Warum das Prinzip eines freien Marktes im Gesundheitswesen die geburtshilfliche Grundversorgung strukturarmer Regionen gefährdet. Überlegungen einer ehemaligen Hausgeburtshebamme aus der Uckermark.
Hebammenprotest vor dem Bundesministerium für Gesundheit Ende Februar in Berlin Foto: © imago/Christian Mang
Warum das Prinzip eines freien Marktes im Gesundheitswesen die geburtshilfliche Grundversorgung strukturarmer Regionen gefährdet. Überlegungen einer ehemaligen Hausgeburtshebamme aus der Uckermark.
Die Hebammen wurden 2007 in die Selbstverwaltung entlassen. Damit hat sich die Politik – also die gesetzgebende Instanz zur Sicherung des Gemeinwohls – aus der Verantwortung für die Versorgung mit Hebammenhilfe und die Sicherstellung der freien Wahl des Geburtsortes zurückgezogen. Ob die Hebammenhilfe den Bedarf deckt, wird seitdem weitestgehend den Gesetzen des freien Marktes überlassen. Und dass die freie Wahl des Geburtsortes vielerorts schon nicht mehr gegeben ist, wird lediglich bedauernd zur Kenntnis genommen. Die anderen an der geburtshilflichen Grundversorgung Beteiligten – niedergelassene ÄrztInnen und Krankenkassen – sind ebenfalls im Status der Selbstverwaltung. Krankenhäuser spielen eine gesonderte Rolle. Darauf soll später eingegangen werden.
Öffentliche Instanzen des Gesundheitswesens sind zum Beispiel das Gesundheitsministerium und der öffentliche Gesundheitsdienst. Sie entziehen sich zunehmend der Verantwortung, die bedarfsgerechte Versorgung der Bevölkerung mit Gesundheitsleistungen zu regeln. Diese Aufgabe wird auf die LeistungserbringerInnen und Krankenkassen übertragen. Ein Beispiel ist der Vertrag über die Versorgung mit Hebammenhilfe nach § 134a SGB V. Dieser besteht zwischen zwei Berufsverbänden der Hebammen und den Spitzenverbänden der Krankenkassen. Was Hebammen an Leistungen anbieten und über die Krankenkassen abrechnen dürfen, wird zwar über den Markt gesteuert. Sie dürfen sich jedoch nicht frei darin bewegen. Gesetzliche Regeln lassen ihnen nicht den Handlungsspielraum, den BewerberInnen auf dem freien Markt brauchen. Dies fängt bereits bei der Preisgestaltung an: Hebammen müssen sich an die Gebührenordnung halten. Und sie sind verpflichtet, eine Haftpflichtversicherung abzuschließen.
Eine Gesundheitsversorgung, die den Gesetzen des freien Marktes untersteht, wird nicht mehr in erster Linie der Bedarfsdeckung im Sinne einer Grundversorgung dienen können. Vielmehr gelten in einem solchen System die Gesetze des freien Marktes. Dies bedeutet in erster Linie, dass die LeistungserbringerInnen ihre Existenz durch Gewinnmaximierung zu sichern suchen. Für die geburtshilfliche Grundversorgung strukturschwacher Regionen heißt das nicht nur, dass die Wahlfreiheit bezüglich des Ortes der Geburt ausgehöhlt wird. Vielmehr ist in diesen Regionen die Versorgung prinzipiell in Gefahr.
Der marktwirtschaftliche Rahmen hat für die Gesundheitsberufe zur Folge, dass sie mit Blick auf Umsatzsteigerung und betriebswirtschaftliche Bilanzen ausgeübt werden müssen. Die schwangere Frau und Gebärende wird zur Kundin, um die sich die einzelnen AnbieterInnen von Versorgungsleistungen für diesen speziellen Lebensabschnitt bemühen. Freiberufliche Hebammen, niedergelassene GynäkologInnen und stationäre Entbindungseinrichtungen werden zu Konkurrenten, eine partnerschaftliche Zusammenarbeit im Sinne der Kundin erscheint unter dieser Entwicklung paradox. Der Bäckermeister würde – mit dem Ziel der Kundenbindung und Gewinnsteigerung – seinen Stammkunden auch nicht auffordern, zu einem anderen Bäcker – geschweige denn in einen Supermarkt – zu gehen, um zu testen, ob das Brot dort besser schmeckt. Das würde auch niemand von ihm erwarten. Im Gegenteil, dieses Verhalten würde Verwunderung auslösen. Von den AkteurInnen der gesundheitsversorgenden Berufe erwartet man jedoch solch ein Verhalten. Hebammen und niedergelassene GynäkologInnen werden immer wieder zu einer kollegialen Zusammenarbeit zum Wohle der Frauen aufgefordert. Dies gestaltet sich nicht nur wegen der oft unterschiedlichen Sichtweisen auf die Lebensphasen Schwangerschaft und Geburt schwierig, sondern auch wegen der Konkurrenz in der Marktwirtschaft.
Der Fokus auf die betriebswirtschaftlichen Aspekte der gesundheitsversorgenden Berufe wirkt sich auf die einzelnen AkteurInnen unterschiedlich aus. So hat ein Teil der LeistungserbringerInnen aus dem freiberuflichen und niedergelassenen Bereich eine klare Vorstellung von dem, was sie brauchen, um angemessen von ihrer Berufstätigkeit leben zu können. Sie räumen diesem Aspekt einen hohen Stellenwert ein. Das führt für die Versorgungsbedürftigen zum Beispiel zu IGe-Leistungen in der ärztlichen Praxis und hohen Rufbereitschaftspauschalen bei den freiberuflichen Hebammen. Manchmal bedeutet dies sogar Streik für eine bessere Vergütung und damit Ausfall der Grundversorgung und Reduzierung auf eine Notversorgung für Kranke oder Gebärende.
Bei den Hebammen ist zu beobachten, dass sie zunehmend Leistungen mit einem hohen betriebswirtschaftlichen Risiko aus dem Versorgungsangebot streichen und durch Leistungen mit einem geringeren Risiko ersetzen. Das bedeutet, dass immer weniger freiberufliche Hebammen Geburtshilfe anbieten. Die geburtshilfliche Grundversorgung ist sowohl im außerklinischen Bereich als auch in Kliniken mit wenigen Beleggeburten nicht mehr sichergestellt.
Dann gibt es freiberufliche und niedergelassene AkteurInnen in der ambulanten und teilweise stationären Versorgung, die in erster Linie den Bedarf an gesundheitlicher Grundversorgung der Menschen sehen. Sie fühlen sich dem moralisch verpflichtet und stellen die eigenen Bedürfnisse in den Hintergrund. Dies sind zum Beispiel Hausgeburts- oder Geburtshaushebammen, die in einem Radius von 150 Kilometern 50 bis 60 Geburten im Jahr versorgen. Oder die Wochenbetthebamme, die in der Woche 70 bis 80 Hausbesuche absolviert und dabei 800 bis 1.000 Kilometer zurücklegt. Betriebswirtschaftliche Aspekte und eine gute Balance zwischen Erwerbstätigkeit und Freizeit spielen eine untergeordnete Rolle. Hier wird neben der Versorgung aller Bedürftigen auch versucht, über eine hohe Fallzahl den Gesetzen des Marktes gerecht zu werden. Möglichkeiten, wie die Einführung und/oder Erhöhung einer Bereitschaftspauschale oder das Angebot von Leistungen auf Selbstzahlerbasis wie zum Beispiel Gesundheitsberatung bei Kinderwunsch oder emotionale Erste Hilfe bei Schreikindern, erscheinen als ein Tabu. Die Folge ist ein Arbeitspensum, das zwar eine einigermaßen solide betriebswirtschaftliche Situation sicherstellt, aber mittelfristig in Erschöpfung, Vereinsamung und Krankheit münden kann. Die Erkenntnis, dass nicht alles geht – alle anfragenden Frauen zu versorgen, gute betriebswirtschaftliche Bilanz ohne finanzielle Beanspruchung der Frauen und ein ausgeglichenes Privatleben – steht dann oft am Ende eines schmerzhaften Prozesses jeder einzelnen betroffenen Hebamme.
Die ambulante Versorgung von Schwangeren sowohl durch FachärztInnen der Gynäkologie und Geburtshilfe als auch durch HausärztInnen steht für die strukturschwachen Regionen ebenfalls zur Disposition. Diese Berufsgruppen müssen sich auch an den Gesetzen des freien Marktes orientieren. Das bedeutet für sie mehr Arbeit für weniger Geld als in anderen Regionen. In den strukturschwachen Gebieten haben gerade HausärztInnen, GynäkologInnen und KinderärztInnen Nachwuchsprobleme. Sie stehen also langfristig nicht sicher für die Zukunft der gesundheitlichen Grundversorgung dieser Regionen zur Verfügung.
Für die stationäre Versorgung hat die marktwirtschaftliche Ausrichtung des Gesundheitswesens in den vergangenen Jahren zu einer zunehmenden Privatisierung, aber auch zu Schließungen von Krankenhäusern geführt. In Deutschland werden drei Gruppen von Krankenhausträgern unterschieden. Die öffentlichen Krankenhäuser stehen in der Trägerschaft von zum Beispiel Bund, Ländern, Kreisen, Städten und Gemeinden. Kirchen, Wohlfahrtsverbände wie Caritas und Deutsches Rotes Kreuz sowie Stiftungen sind freigemeinnützig, das heißt Träger der freien Wohlfahrtspflege. Privatisierte Krankenhäuser stehen unter der Trägerschaft privater Investoren, wie Asklepios, Helios und Sana.
Der Anteil der öffentlichen Krankenhausträger geht zugunsten der privaten stetig zurück. Die öffentlichen und freigemeinnützigen Krankenhausträger sind von den marktwirtschaftlichen Veränderungen am stärksten betroffen. Laut ihrer Gründungsidee waren sie primär auf die Sicherung des Gemeinwohls ausgerichtet und nicht auf Gewinnmaximierung. Dass sie überhaupt für übergeordnete Ziele im Sinne des Gemeinwohls einstehen, steht in der Tradition ihrer Institutionen und unterscheidet sie wohl im Wesentlichen von den privaten Trägern. Letztere tun sich in der Regel weniger schwer, die Gewinnmaximierung und die Umsatzsteigerung des Unternehmens Krankenhaus an die erste Stelle aller Überlegungen zu stellen. Egal in welcher Trägerschaft sich ein Krankenhaus befindet, untersteht die stationäre Versorgung den Gesetzen des freien Marktes. Das bedeutet, dass die Existenz und das Fortbestehen einer Abteilung von deren Umsatzsteigerung – und letztlich vom Gewinn –abhängig sind. Der Umsatz einer Abteilung kann durch eine höhere Fallzahl oder/und durch Reduzierung „produktionsbedingter” Kosten gesteigert werden. Inwieweit die zunehmende Interventionsrate bei der Geburt etwas mit der Notwendigkeit höherer Fallzahlen zu tun haben könnte, soll an dieser Stelle nicht diskutiert werden.
Die „produktionsbedingten” Kosten werden durch einen gleichbleibenden Personalbestand bei steigender Fallzahl reduziert. Das bedeutet für die angestellten Hebammen mehr Arbeit bei gleichem Lohn.
Die Gewinnmaximierung hat in der gesundheitlichen Grundversorgung ihre natürlichen Grenzen. Ich kann als Hebamme einer Schwangeren mit einem Kind auch nur bei der Geburt von einem Kind beistehen. Interventionen sollten in der Geburtshilfe – wie im ganzen Gesundheitswesen – an der Notwendigkeit für die Frau orientiert sein und nicht an dem Druck eines Leistungserbringers, den Gewinn zu steigern.
Abteilungen mit einer zu geringen Fallzahl werden geschlossen. Dies betrifft zunehmend stationäre geburtshilfliche Abteilungen kleiner Krankenhäuser, egal was es für die Schwangeren und deren Familien bedeutet. Die wohnortnahe geburtshilfliche Grundversorgung strukturschwacher Regionen ist sowohl im außerklinischen als auch im klinischen Kontext gefährdet beziehungsweise in einigen Regionen Deutschlands nicht mehr sichergestellt. Mit wohnortnaher Grundversorgung ist eine Anfahrt für die Gebärende zu einer geburtshilflichen Einrichtung oder für die Hebamme oder den Rettungswagen mit einer geburtshilflichen Fachkraft zu ihr hin von maximal 25 Kilometern oder 30 Minuten Fahrzeit gemeint.
Für die geburtshilfliche Grundversorgung strukturschwacher Regionen müssen andere Konzepte als für die Metropolregionen gedacht werden. In Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg beispielsweise leben 70 bis 85 Einwohner pro Quadratkilometer, während der Bundesdurchschnitt bei 229 liegt. In den dünn besiedelten Regionen wird kaum alle 30 bis 40 Kilometer ein kleines Krankenhaus mit einer Entbindungsstation für 80 bis 120 Geburten im Jahr finanzierbar sein. Erst recht nicht in einer Zeit, in der Zentralisierung stationärer Versorgung auch von der Politik befürwortet wird.
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, wie auf einen geburtshilflichen Versorgungsnotstand reagiert werden könnte. Eine recht radikale Lösung wäre die komplette Auslagerung der Geburten aus diesen Regionen. Die Schwangeren würden drei Wochen vor dem errechneten Geburtstermin aus ihrer Familie und ihrem Lebensumfeld heraus in die Nähe oder direkt in eine geburtshilfliche Klinik der Maximalversorgung gehen. Dort würden sie die Geburt erwarten und ihr Kind zur Welt bringen, um nach etwa 10 bis 14 Tagen wieder in ihre Familien und Wohnorte zurückzugehen.
Bei dieser Variante wäre die Geburt komplett auf einen medizinischen Vorgang reduziert. Wie sich das Ereignis Geburt und dessen Umstände auf das Verhalten der beteiligten Personen und Gruppen unmittelbar und in der Zukunft auswirken, sprich der soziale und soziologische Aspekt, blieben dabei außen vor.
Eine andere Variante wäre eine Versorgung durch außerklinisch und eigenständig tätige Hebammen. Um die wohnortnahe geburtshilfliche Grundversorgung strukturschwacher Regionen durch Hebammen für die Zukunft sicherstellen zu können, müssten sämtliche Gegebenheiten verändert werden, die die Sicherstellung gegenwärtig gefährden oder blockieren. Die Hebammen müssten durch eine solide Finanzierung über den öffentlichen Gesundheitsdienst oder Strukturen bürgerlicher Selbstverwaltung – wie es sie auf dem Bildungssektor in Form von Freien Schulen schon gibt, aus dem marktwirtschaftlichen Kontext genommen werden. Vom Druck des freien Marktes befreit, könnten sie dann wieder ihre ganze Kraft für die Grundversorgung der Schwangeren, Gebärenden, Wöchnerinnen und Neugeborenen einsetzen.
Seit Mitte der 1960er Jahre hat sich der Anspruch der niedergelassenen ÄrztInnen auf das Behandlungsmonopol in der Schwangerschaft entwickelt und verfestigt. Damals wurden sie als alleinige Leistungserbringer für die Vorsorge in der Schwangerschaft von den Krankenkassen anerkannt. Auf dieser Grundlage haben ÄrztInnen und Krankenkassen die Mutterschaftsrichtlinien konzipiert. Diese sind heute nicht nur handlungsleitend für die ärztliche Schwangerenvorsorge, sondern auch für die Vorsorgeleistungen von Hebammen, wenn sie diese mit der Krankenkasse abrechnen wollen.
Hebammen können seit 1986 Vorsorgeleistungen in der gesunden Schwangerschaft – ausgeführt unter Berücksichtigung der Mutterschafts-Richtlinien – abrechnen. Bis dahin konnten Hebammen über die Gebührenpunkte „Hilfeleistung bei Schwangerschaftsbeschwerden und Wehen” und „Beratung” in der Schwangerschaft tätig werden. Die Entwicklung eines berufseigenen Betreuungskonzeptes über Vorsorgeuntersuchungen in der gesunden und beschwerdefreien Schwangerschaft durch Hebammen, welches als Ersatz für die MutterschaftsRichtlinien und als Grundlage der Vergütung durch Krankenkassen dient, steht noch aus. Mit der Überführung der Hebammenhilfe aus der Reichsversicherungsordnung in das Sozialgesetzbuch V (SGB V) im Juni 2012 stehen Hebammen vor dem Gesetz als gleichberechtigte Leistungserbringerinnen neben den niedergelassenen ÄrztInnen für Vorsorgeleistungen in der Schwangerschaft zur Verfügung.
Dies müsste jedoch auch in den Köpfen und im Verständnis aller Beteiligten vollzogen werden. Dazu gehören nicht nur die niedergelassenen ÄrztInnen und Hebammen, sondern auch die schwangeren Frauen und ihre Familien. Schließlich sind alle in den vergangenen 60 Jahren auf die Unverzichtbarkeit eines Arztes in der Betreuung von Schwangerschaften und Geburten geprägt worden. Gerade die Hebammen und ihre StandesvertreterInnen sind aufgefordert, die Schlüsselfunktion der Schwangerenbetreuung durch Hebammen für eine hebammengeleitete Geburtshilfe – ob im Kreißsaal oder in einer außerklinischen Versorgungsstruktur – zu erkennen und entsprechende Aus- und Weiterbildungskonzepte zu erstellen. Hilfreich in diesem Prozess wäre es, wenn die öffentliche Hand die Verantwortung für die Organisation und die Finanzierung der Grundversorgung mit geburtshilflichen Leistungen übernehmen würde. Diese würde sich dann nach dem tatsächlichen Bedarf der einzelnen Frauen ausrichten. Angebote und Aktivitäten mit dem Ziel der Gewinnsteigerung für die LeistungserbringerInnen wären überflüssig.
Auf der Grundlage der Finanzierung durch die öffentliche Hand und der Vorsorgetätigkeit der Hebamme in der Schwangerschaft könnte eine geburtshilfliche Grundversorgung strukturschwacher Regionen entwickelt werden. Als Modell könnte es auf Grund der sozialen und soziologischen Aspekte auch für die Metropolregionen zukunftsweisend sein. Warum sollte zum Beispiel der öffentliche Gesundheitsdienst – angesiedelt am Gesundheitsamt – seine Zuständigkeit nicht auch (wieder) daraufhin ausweiten, dass freiberufliche Hebammen mit einem garantierten Grundeinkommen oder am Gesundheitsamt angestellte Hebammen die Versorgung einer Region mit Geburtshilfe sicherstellen können?
Das einmalige Tätigkeitsspektrum einer Hebamme deckt alle Bedürfnisse einer geburtshilflichen Grundversorgung ab. Vom Ausbleiben der Menstruation bis zum Abstillen sind Hebammen befähigt, Frauen fachlich kompetent zu beraten und zu versorgen. Für die Zukunft strukturschwacher Regionen stellt diese Kompetenz einer einzigen Berufsgruppe einen unermesslichen Wert dar. Mit einer sinnvollen und wirtschaftlich gesicherten Organisation dieser Berufsgruppe könnte die Auslagerung von Geburten aus manchen Landstrichen Deutschlands verhindert werden.
Meine Vision basiert auf den Erfahrungen aus rund 15 Jahren Hebammentätigkeit in einer strukturschwachen Region, der Aufgabe dieser Tätigkeit und der Auseinandersetzung mit einigen Managementthemen während meines Studiums „Management im Gesundheitswesen/Healthcare Management” an der Donau-Universität in Krems. Um ein solides Konzept für die Zukunft der Versorgung strukturschwacher Regionen mit geburtshilflichen Leistungen zu erstellen, braucht es die Zusammenarbeit und Unterstützung anderer Berufe und Institutionen. Gemeint sind hier zum Beispiel Hebammen, ÄrztInnen, Krankenhäuser und Krankenhausträger, Krankenkassen, Betriebs- und VolkswirtschaftlerInnen, Fachleute für Marketing, JuristInnen, PolitikerInnen, Hochschulen und Universitäten.
Hebammen sichern die Grundversorgung gesunder Schwangerer. So selbstverständlich, wie Frauen bei dem Verdacht auf eine Schwangerschaft zu einem Arzt gehen, gehen sie auch zu einer Hebamme. Die Hebamme übernimmt in der Regel die Vorsorgetermine bei gesundem Schwangerschaftsverlauf. Eine Schwangere wird erst bei Abweichungen vom normalen Verlauf an einen entsprechenden Facharzt überwiesen. Die Frau wird während der Schwangerschaft von zwei Hebammen begleitet, eine von beiden steht ihr bei der Geburt bei. Der Betreuungsschlüssel von eins zu zwei stellt sicher, dass die Frau bei Abwesenheit durch Krankheit, Urlaub oder Weiterbildung der einen Hebamme auf die zweite ihr bekannte Hebamme zurückgreifen kann. Geburt ist in erster Linie ein soziales Geschehen, das Vertrautheit unter den Beteiligten braucht.
Im Verlauf der Schwangerschaft stellen die Hebammen fest, wo die Geburt des Kindes stattfinden könnte oder sollte. Frauen mit einem gesunden Schwangerschaftsverlauf und der Prognose auf eine unkomplizierte Geburt gebären entweder zu Hause, in einem geburtshilflichen Versorgungsstützpunkt oder auf eigenen Wunsch in einer Klinik. Die Stützpunkte sind so konzipiert, dass dort Schwangerenvorsorgen, Geburten und späte Wochenbettkonsultationen stattfinden können. Sie sind in der Region so verteilt, dass die beiden Hebammen, die jeweils einen Stützpunkt besetzten, ein Einzugsgebiet mit einem Radius von maximal 30 Kilometern versorgen. Frauen mit Abweichungen von einem normalen Schwangerschaftsverlauf und der Prognose auf eine besondere beziehungsweise komplizierte Geburt werden an eine geeignete Entbindungsklinik überwiesen.
Die Hebammen sind so ausgebildet, dass sie Gefährdungen von Mutter oder Kind erkennen und behandeln können. Plötzlich auftretenden komplizierten Geburtsverläufen sind sie fachlich gewachsen. Jeweils eine Hebamme ist in Rufbereitschaft für die Geburt. Idealerweise ist auch eine Ärztin oder ein Arzt mit Erfahrung in der außerklinischen Geburtshilfe für die Geburten in Rufbereitschaft. Sie sind im Vorfeld über die anstehenden Geburten informiert. Die Finanzierung der ärztlichen Tätigkeit erfolgt auf der gleichen Basis wie die der Hebammen. Die Anfahrt der Ärztin oder des Arztes könnte 50 bis 80 Kilometer lang sein oder bis zu einer Stunde dauern. Sie oder er wird nur bei Abweichungen vom normalen Geburtsverlauf gerufen. Die Hebamme ist so hoch qualifiziert ausgebildet, dass sie eine Überbrückungszeit von einer Stunde bis zum Eintreffen ärztlicher Hilfe fachkompetent betreuen kann.
Sie ist auch für die Frauen abrufbar, die eine Geburt im weiter entfernten Krankenhaus geplant und zu Hause abgewartet hatten, mit Einsetzen der Wehen jedoch aus verschiedensten Gründen nicht mehr in der Lage sind, diese Klinik rechtzeitig zu erreichen. Durch die Betreuung in der Schwangerschaft sind auch diese Frauen für die Hebamme keine Unbekannten. Für eine außerklinische Geburt ist dies für die Hebamme eine wichtige Voraussetzung, um gute Arbeit leisten zu können.
Die geburtshilfliche Grundversorgung nach diesem oder einem ähnlichen Ansatz durch Hebammen würde dem sozialen und soziologischen Aspekt von Geburt Rechnung tragen. Die Frauen und die Hebammen teilen in diesem Modell eine gemeinsame Lebenswelt. Dies fördert das gegenseitige Verständnis und Vertrauen. Die Frauen mit einem normalen Schwangerschaftsverlauf und einer guten Prognose für die Geburt müssen zum Gebären ihre Lebenswelt gar nicht oder nur auf Wunsch und dann nur sehr kurz verlassen. Das initiale Ereignis Geburt, das das soziale Gefüge der Frau und ihrer Familie verändert, findet innerhalb der Lebenswelt dieser Frau statt. Stress, der die Entstehung von lebenswichtiger Bindung zwischen dem Neugeborenen und seiner sozialen Gemeinschaft stört und verhindert, wird reduziert oder gar vermieden.
Als ehemalige Hausgeburtshebamme auf dem Land im Nordosten Deutschlands habe ich erlebt, wie eine Dorfgemeinschaft auflebte, wenn es nach 50 Jahren wieder eine Geburt im Ort gab. Es wäre interessant, was in einer Region, die von Abwanderung und Rückbau von Infrastruktur geprägt ist, geschehen würde, wenn die Geburten wieder in die Familien und Gemeinschaften verlagert würden. Damit könnten sicher die sozialen und soziologischen Aspekte von Geburt wieder mehr wahrgenommen und geschätzt werden. Frauen erhielten wieder mehr Schutz und Ermutigung für das lebenslang prägende Ereignis Schwangerschaft, Geburt und das Leben mit einem Kind.
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