise eine Behörde vertrete. Deswegen frage ich eher nach dem Ist-Zustand.
Katja Baumgarten: Wie erfahren die geflüchteten Frauen von ihrem Recht auf Hebammenbetreuung, wenn Sie nicht über die Unterkunft oder Ärztinnen vermittelt werden?
Katja Tempel: Wir Hebammen aus dem Landkreis Lüchow Dannenberg müssen unsere Angebote in den Unterkünften bekannter machen. Vielen Migrantinnen ist nicht klar, was eine Hebamme eigentlich ist.
Seit vergangenem Oktober hatten wir eine Hebammensprechstunde vorbereitet. Sie sollte eigentlich in der Notunterkunft der Johanniter stattfinden. Durch verschiedene Schwierigkeiten konnten wir sie dort nicht etablieren, inzwischen wurde die Einrichtung geschlossen. Wir hatten geplant, eine offene Sprechstunde sowohl für Schwangere als auch für Mütter mit Säuglingen anzubieten – vom Feststellen der Schwangerschaft bis zum Ende des ersten Lebensjahres. Dafür haben sich sieben Kolleginnen regelmäßig getroffen. Auch wenn es mit unserer Hebammensprechstunde nicht geklappt hat, wollen wir unsere Treffen einmal im Monat als Hebammenstammtisch weiterführen und uns zu trauma- und kultursensibler Hebammenbetreuung von geflüchteten Frauen austauschen. Gerade für mich ist es wichtig, kompetente Austauschpartnerinnen zu haben, weil ich so viele Flüchtlingsfamilien begleite. Wir können da gegenseitig voneinander lernen, uns kritisch hinterfragen und uns gegenseitig beraten.
Katja Baumgarten: Was geben Sie Kolleginnen mit auf den Weg, die jetzt in die besonderen Anforderungen der Betreuung „reingeworfen” sind, so wie Sie vor vier Jahren?
Katja Tempel: Einfach einmal neue Maßstäbe anzulegen und mit einem offenen Herzen an die Betreuung ranzugehen, vielleicht auch mit der Einschätzung: Die Frauen können unsere Hebammenbetreuung jetzt noch einmal doppelt so gut gebrauchen wie unsere überversorgten Frauen aus Deutschland. Diese geflüchteten Mütter ganz besonders intensiv zu betreuen und besonders feinfühlig, kultursensibel und traumasensibel, das würde ich mir wünschen. Kultursensibel zu arbeiten bedeutet nicht, dass wir uns gar nichts mehr trauen als Hebamme. Wir sollten nicht allein aus unserem Wissen über Kulturen von vorne herein bestimmte Dinge gar nicht tun – beispielsweise wenn man weiß, dass in einer Kultur die Füße als unrein gelten und dann keine Fußmassage anbieten. Eine Hebamme sollte schauen: Was braucht diese Frau? Man kann einfach behutsam anfangen. Natürlich könnte es Situationen geben, wo einer geflüchteten Frau etwas unangenehm ist. Dann hoffe ich, dass sie das auch irgendwie mitteilen wird und dass wir dafür offene Ohren haben. Es kann uns bei einheimischen Frauen auch passieren, dass wir etwas anbieten, was dann gerade nicht passt, dass wir knapp daneben liegen. Insofern: Fehler gehören dazu, es muss nicht alles perfekt sein – das können wir nicht sein.
Hebammen sollten auch wagen, Konflikte einzugehen. Ich kann nur von mir sprechen: Als Hebamme bin ich nicht so konfliktfreudig, obwohl ich in anderen Zusammenhängen gerne in Konflikte gehe und sie auskämpfe. Ich kann mir vorstellen, dass einige Hebammen immer wieder Konflikte mit Ärzten haben. Vielleicht können wir das nutzen, was es dort an guten Erfahrung gibt, wie man miteinander weiterkommen kann, für Konflikte hier mit Institutionen, um die Situation der geflüchteten Familien zu verbessern.
Katja Baumgarten: Sie haben den Konflikt mit den Betreibern der Notunterkunft in Lüchow im Herbst, wo Sie gegen ein unverständliches Hausverbot angegangen waren, ja sehr sensibel gelöst.
Katja Tempel: Ich hatte ihn ja auch gar nicht gesucht. Ich hab eigentlich nur versucht, auf der Seite der Frauen zu stehen mit dem, was ich für wichtig halte: nämlich einen sicheren Rahmen zu schaffen. Ich habe erreicht, was ich wollte: Ich konnte die Frauen seitdem im Wochenbett am Bett der Frau betreuen. Ich habe aber das Gefühl, ich muss noch weiter in den Konflikt gehen, was die Intimsphäre betrifft. Was zum Beispiel die Abschließbarkeit von Zimmern angeht. Das geht zwar über die Hebammenarbeit hinaus, aber wenn ich davon Kenntnis habe und weiß, das verletzt ein Menschenrecht, dann muss ich eigentlich auch schon einschreiten. Ob das sofort sein muss, sei dahingestellt.
Katja Baumgarten: Da sind Diplomatie und Beharrlichkeit gefragt – wenn nicht das Trennende überhand nehmen, sondern die Verbundenheit mit den Partnern erhalten bleiben soll.
Katja Tempel: Ja, ich halte nichts von einem offenen eskalierenden Konflikt, wo man sich anbrüllt und die Türen knallt, sondern eher davon, um ein Gespräch zu bitten und auch die Ergebnisse zu überprüfen, ob die vereinbarten Ziele umgesetzt werden, eventuell nach zwei Monaten wieder ein Gespräch zu suchen. Dann auch nicht mehr nur über die Geflüchteten zu reden, sondern auch mit ihnen. Ja, es geht mir um ein langsames Verändern.
Katja Baumgarten: Könnten Hebammen Katalysatoren für solche Veränderungen sein?
Katja Tempel: Sie könnten es sein, weil wir als Hebammen besondere Einblicke bekommen und weil einige von uns geschult sind in einer bestimmten Art von ungleichem Konflikt – in asymmetrischen Konflikten mit Ärzten. Das ist vielleicht ein wenig auf Institutionen übertragbar. Manchmal habe ich allerdings das Gefühl, wir Hebammen sind nicht so gut darin, sonst würden wir bei den Verhandlungen mit den Krankenkassen besser dastehen oder überhaupt mit unserem Berufsstand.
Katja Baumgarten: Herzlichen Dank, Katja Tempel, für diesen Einblick in Ihre engagierte Arbeit!
Hinweis: Dieses Gespräch hat Katja Baumgarten mit Katja Tempel Mitte Oktober 2015 geführt. Anfang Februar wurde das Interview mit ihr gemeinsam auf die neuen Entwicklungen hin aktualisiert.