Initiation in Süd-Tansania im Jahr 1983 mit einer traditionellen Hebamme, die früher genitale Beschneidungen durchführte, bis es in dieser Region untersagt wurde – im Vordergrund sind die jungen Mädchen zu sehen, die die Initiationsrituale erleben. Foto: © Helmut Jäger
Bei Frauen aus anderen Kulturen muss damit gerechnet werden, dass die Genitalregion durch ungewöhnliche chirurgische oder traditionelle Eingriffe oder Operationen verletzt oder verstümmelt wurde.
Deshalb herrscht zum Beispiel in vielen Entwicklungsländern bei Frauen nach der Geburt ein erhöhtes Risiko für Fistelbildungen zwischen Blase und Vagina oder für Inkontinenz. Ursachen sind verschleppt-verzögerte Geburtsverläufe oder gewaltsame vaginaloperative Geburtsbeendigungen. In einigen Ländern werden noch Symphysiotomien, die stumpfe Durchtrennung des Sympysenknorpels unter einem kleinen scharfen Hautschnitt, durchgeführt, um bei Missverhältnis einen Kaiserschnitt zu vermeiden. Die betroffenen Frauen leiden dann anschließend unter instabilen Beckenverhältnissen. Auch Urethraverletzungen sind dabei möglich. Bei Zustand nach Kaiserschnitt muss damit gerechnet werden, dass ein Uteruslängsschnitt durchgeführt wurde und dass damit das Risiko für eine Uterusruptur erhöht sein könnte.
Auch die Durchführung anderer Eingriffe im kleinen Becken kann von den deutschen Standards erheblich abweichen. Zum Beispiel berichtete eine Patientin mit intakter Frühschwangerschaft über einen Sterilisationseingriff an den Eileitern. Und zeigte auf eine drei Zentimeter große Längsnarbe oberhalb der Symphyse, die damals schlecht verheilt sei. Möglicherweise wurde so eine Mini-Laparotomie oder offene Bauchspiegelung durchgeführt, deren Ergebnis offenbar nicht optimal ausfiel.
Hebammen müssen also aufgrund vorheriger Eingriffe im Ausland auf erhöhte Risiken gefasst sein und sich im Zweifel mit FachärztInnen besprechen oder die Patientinnen zu diesen überweisen.
Es ist auch möglich, dass Frauen erwarten oder verlangen, dass ein Eingriff wie etwa ein Kaiserschnitt durchgeführt wird, oder dass sie in Angst oder Panik eine Sectio wünschen, obwohl keine medizinische Indikation dafür besteht. In beiden Fällen folgt daraus für sie ein höheres Risiko, wenn sie nach einer Rückreise in ihr Ursprungsland weitere Kinder gebären, ohne sich auf ein relativ sicheres Medizinsystem verlassen zu können.
Die Besprechung solcher Themen ist in der Regel nur mit kompetenten ÜbersetzerInnen möglich und erfordert ein etabliertes Vertrauensverhältnis. Die Wünsche der Frau sollten dabei angenommen und verstanden werden, damit sie sich vor dem Hintergrund sicheren Fachwissens möglicherweise anders entscheiden können.
Frauen aus Afrika südlich der Sahara können in ihrer Kindheit eine genitale Beschneidung erlitten haben (Female Genital Mutilation, FGM).
Die mit FGM verbundenen körperlichen und psychologischen Probleme sind unserem Gesundheitswesen fremd. Für Frauen, die Asyl suchen, sind daher in Deutschland nur wenige qualifizierte Versorgungseinrichtungen erreichbar.
In Italien wurde versucht einzuschätzen, wie häufig man bei Migrantinnen mit dem Problem von FGM rechnen muss (Ortensi 2015). In der Modellrechnung fiel ein erheblicher Migrationseffekt auf: Frauen, die auswandern, scheinen sich in ihrer Zusammensetzung von der durchschnittlichen Bevölkerung ihrer Herkunftsländer deutlich zu unterscheiden. Bei den meisten Nationalitäten war die Wahrscheinlichkeit, beschnitten worden zu sein, bis zu zehn Prozent geringer, insbesondere wenn die Frauen aus städtischen Regionen stammten. Bei anderen Herkunftsländern war die Wahrscheinlichkeit für das Bestehen einer FGM erhöht, insbesondere Nigeria (42 Prozent), Sudan (11 Prozent), Mali (8 Prozent) und Ghana (2 Prozent). Denn von dort waren mehr Frauen aus ländlichen Regionen geflüchtet. Eine hohe Prävalenz besteht in Nord-Ostafrika und Westafrika. Bei der Betreuung von Frauen aus diesen Ländern sollte deshalb erfragt und gegebenenfalls (auf Wunsch) untersucht und dokumentiert werden, ob eine FGM vorliegt. Daraus ergeben sich wichtige Konsequenzen für den Geburtsverlauf.
Weibliche Genitalverstümmelung beruht auf der Beibehaltung archaischer Riten verschiedener Kulturen, die seit einigen Jahrtausenden praktiziert werden (Knight 2001). Bei keiner dieser unterschiedlichen Arten symbolischer Kastration bei Mädchen und Frauen besteht ein Zusammenhang mit den Lehren der großen Weltreligionen, die erst wesentlich später entstanden.
Bei dem FGM Typ 1 wird die Vorhaut der Klitoris und gegebenenfalls auch die Klitoris an ihrer Spitze gekappt und auch Anteile der kleinen Labien geritzt oder entfernt. Bei dem FGM Typ 2 wird die Klitorisspitze herausgeschnitten und die Schamlippen werden partiell oder total herausgeschnitten. Bei dem FGM Typ 3 erfolgen eine Exzision der Klitorisspitze, die Amputation der Labia minora und majora und ein Subtotalverschluss der Vulva durch Vernähen, gegebenenfalls wird eine dorsale Öffnung belassen. Der Eingriff wird mit traditionellen Instrumenten, Dornen oder Rasierklingen durchgeführt. Entsprechend groß ist neben dem psychischen Trauma auch das körperliche Verletzungsrisiko (Hearst 2013; Sundby 2013).
Gut zu wissen ist, dass eine komplette „Klitorektomie” nicht erfolgt sein kann! Denn selbst wenn die Klitoris nach Verstümmelung unter einem Narbengewebe verborgen liegt, erstreckt sie sich auch weiterhin nach rechts und links in den Schambogenwinkel. Das heißt, eine chirurgische Versorgung der betroffenen Frauen zur Verbesserung ihrer sexuellen Funktionen ist immer möglich, sofern bezahlbar.
Geburtshindernisse nach einer FGM sind keine Sectio-Indikation. Leider werden bei teilverschlossener Vagina bei den betroffenen Frauen häufig primäre Kaiserschnitte durchgeführt, die – sofern keine anderen Indikationen vorliegen – unnötig sind. Durch einen sehr einfachen Eingriff ab der 36. Schwangerschaftswoche können der Introitus der Vagina eröffnet und das Narbengewebe entfernt werden. Die Langzeitergebnisse sind bei Verwendung feiner atraumatischer Nähte in der Regel sehr gut.
Akute Verstümmelung bei Mädchen oder jungen Frauen wurden in England, den Niederlanden und Frankreich beschrieben, und sie werden realistischerweise auch in Deutschland durchgeführt werden. Nach § 226a Strafgesetzbuch (StGB 2013) ist die Verstümmelung weiblicher Genitalien verboten. Wer die äußeren Genitalien bei einem Mädchen verstümmelt, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr bestraft. In minder schweren Fällen kann die Freiheitsstrafe sechs Monate, in schwereren bis fünf Jahre betragen. Zudem gilt der Artikel 2.2. des Grundgesetzes: „… Jeder hat das Recht auf … körperliche Unversehrtheit.”
Die Gesetze in anderen Ländern sind hinsichtlich FGM wesentlich schärfer, insbesondere in den Niederlanden, in Frankreich und England (McCartney 2015). Dort ist es auch verboten, eine Verstümmelung im Ausland durchführen zu lassen (sogenannter FGM-Tourismus).
Im Umgang mit Frauen, die eine Genitalverstümmelung erlitten haben, ist besondere Kultursensibilität erforderlich, da das Thema Sexualität häufig tabuisiert ist. Notwendig ist Empathie. Mitleid dagegen wäre für den Aufbau eines Vertrauensverhältnisses schädlich. Gespräche über sensible Zusammenhänge erfordern immer hohe Sprachkompetenz bei einer Übersetzerin des Vertrauens. In Anwesenheit von Männern kann über das Thema meist nicht offen geredet werden.
Ziel eines Gespräches wäre es, einer Frau zu Entscheidungen und Versorgungsmöglichkeiten zu verhelfen. Möglich ist immer die einfache Eröffnung der Vulva, deren Kosten als „zwingend notwendiger Eingriff” in der Regel von den öffentlichen Kostenträgern übernommen wird, weil damit eine Sectio vermieden werden kann. Möglich sind aber auch aufwändigere, rekonstruktiv-chirurgische Eingriffe, die den Frauen zu einer befriedigenden Sexualität verhelfen können (Foldès 2006).
In Deutschland haben sich zwei Kliniken auf solche Operationen spezialisiert (siehe Links). Ihre unterschiedlichen Schwerpunkte liegen unter anderem in der Urologie (Berlin) und in der plastischen Chirurgie (Aachen). Die Kosten für solche Eingriffe sind gegebenenfalls hoch und gehören nicht zur Grundversorgung.
Hebammen sollten versuchen, in einem sehr vertraulichen Gespräch mit der Frau zu erarbeiten, was sie anstrebt, auch hinsichtlich ihrer Sexualität. Dann können sie herausfinden werden, welche kultursensiblen Gynäkologinnen genauere Beratungen durchführen können, zum Beispiel über die Organisationen Frauengesundheit in der Entwicklungszusammenarbeit (FIDE) und Integra – Deutsches Netzwerk zur Überwindung von FGM (siehe Links). Anschließend können die genannten oder gegebenenfalls auch andere Kliniken kontaktiert werden, die solche Operationen durchführen.
Wenn die potenziellen Handlungsmöglichkeiten klar sind, muss noch geklärt werden, durch welche finanzielle Unterstützung der Eingriff realisiert werden kann. Das erfordert ein großes Engagement der Hebamme. Es zahlt sich aus durch die Rückmeldung erlöster Frauen, „dass sich allein dafür die Flucht gelohnt hat”.
Ausführliche Hintergründe zu FGM: www.medizinisches-coaching.net/unversehrtheit.html
Bundesärztekammer: www.bundesaerztekammer.de/page.asp?his=0.7.47.3207
DGGG: www.dggg.de/fileadmin/public_docs/Newsletter/2012-02-FGC-FGM-DGGG-TDF-AKF.pdf
Frauengesundheit in der Entwicklungszusammenarbeit (FIDE) 2007: www.dr-zerm.de/EmpfehlungenFGM2007.pdf
Integra – Dt. Netzwerk zur Überwindung von FGM: http://www.netzwerk-integra.de, www.netzwerk-integra.de/dokumente/gesundheit
Rekonstruktion der Klitoris: Luisenhospital Aachen, Dr. O’Dey. www.luisenhospital.de/luisenhospital/zentren/gyn-rekonstruktionszentrum.html
Urologische Komplikationen und Klitoris-Operation nach Foldès: Desert Flower Center, Berlin. http://www.krankenhaus-waldfriede.de/krankenhaus/index.php?id=313
Foldès P: Reconstructive Surgery of the Clitoris after Ritual Excision. J Sexual Med 2006 3(6):1091-94
Hearst A et al: Female Genital Cutting. An evidence based approach to clinical management for the primary care physician. Mayo Clin Proc 2013. 88(6): 618–629
Knight M: Curing Cut or Ritual Mutilation? Some Remarks on the Practice of Female and Male Circumcision in Graeco-Roman. Isis 2001. Vol. 92 No. 2 (Jun.) 317–338
McCartney M: Disrespecting confidentiality isn’t the answer to FGM, BMJ 2015. 351: h5830 http://www.bmj.com/content/351/bmj.h5830 – Serious crime act 2015. Factsheet FGM: https://www.gov.uk/government/uploads/system/uploads/attachment_data/file/416323/Fact_sheet_-_FGM_-_Act.pdf
Ortensi LE et al: Improving estimates of the prevalence of Female Genital Mutilation/Cutting among migrants in Western countries, Demographic Research 20.02.2015. www.demographic-research.org/volumes/vol32/18/32-18.pdf
Sundby J: Female Genital Mutilation, Cutting, or Circumcision, Obstetrics and Gynaecology International 2013 (11 Artikel 2013)