Katja Baumgarten: Die S3-Leitlinie »Vaginale Geburt am Termin« liegt seit mehr als dreieinhalb Jahren vor. Wie wurde sie angenommen?
Michael Abou-Dakn: Nachdem die Leitlinie bereits von allen Fachgesellschaften verabschiedet worden war, gab es trotzdem noch Vorbehalte – zumeist bei den Ärzt:innen. Einzelne Punkte wurden herausgegriffen und vereinfacht, es wurde mit bestimmten Punkten provoziert. So mussten wir in den fünf Jahren der Entstehungszeit und in den ersten Jahren, nachdem die Leitlinie veröffentlicht worden war, immer wieder erneut beweisen, dass die Leitlinie die gefundenen Evidenzen widerspiegelt. Also schwieriger Anfang, sehr schwieriger Start auch nach der Veröffentlichung – wir beide sind auch persönlich angegriffen worden.
Rainhild Schäfers: Es gibt die Extrempositionen: Die einen sagen, die Leitlinie kommt mir nicht ins Haus. Und die anderen haben sich mit ihrem Erscheinen gleich daran gehalten und haben zu einzelnen Bereichen direkt eine Verfahrensanweisung erstellt, beispielsweise zum Vorgehen bei Blasensprung. Zu Irritationen hat geführt, dass oft nur die Empfehlungen selbst gelesen werden, dass nur selektiv gelesen wird und nicht der Text dazwischen, nicht die Langversion, in der viel erklärt wird. Stichwort CTG: In der Leitlinie steht nicht, dass man auf das CTG gänzlich verzichten soll, sondern nur unter bestimmten Bedingungen auf das Aufnahme-CTG und auf das CTG in der ersten Phase der Geburt.
Michael Abou-Dakn: Am Anfang der Diskussion, als die Leitlinie in die Welt hinausgetragen wurde, habe ich schnell gemerkt, dass wir ein großes Ziel erreicht haben. Wir haben allerdings nicht geschafft, eine Klärung zu bringen, die nicht zu weiteren Diskussionen beiträgt. Wir wollten mit der Leitlinie den aktuellen Stand des Wissens darstellen – die normale Geburt bei einer gesunden Frau, einem gesunden Kind nach unauffälliger Schwangerschaft am Termin: Wie sollte da die Geburtshilfe aussehen? Auf die normale Geburt bezogen – sowohl in der Klinik wie auch außerhalb der Klinik. Das war unser Ziel.
Die Idee einer Leitlinie ist eben nicht, so wie das hinterher dargestellt wurde, eine Art Richtlinie, woran sich jetzt alle halten müssen. Leitlinie heißt ja nur, dass sich Fachexpert:innen aufgrund der wissenschaftlichen Evidenzen einigen: Was ist momentan der Mindeststandard, also Minimalkonsens? Wobei heutzutage zwischen der internen und externen Evidenz sowie der Patientinnen-Präferenz entschieden wird. Diese Diskussion und die zum Teil schwierige wissenschaftliche Auslegung der Daten – dieser Dispute, das war stellenweise irritierend und hat mich auch gelegentlich gekränkt. Trotzdem war es immer gut, dass überhaupt über die Leitlinie diskutiert wurde. Sie waren ja auch in Berlin beim DGPM-Kongress dabei, als ich bei der Podiumsdiskussion zur S3-Leitlinie zum Teil eben sehr persönlich angegriffen wurde …
Die Diskussion dort war emotional und polemisch – ich fragte mich damals, soll das ein wissenschaftlicher Diskurs sein?
Michael Abou-Dakn: Ich war aber begeistert, wie voll der Saal war, wie interessiert und engagiert alle waren und dass wir Vertreter:innen von Universitäten dazu bringen, dass sie etwas dazu beitragen wollen, die physiologische Geburt besser zu verstehen und zu fördern, dass sie Forschungsergebnisse anzweifeln und sich fragen, was ist physiologisch und was nicht? Also diese Grundsatzdiskussion, dass Ärzt:innen überhaupt anfangen, sich um dieses Thema zu kümmern. Dass die Evidenz der Leitlinie angezweifelt wird, ist nicht nachvollziehbar. Die Forschungsergebnisse, die es zu diesen Themen gibt, kommen aus der weltweiten Hebammenforschung und seltener von Ärzt:innen, weil sich die um die »Kolibris« kümmern und weil sie hinter jeder Thematik einen gesundheitlichen Schaden vermuten für Mutter, Kind, vielleicht auch für den Vater. Selbst die härtesten Kritiker fangen jetzt an, sich mehr mit der »physiologischen Geburt« zu beschäftigen. Die Auslegung in der Geburtshilfe wird immer ein heißes Thema bleiben.
Das Diskussionsniveau war enttäuschend. Mir fehlte ein fundierter, sachlich kritischer Diskurs zu den verbesserungswürdigen oder ergänzungsbedürftigen Punkten, und ich war erschrocken, wie die Fachwelt dort miteinander umgegangen ist.
Rainhild Schäfers: Das irritiert mich auch. Das Ziel dieser Leitlinie ist eindeutig formuliert: Man möchte durch die Zusammenstellung der bestverfügbaren Evidenzen eine Orientierungshilfe bieten. Wenn dann nur gesagt wird, diese Empfehlung sei Quatsch, ohne einen wissenschaftlichen Diskurs anzuregen – man könnte ja dieselbe Studie nehmen, die wir zugrunde gelegt haben, und eine andere Lesart haben … Ich erwarte, dass man sich wissenschaftlich damit auseinandersetzt, anstatt einfach nur zu sagen, »Die Leitlinie muss weg!« – will man mit so eine Forderung verhindern, dass sich ein interdisziplinäres Team bemüht, die bestverfügbaren Evidenzen für die Geburtshilfe zusammenzustellen?
Sie meinen das Statement von Rechtsanwalt Roland Uphoff in seinem Vortrag zur Leitlinie?
Michael Abou-Dakn: Ja, genau. Bei der Erschaffung der Leitlinie war uns klar, es wird interessant, wie die Jurist:innen auf einzelne Punkte reagieren. Denn durch die Evidenzen zeigen wir, dass ihre Grundlage, mit der sie Geburtshelfer:innen verklagen, gelegentlich nicht richtig ist, dass ihre Auslegung fragwürdig und gelegentlich falsch ist. Ich wundere mich, dass sie jetzt auch noch sagen, wir hätten hier ein juristisches Problem, weil wir unter dem fachlichen Standard arbeiten würden! Nein. Was die Medizinrechtler:innen uns vorwerfen, hat oft wenig Substanz. Es gibt große Beispiele von namhaften Experten – und in dem Fall in der männlichen Form – die gesagt haben: »Ich entschuldige mich als Gutachter, ich habe über Jahrzehnte falsche Annahmen vertreten.«
Wie beispielsweise der verstorbene Geburtshelfer Fritz K. Beller, der Professor an der Uni Münster war und der seine scharfen Gutachten zur Schädigung des Kindes durch Hypoxie bei der Geburt später revidiert hat.
Michael Abou-Dakn: Ja, genau, später war er in den USA tätig. Unter juristischen Aspekten wäre vielleicht zu befürchten, dass bei einer Frau mit einer Nicht-Risikoschwangerschaft im Aufnahme-CTG nicht Gefahren aufgezeigt, sondern Pathologien nur scheinbar dargestellt werden. Wenn es dadurch zu einer Sectio käme und dabei eine Katastrophe passieren würde, dann könnte die Frau – gemäß dieser Leitlinie – fragen: Was war die Indikation, ein CTG zu schreiben? Ihnen hätte bewusst sein müssen, dass es meinem Kind gut geht, warum haben Sie die Sectio überhaupt gemacht? In so einem Fall hätten wir eine Klage, der die Leitlinie die Argumente liefert. Ich kenne solche Fälle jedoch nicht.
Juristische Probleme, mit denen immer gedroht wird, entstehen durch entsprechende Klagen. Klagen, die damit zu tun haben könnten, dass die Leitlinie nicht beachtet wurde, liegen für mich weit in der Zukunft. Klägerin wird die aufgeklärte Frau sein, die erlebt, dass Interventionen zu Nachteilen führen.
Rainhild Schäfers: Die Richter:innen richten sich dann nicht unbedingt nach der Leitlinie, sondern nach den Sachverständigen. Da kommt es darauf an, wie diese die Leitlinie interpretieren. Zitieren sie korrekt? Haben sie eine andere Sichtweise? Ziehen sie noch andere Studien heran? Eine Leitlinie, auf die man sich beziehen kann, ist auch für Sachverständige hilfreich.
Michael Abou-Dakn: Sehr! Und zwar gerade zur Abwehr der Juristen. Die scheinbare Sicherheit, die beispielsweise Rechtsanwalt Roland Uphoff häufig formuliert, gründet sich auf Gutachten, die in ihrer Qualität oft fragwürdig sind. Seine juristischen Klagen sind ja immer gegen uns gerichtet, ob Hebammen oder ärztliche Geburtshelfer:innen – er vertritt nicht Kliniken, sondern die betroffene Klientel – und das ist auch gut so.
Eine weitere S3-Leitlinie »Fetale Überwachung in der Schwangerschaft«, die im Februar letzten Jahres erschien, betrifft genau den Hauptpunkt, wo wir am stärksten angegriffen wurden, nämlich die Evidenz des CTGs. Auch in dieser wird bestätigt, dass es im Nicht-Risikokollektiv keinen Vorteil hat, aber häufig Intervention provoziert. Auch da gibt es Diskussionen, die Leitlinie wurde aber nicht so stark zur Kenntnis genommen. Weil man dort nicht vermutet, es seien die Hebammen, die das CTG abgelehnt haben könnten, wurde anerkannt, okay, so ist die Evidenz. Dadurch wird um diese Leitlinie nicht so gekämpft, obwohl sie die gleiche Evidenzbasis hat und zum Teil dieselben Studien zitiert wie unsere gemeinsame Leitlinie.
Bei allen Verletzungen, die die Auseinandersetzung auch gebracht hat, und dass das Projekt auch beruflich nicht förderlich war …
… das Projekt war nicht förderlich?
Michael Abou-Dakn: Für mich ist das unerheblich, ich brauche das nicht mehr. Aber natürlich, wenn man innerhalb der Fachgesellschaft einen gewissen Stellenwert haben möchte, ist eine Leitlinie, die so heftig diskutiert wurde, nichts, wo die Kolleg:innen positiv auf einen zukommen, sondern sie wirkt eher provokativ.
Das überrascht mich. Selbst wenn die Leitlinie kontrovers diskutiert wird, ist sie doch ein Meilenstein und hat wichtige Grundlagen geschaffen.
Michael Abou-Dakn: Ich habe lange mit einer Band Pop- und Rockmusik gemacht. Wir haben damals gesagt, egal was geschrieben wird, Hauptsache, wir werden erwähnt. Über diese Phase bin ich hinaus. Ich bin am Ende meines Berufslebens, habe viel erreicht und brauche nicht mehr einen Bekanntheitsgrad durch eine Provokation. Und es war ja auch nicht als Provokation gemeint.
Diese Leitlinie ist eine der wenigen, die ungewöhnlich aufmerksam beachtet wurde. Es gibt kaum Frauenärzt:innen oder Hebammen, die nicht von ihr wüssten. Damit haben wir mehr erreicht als mit vielen anderen Leitlinien, die gut gemacht sind, wo alle begeistert sind, sich aber niemand dran hält oder sie kennt. Was Rainhild Schäfers zur Akzeptanz gesagt hat, habe ich ebenso erlebt: Es gab ein paar – meist universitäre – Strukturen, wo gesagt wurde, »alles Schrott«, wir verbieten quasi, dass die Leitlinie umgesetzt wird. In viele Strukturen – auch Perinatalzentren, also hohes Niveau – wurde die Leitlinie zum Anlass genommen, um im Team zu sichten, was wollen wir davon übernehmen? Wo Kolleg:innen gesagt haben, es gibt Punkte, die sind genial. Von beiden Seiten – von Ärzt:innen und Hebammen – wird hier die Definition der Geburtszeiten häufig genannt, erstmalig ist das so gelungen. Bei der Austrittsphase hätten wir sie noch etwas besser beschreiben können. In der Eröffnungsphase haben wir sogar einen Algorithmus publiziert, der häufig angenommen wird. Das wurde sehr positiv bewertet. Natürlich traut sich auch niemand, etwas gegen die partizipative Entscheidungsfindung zu sagen. Diese Themen sind gut gelaufen.
Bei der erwähnten Diskussion in Berlin hatte der Leiter der Salzburger Uniklinik Thorsten Fischer beanstandet, dass an der Leitlinie auch andere Organisationen als ärztliche Fachgesellschaften mitgewirkt haben.
Rainhild Schäfers: Es ist ein Kompliment, wenn gesagt wird, das ist eine Hebammen-Leitlinie. Speziell in Österreich wird das so kolportiert, deshalb müsse man sie nicht ernst nehmen. Beim Verhältnis der Stimmen waren zwölf von ärztlichen Fachgesellschaften oder Berufsverbänden und fünf von Hebammenorganisationen. Hebammen-Leitlinie wird sie vielleicht genannt, weil erstmalig Worte drinstehen wie »frauzentriert« oder dass man die Frau auch fragen muss.
Eine Elternorganisation wie Mother Hood e.V. zu beteiligen, ist doch zeitgemäß.
Rainhild Schäfers: So ist nun mal auch die Methodik einer S3-Leitlinie: Wir müssen diejenigen beteiligen, die in die Betreuung involviert sind, einschließlich der Nutzerinnen.
Michael Abou-Dakn: Diese Leitlinie wurde nach AWMF-Regeln verfasst. Von manchen älteren Kolleg:innen ist vielleicht immer noch nicht verstanden worden, dass die Betroffenen-Organisationen bei S3-Leitlinien befragt werden müssen. Darüber kann man streiten, aber mir fällt auch keine Alternative ein. Mother Hood wurde durch unsere Initiative eingeladen. Es gibt keine andere Patientenorganisation aus diesem Bereich. Von Mother Hood werden Eltern angesprochen, die Zorn haben. Sie haben beispielsweise die Aktionen zum »Roses Revolution Day« initiiert. Sie vertreten nicht die breite Masse der Mütter, die sich im deutschen Gesundheitssystem gut aufgehoben fühlen, die Qualität in vielen Bereichen sehen. Diese Qualität hat Mother Hood natürlich geschärft, die gesamte Geburtshilfe verändert sich gerade. Schon oft wurde durch Laienorganisationen letztlich etwas verändert. Meine erste Erfahrung dazu war das Stillen. Die Initiator:innen der »Babyfriendly Hospitals« waren Lai:innen, die dann als Zertifizierer:innen in die Häuser gegangen sind. Das hat damals entsprechend Wirkung gezeigt.
Man kann gerne angreifen, dass über Mother Hood auch Nicht-Mediziner:innen mitgearbeitet haben. Von allen, die an der Leitlinie mitgearbeitet und Kapitel erstellt haben, war es der Beitrag der Vertreterin von Mother Hood, Katharina Hartmann, der mit am besten wissenschaftlich hinterlegt war, der mit am sachlichsten war. Sie hat die Erstellung des Kapitels »Beratung« auf eine nüchterne Art und Weise geleitet und von ihr kamen keinerlei Einwände, die unseriös waren. Das kenne ich auch aus der Stillszene: Sie haben dort international sehr früh mit hochgradigen Evidenzbetrachtungen angefangen, weil sie sich primär nicht ernst genommen gefühlt haben. Deshalb haben sie besonders strenge Bedingungen an die Wissenschaftlichkeit.
Rainhild Schäfers: Wir haben hier ein Dilemma: Wenn in Gremien Patientenvertreter:innen mitarbeiten, werden sie normalerweise aus dem Dachverband der Selbsthilfegruppen rekrutiert. Sie betreffen in der Regel entweder das geburtsgeschädigte oder das frühgeborene Kind. Sie vertreten also eine winzige Gruppe im Verhältnis zu den 700.000 Frauen, die pro Jahr in Deutschland ihre Kinder zur Welt bringen. Insofern kann man dankbar sein, dass es diese bundesweite Elterninitiative Mother Hood gibt, damit Frauen vertreten sind, die ein Drama im Zusammenhang mit der Geburt erlebt haben. Ich habe in anderen Gremien immer wieder versucht, Mother Hood mit reinzubringen, weil wir uns auch um die Aussagen von Frauen kümmern müssen – auch als Qualitätsindikator. Wir können doch nicht immer nur nach einem rosigen Kind schauen und dann sagen, die Geburt ist gut gelaufen. Wir wissen nicht, wie viele traumatisierte Frauen wir mit unserer Geburtshilfe hinterlassen. In so einem Gremium habe ich einmal als Antwort bekommen: »Aber wenn das Kind behindert ist, ist die Frau auch traumatisiert.« Damit war der Punkt erledigt.
Michael Abou-Dakn: Laut AWMF-Regeln haben normalerweise nur die Fachgesellschaften ein Stimmrecht. Wir haben in diesem Fall die Berufsverbände hinzugezogen, denn die DGHWi ist eine sehr spezialisierte Gruppierung der Hebammen. Wir brauchen natürlich die Hebammen als gesamte Organisation. Deshalb haben wir sie mit einem Stimmrecht versehen.
Hatte auch Mother Hood ein Stimmrecht?
Michael Abou-Dakn: Ja, sowie auch die Berufsverbände der Frauen- und der Kinderärzte und andere, die eigentlich nicht als wissenschaftliche Fachgesellschaften bei der AWMF gelistet sind.
Rainhild Schäfers: Als größere Fachgesellschaft konnte die DGGG eine Anschubfinanzierung der Leitlinie einbringen. Die DGHWi leistete ihren Beitrag durch geldwerte Leistungen von drei Kolleginnen, die die Aufgabe übernommen hatten, mitzuschreiben und zu recherchieren. Sie hatten kein Stimmrecht. Als Vertreterin von QUAG hatte Kirsten Asmushen mitgewirkt, ebenfalls ohne Stimmrecht. Der DHV hatte eine Stimme – Renate Nielsen und Andrea Bosch haben als DHV-Vertreterinnen abwechselnd teilgenommen.
Michael Abou-Dakn: Die Berufsgruppen waren bei der Erstellung der Kapitel ausgeglichen: Eine Gruppe kümmerte sich jeweils um ein spezielles Thema. Das wurde im gesamten Gremium dargestellt, dann darüber abgestimmt. Wo es eine hohe Evidenz gibt, war die Abstimmung meistens leicht – wenn das schwierig ist, muss man Expert:innenmeinungen dazunehmen. Dieser Prozess wurde sehr strukturiert von der AWMF mitbegleitet.
Es gab einen Konflikt mit den Gremiums-Mitgliedern aus Österreich. Wir hatten als erstes das Monitoring-Kapitel zur Überwachung der kindlichen Herztöne bearbeitet und diskutiert. Primär verfasst hatten das Kapitel drei Hauptautor:innen: zwei Expert:innen aus Gynäkologie und Geburtshilfe gemeinsam mit Christiane Schwarz, die sich als Hebamme seit Jahren auch international mit dem CTG beschäftigt hatte. Der Widerstand kam von den Universitäten, letztlich häufig von den Onkolog:innen. Dass in Deutschland, dem Erfindungsland des CTG-Monitorings, die flächendeckende CTG-Überwachung in Frage gestellt wurde, passte nicht. Hierzulande haben viele habilitierte Mediziner:innen ihr Leben lang über die Vorteile des CTGs publiziert und arbeiten heute noch damit. Ihnen das Dauer-CTG wegzunehmen, nach dem Motto »In dem Kollektiv hat es nichts gebracht«, war für sie wahrscheinlich eine Kränkung oder Missachtung ihres Lebenswerks.
Vielleicht ist auch Angst im Spiel: Wer beherrscht im Klinikbetrieb noch die Überwachung mit dem Pinard-Stethoskop oder Dopton?
Rainhild Schäfers: Mit dem Kapitel »Monitoring« haben wir es uns nicht leicht gemacht, wir haben es auf sechs Sitzungen behandelt.
Michael Abou-Dakn: Die Situation war schwierig, weil der österreichische Ärztevertreter, der anfangs dabei war, erkrankt und später verstorben ist. Thorsten Fischer von der Universitätsklinik Salzburg hat ihn abgelöst. Ich hatte ihn in die Leitlinien-Kommission eingeladen, weil er eigentlich für die »sanfte Geburtshilfe« steht. Er hatte aber gegen das Kapitel zum Monitoring von Anfang an großen Widerstand, obwohl darüber bereits abschließend abgestimmt worden war.
Welche Rolle spielen die Fachgesellschaften bei der Erstellung von Leitlinien?
Michael Abou-Dakn: Es gab immer schon ein Grundproblem zwischen den Fachexpert:innen, die in Gremien und Kommissionen etwas erarbeiten, und den eigentlichen Vertretungen bis in die Fachgesellschaften hinein. Früher gab es Ärztevertreter, die mit der Kraft ihrer Autorität gesagt haben »Das haben wir so entschieden, dazu brauche ich keine Literatur – ich weiß, dass das so richtig ist.« Leitlinien waren früher Expertenmeinungen, Statements, die als solche veröffentlicht wurden – zum Beispiel zum CTG, wo auch bereits drinsteht, dass es im Normkollektiv keine Vorteile bringt. Das Verrückte ist: Alles ist bereits beschrieben, zum Teil von denselben Personen, die jetzt zu den Kritiker:innen gehören.
Das System ist fragwürdig: Wie bringe ich als Fachexperte meine wissenschaftliche Arbeit ein, die ich ehrenamtlich leiste? Ich bearbeite eine geburtshilfliche Thematik in einem Gremium, bin fleißig – aber das dann in die Fachgesellschaft rückzukoppeln, das ist ein Problem. Man braucht dann zum Schluss eine Abstimmung, damit die Fachgesellschaften mitgenommen werden und auch noch zustimmen. Dabei kommt es aber auf die Stimmung an. Man könnte zwar sagen – so war es in Einzelfällen bei uns: Eine Enthaltung der Fachgesellschaft ist möglich. Aber eigentlich ist das ein Widerspruch: Es ist eine Leitlinie, die in diesem Fall von zwei DGGG-Vertretern, von Frank Reister und mir, bearbeitet wurde. Wir haben unsere Gesellschaft bei der Erstellung vertreten. Die Fachgesellschaften überprüfen es noch einmal und man kann auch noch etwas ändern. Aber im Großen und Ganzen sollte das Ergebnis je nach der Evidenz getragen werden.
Rainhild Schäfers: Ich finde diese Entwicklung bizarr. Michael Abou-Dakn hatte in seiner Fachgesellschaft und seiner »Zunft« mit wesentlich mehr Widerstand zu kämpfen als ich in meiner. Obwohl in dieser Leitlinie die mediolaterale Episiotomie empfohlen wird, wo wahrscheinlich viele Hebammen denken, »Seid ihr des Wahnsinns? Ihr könnt doch keine mediolateralen Epis schneiden!«, werde ich trotzdem nicht so angegangen. Im Gegenteil – von Hebammen kommt in erster Linie Lob: Darüber, dass die Geburtsphasen klar definiert sind, dass man mehr Freiheiten mit dem CTG hat und auch, dass die Eins-zu-eins-Betreuung nun nicht mehr nur im Koalitionsvertrag der Regierungsparteien steht, sondern auch in einer wissenschaftlich abgeleiteten Leitlinie. Warum kommt sie bei Hebammen so gut an und bei Ärzt:innen nicht? Ich weigere mich zu vermuten, dass es mit Macht – oder mit Machtverlust – zu tun hat. Die Frauen geben uns den Auftrag – sie wollen beide Berufsgruppen, Hebammen und Ärzt:innen. Darauf müssen wir doch hören und zusammenarbeiten. Dass es so unterschiedliche Sichtweisen gibt, finde ich verrückt.
Driftet das Verhältnis zwischen Hebammen und Ärzt:innen auseinander, geht es wieder mehr um Abgrenzung?
Michael Abou-Dakn: Die Berufspolitik schwang die ganze Zeit mit. Bei Punkten, die die außerklinischen Geburten betrafen, war ich erstaunt, dass die Hebammen nicht mehr Widerstand hatten. Manche Hardlinerinnen vertreten ja die Meinung, wir bräuchten gar keine ärztliche Betreuung. Wenn man beachtet, welche Einschränkungen wir für die außerklinische Geburtshilfe hergestellt haben, geht das in die richtige Richtung: Dass wir da einen gewissen Standard für wesentlich halten. Dass es Punkte gibt, die unklar sind, müssen die Kritiker:innen einfach nur verstehen. Beispielsweise muss man die Fragestellung wissenschaftlich genauer untersuchen: Was macht die außerklinische und was macht die klinische Geburtshilfe? Da gibt es einen Disput, aber im besten Sinne: Es gibt wissenschaftliche Betrachtungsweisen mit unterschiedlichen Aspekten und man versucht, auf eine gute Art und Weise zu einer Lösung zu kommen.
Ich sehe hier ein Problem bei der Datenlage – wir haben das deshalb als Forschungsaufgabe genannt. Will man die internationalen Daten mit unterschiedlichen sozialen Bedingungen und Gesundheitssystemen auf die deutsche Situation übertragen, wird das objektive Zueinanderkommen wieder schwierig. Da sind wir beim nächsten Punkt, den wir auch im IQTIG diskutieren. Bedeutet Qualitätssicherung tatsächlich, bei wie vielen Kinder ein Nabelschnur-pH-Wert erhoben wurde? Ist es nicht eher so, wie in den NICE-Guidelines beschrieben: Bei einem gesunden, reifen Kind mit unauffälliger Geburt bestimmt man nicht den pH-Wert, sondern den APGAR-Wert als Qualitätsmarker. Bei einem Kind in schlechtem Zustand – sagen selbst die Kinderärzt:innen – ist die Hauptkorrelation für eine schlechte Prognose ein niedriger 5-Minuten-APGAR-Wert. Für den großen Rest wissen wir es nicht genau. Die Vergleichbarkeit zwischen der außerklinischen Geburtshilfe, wo kein Nabelschnur-pH-Wert erhoben wird, und der Geburtshilfe in der Klinik ist schwierig. Auch das hat sich durch die Leitlinie etwas angenähert. Da könnte sie wiederum, aus der außerklinischen Perspektive betrachtet, in der Kritik stehen, und Rainhild Schäfers hätte vorgeworfen werden können, sie habe die Hebammen nicht gut genug vertreten.
Rainhild Schäfers: Ja, das hätte man erwarten können.
Michael Abou-Dakn: Die freiberuflichen Hebammen hätten argumentieren können, es gibt ja nur Studien aus der Klinik. Wer macht schon Studien in der außerklinischen Geburtshilfe? So ist es ja auch. Diese Kritik ist nicht gekommen, im Gegenteil, auch nicht von QUAG. Schon vor Jahren hat die Hebamme und Gesundheitswissenschaftlerin Christine Loytved gefordert, Strukturen zu schaffen, die eine Verlegung in die Klinik verkürzen und vereinfachen. Es wird erneut diskutiert, so etwas für den hebammengeleiteten Kreißsaal zu entwickeln – also innerhalb klinischer Strukturen. Da ist viel passiert, auch Positives. Es gibt auch zu den Ärzt:innen Positives zu berichten: Parallel zu der massiven Kritik habe ich viele Anfragen erhalten mit der Bitte um Vorträge in verschiedenen Klinikstrukturen, zum Teil in großen Verbänden, die aus erster Hand erfahren wollten, wo die Probleme bei der Leitlinie liegen. Sie haben Arbeitsgruppen entwickelt, um sie an ihre Kliniksituation anzupassen. Darauf bin ich stolz, da können sie uns noch so sehr angreifen.
Geburtshilfliche S3-Leitlinien haben eine junge Geschichte, die erste war die S3-Brust-Leitlinie, die 2013 erschienen ist. Keine Leitlinie wurde so heftig angegriffen wie diese und hat gleichzeitig zum Teil zu so vielen Veränderungen geführt.
Rainhild Schäfers: … und keine war so präsent in den Medien. Es gab viele Anfragen entweder zu einem Podcast oder für die Apothekenrundschau, also Organe, die weit streuen. Die Mitglieder von Mother Hood stellen einzelne Punkte aus der Leitlinie portionsweise vor, um die Nutzerinnen zu informieren. Ich wüsste nicht von einer anderen Leitlinie, über die Betroffene so informiert sind.
Es sind ja viele Menschen davon betroffen.
Rainhild Schäfers: Zusammen mit denjenigen, die einen Schwangerschaftsverlust erleiden, werden etwa eine Million Frauen im Jahr schwanger und die physiologischen Prozesse haben bisher so wenig Bedeutung, dass erst jetzt eine S3-Leitlinie dazu erscheint! Und dann steht sie auch noch so unter Feuer. Allein das ist für mich spektakulär, dass es erstmals gelungen ist, gemeinsam mit Hebammen, Ärzt:innen und Elternvertreter:innen eine Leitlinie interdisziplinär auf den Weg zu bringen. Ich kann mit Kritik leben, absolut. Einige Punkte haben wir übersehen. Zum Beispiel fehlt der Umgang mit der Herzton-Ableitung in der Austrittsphase, wir haben uns auf die Eröffnungsphase konzentriert. Wir haben Unstimmigkeiten in dem Kapitel Eröffnungsphase zum Vorgehen bei Blasensprung und im Kapitel zur Nachgeburtsphase, wie geht man nach einem Blasensprung mit dem Kind um? Da gibt es unterschiedliche Zeitangaben. Diese Punkte sammelt man für die Überarbeitung, auch die weiteren Themen, die wir uns noch gewünscht hätten.