Frank Louwen: „Da es sich bei der Beckenendlage um eine Variation der Normalität handelt, muss ich bei einem Spontanpartus nicht aufklären wie über eine Operation. Dafür gibt es keine Grundlage.“ Foto: © privat

Im zweiten Teil des Interviews mit dem Leiter der Geburtshilfe und Pränatalmedizin an der Universitätsklinik Frankfurt geht es um das geburtshilfliche Handwerk bei der Entwicklung einer Beckenendlagengeburt. Als eine Variation der Normalität sieht sie Frank Louwen und nach den Erfahrungen in seinem Team bedeute die Steißlagengeburt keine Risikoerhöhung im Vergleich zur Schädellagengeburt.

Katja Baumgarten: Beherrschen alle in Ihrem Team das geburtshilfliche Handwerk bei Steißlage?

Frank Louwen: Die Hälfte aller Hebammen kann das, weil sie es schon so häufig gemacht hat. Selbst die jüngsten haben schon 20 bis 30 Steißlagengeburten erlebt.

Katja Baumgarten: Also selbst entwickelt?

Frank Louwen: Wenn die Geburt spontan stattfindet, macht ja keiner von uns etwas. Wir sitzen alle dabei und freuen uns über dieses Kind.

Katja Baumgarten: Das Kind wird auch nicht aufgefangen?

Frank Louwen: Wir fangen die Kinder nicht auf. Sie kommen einfach auf die Welt. Die Hebamme nimmt das Kind natürlich gerne entgegen. Außer mir gibt es noch fünf Oberärztinnen und Oberärzte, die auch die vaginale Steißlagengeburt beherrschen. Einer von uns ist immer dabei, im Hintergrund. Aber bei uns im Team können alle eine Steißlagengeburt betreuen – die Assistentinnen und Assistenten und die Hebammen. So muss das auch sein. Das ist ja kein Privatwissen, wir reden über eine Variation der Normalität.

Katja Baumgarten: Wie hoch ist die Sectiorate in Ihrer Abteilung?

Frank Louwen: Wir liegen mit 30 Prozent etwa im hessischen Durchschnitt. Aber wir sind das Pränatalzentrum mit den meisten Frühgeborenen, den meisten Kindern mit Fehlbildungen, dem größten Anteil an Mehrlingsgeburten, mit schwer kranken Frauen – das ist ja unser Job hier an der Universitätsklinik Frankfurt. Wir stehen mit unseren 30 Prozent ganz gut da. Ich habe keinen Ehrgeiz, die Rate weiter zu senken. Für uns zählt, dass nicht die Beckenendlage, Zwillinge oder ein Status nach Sectio per se eine Sectioindikation sind. Bei Geburten am Termin aus Schädellage – gesunde Frau, gesundes Kind – da zählt natürlich, dass man eine gute Geburtshilfe machen muss, damit die Sectioraten nicht steigen.

Katja Baumgarten: Wie vermitteln Sie im Team diese gute Geburtshilfe weiter? Ich höre manchmal, dass junge Ärztinnen und Ärzte die Beckenendlagengeburtshilfe nicht unbedingt lernen möchten.

Frank Louwen: Das Interesse daran ist bei uns extrem. Wir hatten 2015 bis Anfang August schon 75 vaginal zu Ende gebrachte Beckenendlagengeburten, Einlinge am Termin. Es werden in diesem Jahr wieder 120 bis 130 Geburten aus Beckenendlage werden. Wir haben auch regelmäßige Schulungen: Jeden Monat gibt es eine klinische Weiterbildung. Zum Beispiel wird das Vorgehen bei einer Schulterdystokie oder bei Beckenendlage einmal im halben Jahr geübt – von allen, Hebammen und Ärzten. Halbjährlich wird die vaginaloperative Geburtshilfe zum Thema gemacht, und auch unsere Standardarbeitsanweisung zur Sectio wird im selben Turnus durchgearbeitet.

Katja Baumgarten: Sie machen auch viele Weiterbildungen für andere Klinikteams. Nimmt das Interesse an der vaginalen Beckenendlagengeburt wieder zu? Das praktische Wissen war ja fast ausgestorben.

Frank Louwen: Ja, das Interesse ist riesig. Als wir vor fünf Jahren begonnen haben, Weiterbildungen überall in Deutschland anzubieten, gab es nur noch fünf Kliniken mit jeweils mehr als 20 vaginalen Steißlagengeburten im Jahr – manche davon hatten allerdings mehr als 100. Heute sind es über 20 Kliniken, wo mehr als 20 Kinder vaginal aus Steißlage geboren werden.

Katja Baumgarten: 20 von 754 Kliniken mit Geburtshilfe?

Frank Louwen: Ja. Wir waren in der Situation, dass fast niemand mehr vaginale Beckenendlagengeburten begleitet hat. Insofern bin ich optimistisch: Überall beginnen jetzt Kolleginnen und Kollegen damit. Es gibt ein paar wichtige Merksprüche: „Ziehe nie am Kind!” und „Kinder aus Steißlage werden nicht herausgezogen, sondern herausgeschoben.” Auch wenn bei einer vollkommenen Steißfußlage die Beine geboren sind, zieht man nicht daran. Immer wenn man zu Extraktionsmaßnahmen greift, erhöht man die Komplikationsrate und die Morbidität. Ein anderer wichtiger Merksatz heißt: „Versuche immer, dass ein Kind in aufrechter Gebärhaltung zur Welt kommt, weil dadurch die Wahrscheinlichkeit für zusätzliche Handgriffe drastisch vermindert wird.”

Katja Baumgarten: Was empfehlen Sie AnfängerInnen, die sich schon durch Weiterbildungen und Hospitationen mit der Steißlagengeburt vertraut gemacht haben und nun auch praktisch einsteigen wollen?

Frank Louwen: Beginne erst mit der reinen Steißlage. Sie hat die höchste Wahrscheinlichkeit, dass man nichts Zusätzliches unternehmen muss. Dadurch lernt man wieder, wie die Eröffnungs- und Austreibungsperiode bei der Beckenendlage funktioniert und wie ein Kind durch den Gebärkanal hindurchgeht. Haltungsanomalien wie die unvollkommene oder die vollkommene Steißfußlage bergen höhere Komplikationsraten. Habe niemals falschen Ehrgeiz, nur das Ergebnis einer gesunden Mutter mit einem gesunden Kind zählt.

Katja Baumgarten: Wie gehen Sie beispielsweise dann bei der Steißfußlage vor?

Frank Louwen: Bei uns gibt es keinen Unterschied zwischen vollkommener und unvollkommener Steißfußlage.

Katja Baumgarten: Für manche Geburtshelfer gelten Fußlagen als Ausschlusskriterium.

Frank Louwen: Zunächst einmal: Ohne dass eine Frau unter der Geburt ist, gibt es bei uns keine Unterscheidung zwischen Fußlage und Steißfußlage. Wenn die Fruchtblase zu Beginn der Geburt steht und noch nicht klar ist, ob es eine Fußlage oder eine vollkommene Steißfußlage wird, kann man in Ruhe abwarten. Wenn die Frau allerdings mitten in der Eröffnungsperiode ist, die Fruchtblase springt und das Kind sich dann in reiner Fußlage befindet, ist es sinnlos, weiter zu warten. Dann wird diese Geburt nicht vaginal stattfinden. Dies ist eine Indikation zur sekundären Sectio – aber in großer Ruhe. Es ist ja keine Notsituation eingetreten.

Katja Baumgarten: Hatten Sie schon einmal juristische Schwierigkeiten im Zusammenhang mit einer Beckenendlage? Sind Sie nicht besorgt, dass Sie sich angreifbar machen, wenn Sie einen anderen Weg gehen als die Mehrzahl der deutschen Kliniken?

Frank Louwen: Wir hatten bislang keine juristischen Probleme bei Beckenendlagengeburten.

Katja Baumgarten: Was tun Sie zu Ihrer forensischen Absicherung?

Frank Louwen: Da es sich bei der Beckenendlage um eine Variation der Normalität handelt, muss ich bei einem Spontanpartus nicht aufklären wie über eine Operation. Dafür gibt es keine Grundlage. Frauen, die ihr Kind aus Steißlage zur Welt bringen möchten, stellen sich bei uns in der Regel zum ersten Mal in der 36. Schwangerschaftswoche vor. Dann werden sie ausführlich aufgeklärt. Ihnen wird auch gesagt, dass nach unseren Erfahrungen die Steißlagengeburt keine Risikoerhöhung im Vergleich zur Schädellagengeburt bedeutet. Wir erklären, worauf man achten muss, wie die Geburt verläuft. Die Frauen werden gebeten, zwei Wochen später wiederzukommen, um noch offene Fragen zu klären. Das hat nicht so sehr forensische Gründe. Die Frauen werden heutzutage natürlich auch gewaltig unter Druck gesetzt. Viele Sorgen und Ängste werden induziert, wenn sich die Kinder in Steißlage befinden. Wir möchten die Frauen ergebnisoffen aufklären und ihnen die Möglichkeit geben, ihren eigenen Weg zu finden. Wenn eine Frau sich anschließend für eine Sectio entscheidet, bekommt sie einen Termin ab dem voraussichtlichen Entbindungstermin, frühestens in der 40. Schwangerschaftswoche.

Katja Baumgarten: Egal, wie schwer das Kind ist – wenn es beispielsweise sehr groß ist?

Frank Louwen: Wenn die Frau keine diabetogene Stoffwechsellage hat und ansonsten gesund ist, spricht nichts dagegen, bis zur 40. Woche zu warten. Die Sectio machen wir in der Regel am Termin und im Idealfall wenn Wehen einsetzen oder nach einem Blasensprung – das heißt, wenn Mutter und Kind von selbst unter die Geburt gehen. So ist bei uns der Standard für eine Sectio, die eine Patientin wünscht.

Katja Baumgarten: Sie machen dann einen Kaiserschnitt auch nachts um drei?

Frank Louwen: Ja, das ist unabhängig von der Tageszeit und vom Wochentag. Wenn eine Frau dagegen vaginal gebären möchte, dann wird ihr angeboten, in der 38. Schwangerschaftswoche eine äußere Wendung zu machen. Wenn sie das nicht möchte, ist es auch gut.

Katja Baumgarten: Sehen Sie geburtshilfliche Vorteile für die äußere Wendung gegenüber der vaginalen Beckenendlagengeburt?

Frank Louwen: Manche Frauen möchten ihr Kind lieber aus Schädellage gebären. 70 Prozent der Frauen wollen eine Wendung und 30 Prozent wollen keine. Wenn die Kinder nicht zu wenden sind – das betrifft etwa die Hälfte – möchte wiederum die Hälfte eine Sectio, die andere will das Kind vaginal zur Welt bringen. Wir bitten die Frauen, dass sie sich am Termin wieder bei uns vorstellen. Dann schreiben wir ein CTG und besprechen, wie es weitergeht. Aber wir haben keinen Grund, ab dem Termin eine Geburtseinleitung zu machen. Es ist das gleiche Verfahren wie bei Schädellage.

Katja Baumgarten: Wie lange warten Sie nach dem Termin?

Frank Louwen: Wir warten zehn Tage. Dann fragen wir die Frauen, ob sie eine Geburtseinleitung möchten.

Katja Baumgarten: Bieten Sie eine PDA an?

Frank Louwen: Ja, genau wie bei einer Schädellage: Wenn die Frau eine PDA wünscht, erhält sie eine – sie ist nicht obligat.

Katja Baumgarten: Wie gehen Sie bei wachstumsretardierten Kindern vor?

Frank Louwen: Wenn Sie einen pathologischen Doppler haben und gleichzeitig ein Oligohydramnion oder eine dysproportionale Wachstumsretardierung, dann wird eine vaginale Geburt nicht möglich sein. Diese Kinder haben alle ein pathologisches CTG unter der Geburt. Dysproportionale Wachstumsretardierung, pathologischer Doppler, pathologisches CTG und diabetogene Stoffwechsellage sind Ausschlusskriterien.

Katja Baumgarten: Gibt es in Ihrer Fachgesellschaft, der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe, Konzepte, um das praktische Wissen zur Steißlagengeburt nachhaltig weiterzugegeben?

Frank Louwen: Alle beteiligten Fachgesellschaften schreiben zurzeit gemeinsam an zwei S3-Leitlinien, darunter auch die Deutsche Gesellschaft für Hebammenwissenschaften. Die eine Leitlinie behandelt die vaginale Geburt am Termin, die andere die Sectio. Dies ist ein guter Start, um zu beschreiben, was wissenschaftlich tatsächlich bewiesen ist und was nicht – welche Interventionen nach unserem heutigen Wissensstand sinnvoll sind, welche nicht. Die Leitlinien sind der beste Weg, um das aktuelle Wissen überallhin zu transportieren – zu allen Hebammen, Ärztinnen und Ärzten, aber auch zu den Frauen. Deswegen bin ich überzeugt, dass dies die richtige Richtung ist.

Katja Baumgarten: Herzlichen Dank für das ermutigende Gespräch!

Zitiervorlage
Baumgarten K: Interview mit Frank Louwen, Teil 2: “Ziehe nie am Kind!”. DEUTSCHE HEBAMMEN ZEITSCHRIFT 2016. 68 (1): 66–67 
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