Es schien, als sei es ein normaler Frühdienst im Kreißsaal des Krankenhauses Geesthacht an diesem Morgen des 23. September 2024. Niemand rechnete mit dem, was sich dann binnen weniger Stunden abspielen sollte. Gegen 11 Uhr erfolgte eine Einladung zu einer kurzfristig für den gleichen Tag angesetzten Mitarbeiterversammlung.
Kurz darauf bat die Mitarbeitervertretung mit persönlichen Anrufen auf allen einzelnen Stationen darum, auch Kollegen und Kolleginnen aus dem Frei zur Versammlung zu holen. Ein Gefühl von Unsicherheit und Besorgnis machte sich breit und die Spekulationen begannen. Die Gerüchte um eine drohende Schließung der Klinik brodelten schon länger und die Auswirkungen spürten auch wir im Kreißsaal in Form von abnehmenden Geburtenzahlen und allgemeiner Verunsicherung bei den werdenden Eltern. Und doch waren wir frohen Mutes, nicht zuletzt, weil uns unser amtierender Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) erst vor einem Jahr besucht und sich von uns beeindruckt gezeigt hatte.
Innovativ, beliebt, erfolgreich
Wir begleiten jährlich rund 650 bis 700 Geburten. Eine Standortanalyse hat bestätigt, dass es noch deutlich mehr sein könnten. Unsere Sectiorate im Kreißsaal lag in den letzten Jahren immer bei 10 bis 12 % unter dem bundesweiten Durchschnitt – die Sectiorate in Deutschland 2023 lag bei 34,8 %. Wir sind bereits seit 2012 als babyfreundlich zertifiziert und zahlreiche Rezensionen von Eltern und Umfragen unter freiberuflich arbeitenden Hebammen bescheinigen uns eine Beliebtheit, auf die wir stolz sind. Der dritte Platz beim Deutschen Hebammenpreis 2023 war eine wunderbare Auszeichnung, ebenso wie die Tatsache, dass nun von uns ausgebildete Kolleginnen Hebammen im eigenen Team sind.
Permanent versuchen wir, innovative Ideen zu etablieren, und suchen den Austausch dazu nicht nur im eigenen Team, sondern auch mit den werdenden Eltern und genauso mit den freiberuflich arbeitenden Hebammen. In den vergangenen Jahren haben wir Konzepte entwickelt, um den Standort zu sichern und unsere Geburtenzahlen zu steigern. Außerdem haben wir monatelang darum gekämpft, uns in den sozialen Medien präsentieren zu dürfen. Doch erst jetzt, im Angesicht einer drohenden Schließung, hat das Haus unter seiner momentanen Geschäftsführung endlich einen Account auf Instagram.
Im Regen
Es ist noch nicht lange her, da wurden von unserem Arbeitgeber Regenschirme aus Plastik zum Tag der Pflege an alle Mitarbeiter verteilt. Dazu gab es einen rückblickend lächerlich wirkenden und im Druck vermutlich exorbitant teuren Flyer mit dem Aufdruck: »Wir lassen Sie nicht im Regen stehen.« Doch wie Hohn wirkt es an diesem 23. September, als uns zahlreich erschienenen Beschäftigten der bis dahin eingesetzte Geschäftsführer eröffnete, dass das Haus Insolvenz in Eigenverwaltung angemeldet habe.
Mit wenigen lapidar hingeworfenen Worten wurden wir darüber informiert, dass wir auf drei Viertel unseres Weihnachtsgeldes verzichten müssten und die Kündigungsfristen auch der Mitarbeiter:innen mit langer Betriebszugehörigkeit auf drei Monate eingeschrumpft seien. Aber selbstverständlich werde man alles daran setzen, die Klink zu retten … Eine Entscheidung hierzu sei zum Ende des Jahres zu erwarten. Stille, Schockstarre, keine Buhrufe, keine fliegenden Eier, ein bis zwei Fragen aus den Reihen der Kollegen und Kolleginnen.
Die Stimmung in den Stunden und Tagen danach lässt sich nur mit einer bleiernen Stille beschreiben, als würde man darauf warten, aus einem Albtraum wieder aufzuwachen. Inzwischen sind sieben lange Wochen vergangen und wir alle hängen in der Luft.
Im Team wird sehr unterschiedlich mit dem drohenden Arbeitsplatzverlust umgegangen. Manche versuchen, optimistisch zu bleiben und Hoffnung zu verbreiten. Einige versuchen sich in Aktionismus und andere sinnieren über alternative Pläne. Es herrscht allgemeine Angespanntheit und die ungeklärte Situation macht ganz viel mit jeder einzelnen von uns.
Niemand weiß, wie es weiter geht. Man hangelt sich von wenig Information zu reichlich Spekulation. Am schlimmsten ist jedoch die Vorstellung, gegebenenfalls mit lieb gewonnen Kolleginnen um wenige freie Stellen in anderen Klinken zu schachern, denn die meisten von uns sind ortsgebunden und auf eine Anstellung angewiesen. Stirbt das gesamte Klinikum? Sterben nur unrentable Abteilungen, zu denen ein Kreißsaal immer gehören dürfte? Oder gibt es ein Weihnachtsmärchen und wir alle überleben?
Eine Versorgungslücke klafft
Eine Schließung unseres Kreißsaals würde nicht nur eine Beschränkung in der Wahlfreiheit des Geburtsortes, sondern auch eine enorme Versorgungslücke für viele werdende Eltern bedeuten, die dann deutlich weitere Fahrtwege in andere Kliniken in Kauf nehmen müssten. Nicht auszudenken, was dies vor allem in Notsituationen bedeutet. So hätte beispielsweise das Kind einer Frau, die letztes Jahr mit unbekannter Gravidität und Fuß- beziehungsweise Beinvorfall zu uns gebracht wurde, nicht überlebt. Oder die Frau, die mit vorzeitiger Placentalösung in der Tür stand und deren Überleben und das ihres Kindes nur einer sofortigen Notsectio zu verdanken ist. Diese Frau hätte nicht mehr die Zeit für einen 20-minütigen Transport in das nächstgelegene Klinikum gehabt.
Ohne den Kolleginnen und Kollegen im Rettungswesen zu nahe treten zu wollen, aber im Fachbereich Geburtshilfe sind sie völlig unzureichend ausgebildet, von den fehlenden technischen Möglichkeiten ganz zu schweigen. Und bisher waren in ihren Praktika bei uns immer ausnahmslos alle dankbar, wenn wir ihnen ein paar außerhalb einer Klinik anwendbare Tipps gegeben oder ihnen im Falle einer überstürzten Geburt angeboten haben, uns gegebenenfalls für eine telefonische Begleitung anzurufen. Besorgniserregende Zeiten stehen werdenden Eltern durch das massive Kreißsaalsterben bevor und wir sind schockiert, dass es scheinbar niemand sehen will.
Aber kann es einen neuen Träger geben, dem Geburtshilfe und Frauengesundheit allgemein wichtig genug sind? Ein Träger, der das nötige Geld mitbringt, nicht nur das Klinikum, sondern auch uns im Kreißsaal zu retten und mit uns all unsere innovativen Ideen umzusetzen, die unter dem alten Träger geblockt wurden? Im Moment, bei aller Angst und Zerrissenheit, weinen wir gemeinsam, kämpfen wir gemeinsam und überlegen gemeinsam, was wir jetzt tun und wen wir mobilisieren können.
Wo bleibt der Aufschrei?
In den ersten Wochen nach der Bekanntgabe der Insolvenz war ich überrascht, wie wenig Aufschrei durch die Bevölkerung ging. Als wäre es schon ein Stück Normalität, dass nun die nächste Klinik stirbt. Ein Kreißsaal mehr, der nicht überlebt. Ist das gewünscht? Politisch mit Sicherheit. Das Angebot, unser Team an einem anderen Standort als Belegteam zu übernehmen und einen nächsten Schritt in Richtung Zentralisierung zu gehen, ließ keine 24 Stunden nach der Mitarbeiterversammlung auf sich warten.
Wo ist jetzt bitte die Lobby, die wir Hebammen so dringend brauchen? Wo sind die Kolleginnen und Kollegen, der Verband und all die Eltern und die es noch werden wollen? Sind diese Megakreißsäle im Zuge der Zentralisierung wirklich gewollt? Ist es gewollt, dass auf den langen Anfahrtswegen künftig mehr Kinder am Fahrbahnrand unassistiert oder im Rettungswagen mit mangelhaft ausgebildetem Personal zur Welt kommen?
Wir wollen in keiner Fabrik mit 4.000 Geburten und mehr arbeiten. Wir wollen auch die langen Arbeitswege nicht. Wir wollen keine unpersönliche Geburtshilfe, in der es mehr um Effizienz geht als um empathische Begleitung, wie an den meisten Perinatalzentren höchster Versorgungsstufe jetzt schon. Viele von uns haben so schon in jüngeren Jahren gearbeitet und sich im Laufe ihres Berufslebens dagegen und bewusst für unsere deutlich kleinere Geburtsklinik entschieden. Andererseits hat uns unsere physiologische, zugewandte und interventionsarme Geburtshilfe mit der niedrigen Sectioquote offenbar nicht gerettet. Und so ist’s nicht verwunderlich, dass bereits drei meiner Kolleginnen angekündigt haben, der Geburtshilfe vollständig den Rücken zu kehren, wenn wir tatsächlich schließen müssen.
Was nützt uns nun unser Hebammenpreis, was nützt uns unsere Beliebtheit, was so innovative Ideen wie der Geesthachter Geburtszirkel, der evidenzbasiert und inzwischen wissenschaftlich begleitet die Physiologie einer Geburt fördert, und was unsere niedrige Sectiorate? Das Geschmäckle ist bitter: Hätten wir mal mehr operiert, vielleicht wäre die Schieflage dann ein klein wenig weniger schief. Aber ist es das, wo Geburtshilfe hinwill? Ist es das, was Frau will? Wir sind erschüttert, traurig und kraftlos … aber wir hoffen auch! Inzwischen ist die Frauenklinik als die Abteilung, deren Überleben am schwierigsten zu sichern sein wird, mehr in den medialen und politischen Fokus gerückt. Eine von einer Studierenden gestartete Petition für den Erhalt der Klinik, aber vor allem auch für den Erhalt der Geburtshilfe, hatte nach zwei Wochen bereits 7.500 Unterschriften. Von uns vorgelegte Konzepte zur langfristigen Standortsicherung wurden im Zuge einer 360-Grad-Analyse aller Abteilungen geprüft. Und auf einer weiteren Mitarbeiterversammlung Anfang November wurde durch die derzeitige Geschäftsführung zumindest zugesichert, dass man in Verhandlungen mit möglichen neuen Klinikträgern alles daran setzen werde, auch die Geburtshilfe zu erhalten. Die Ungewissheit bleibt jedoch auch in den kommenden Wochen noch unser aller Begleiter … Bis Weihnachten – so die aktuelle Pressemeldung – soll die Entscheidung stehen. Weihnachten: Geburt oder Beerdigung, das wird sich zeigen.