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Seit dem Erscheinen der S3-Leitlinie »Vaginale Geburt am Termin« sollten sie in allen deutschen geburtshilflichen Einrichtungen ein Begriff sein: »Die 12 Schritte zur sicheren und respektvollen MutterBaby-Familien-Betreuung« der International Childbirth Initiative (ICI). Diese ethischen Handlungsgrundsätze sollen die Menschenrechte in der Geburtshilfe garantieren und eröffnen auch Chancen für die beteiligten Berufsgruppen.

Zwölf Schritte formulieren eine Anleitung, um die Geburtskultur positiv zu verändern. Sie sind ein Projekt der International Childbirth Initiative (ICI), gemeinsam erstellt vom internationalen Gynäkolog:innenverband (FIGO) und der International MotherBaby Childbirth Organization (IMBCO) unter Beteiligung der internationalen Hebammenkonförderation (ICM), der internationalen Kinderärzt:innenvereinigung (IPA) und der White Ribbon Alliance (WAR). Der etwas umständliche Titel »Die 12 Schritte zur sicheren und respektvollen MutterBaby-Familien Betreuung« ist programmatisch: »Sicher« steht an erster Stelle, zielt aber nicht nur auf eine physische, sondern auch auf eine psychisch sichere Geburtshilfe für Mutter und Baby. Die Initiative sieht diese Beziehung als so symbiotisch, dass die Begriffe verschmelzen und absichtlich zusammengeschrieben werden. Im ICI-Vokabular ist »MutterBaby« eine feststehende Vokabel.

Der Fokus wird um die Familie erweitert: Der Titel erkennt an, wie wichtig das engere Familiensystem für MutterBaby rund um die Geburt ist. Neben der Sicherheit geht es um die »respektvolle« Betreuung. Respektvolle Begleitung ist im internationalen Kontext ein feststehender Begriff: Er beschreibt eine geburtshilfliche Begleitung, die auf der Achtung der allgemeinen Menschenrechte basiert und die Berücksichtigung fundamentaler Rechte rund um die Geburt für notwendig und gesundheitsfördernd erachtet.

In den 12 Schritten werden beide Begriffe, Sicherheit und Respekt, nicht als Gegensätze betrachtet. Sie müssen nicht gegeneinander abgewogen werden, das eine geht nicht auf Kosten des anderen – im Gegenteil: Ohne respektvolle Begleitung kann es für MutterBaby keine Sicherheit geben und ohne Sicherheit werden MutterBaby-Menschenrechte unter der Geburt verletzt. Sicherheit und Respekt ergänzen sich in diesem Konzept notwendigerweise gegenseitig.

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Die 12 Schritte sind damit ein wertebasiertes Modell, das auf der Partnerschaft zwischen Gesundheitsfachpersonal und Systemnutzer:innen basiert. Neueste wissenschaftliche Evidenz, respektvolles Begleiten, kultursensibles Handeln mit dem Ziel der bestmöglichen Gesundheitsoutcomes gehen in diesem weltweit anwendbaren Konzept Hand in Hand.

12 Schritte in 17 Sprachen

Die 12 Schritte gibt es in einer übersichtlichen Kurzfassung auf einer DinA4-Seite. Jeder Schritt besteht aus einer leicht verständlichen Aufforderung, die sich an das gesamte geburtshilfliche Team oder manchmal an dessen übergeordnete Verwaltung richtet. Die knappen Sätze werden von einem kurzen, erläuternden Absatz begleitet. Die Schritte sind in dieser Kurzversion in offizieller deutscher Übersetzung erschienen und können auf der Internetseite der International Childbirth Initiative heruntergeladen werden > https://icichildbirth.org/initiative/. Neben der deutschen Fassung steht die Kurzversion dort in 16 Sprachen zum Ausdrucken bereit. Eine ausführlichere Langfassung von 27 Seiten gibt es derzeit in Englisch, Spanisch und Französisch. Die Langfassung erklärt den historischen Hintergrund des Konzeptes, die menschenrechtliche Einbettung und die Grundsätze der Initiative.

Vor allem bietet die Langfassung eine aufschlussreiche, jeweils circa halbseitige Ausführung jedes Schrittes, inklusive sogenannter Indikatoren. Das sind klare Maßnahmen, mit denen die Einhaltung des Schrittes überprüft werden können. Schritt 1 der Langfassung lautet beispielsweise:

Schritt 1 – Respekt, Würde und informierte Entscheidung

Jede Frau und jedes Neugeborene mit Respekt und Würde behandeln, die Frau und ihre Familie umfassend informieren und mit ihnen kommunizieren, wenn es darum geht, Entscheidungen über ihre Versorgung und die ihres Babys zu treffen, und zwar in einer kulturell sicheren und sensiblen Art und Weise, die ihr Recht auf informierte Zustimmung und Ablehnung sichert. Berücksichtigung eines auf Rechten basierenden Ansatzes, der die Ausgrenzung und Misshandlung von Randgruppen und sozioökonomisch Benachteiligten verhindert und den Schutz von HIV-positiven Frauen und Frauen, die einen perinatalen Verlust erlitten haben, einschließt. Körperliche, verbale oder emotionale Misshandlung von Frauen, ihren Neugeborenen und ihren Familien ist unter keinen Umständen erlaubt.

Indikatoren:

  1. Es sind Feedback-Mechanismen für Beschwerden vorgesehen (beispielsweise ein Beschwerdekasten).
  2. Ein Beschwerdeverfahren ist definiert und ist Müttern und ihren Familien zugänglich.
  3. Die Charta für eine respektvolle Mutterschaftsbetreuung »Respektvolle Geburtshilfe: Die universellen Rechte für Schwangere und gebärende Frauen« wird sichtbar ausgehängt (The White Ribbon Alliance 2011).
  4. Beobachter:innen vor Ort bezeugen respektvolle Behandlung.
  5. Fragebögen und/oder Interviews mit Frauen belegen die Erfüllung dieses Schritts (The International Childbirth Initiative ICI 2020). (Übersetzung durch die Autorin)

Das Konzept nimmt nicht nur die Rechte und das Wohlbefinden von MutterBaby in den Blick. Die Initiative denkt Geburtshilfe multidimensional: Schritt 11 spricht von Geburtshilfe im interdisziplinären Team und Schritt 12 geht auf das Stillen ein. Schritt 10 fordert eine nachhaltige Personalpolitik:

Schritt 10 – Eine Richtlinie zu nachhaltiger Personalpolitik

Für die Neueinstellung, aber auch zur Bindung des gesamten Personals und mit dem Ziel, dass das Personal sicher und geschützt ist und ermutigt und befähigt wird, in einem respektvollen und positiven Arbeitsumfeld qualitativ hochwertige Pflege zu leisten. Die Richtlinie beinhaltet ein Freistellungskonzept, das den Verbleib und die Kontinuität von engagiertem, erfahrenem und qualifiziertem Gesundheitsfachpersonal rund um die Geburt (Hebammen, Krankenschwestern) in allen Abteilungen und Einrichtungen, in denen Geburten stattfinden, sichert.

Indikatoren:

  1. Die Richtlinie ist auf Anfrage erhältlich und befasst sich mit Personalsicherheit, Personalsicherung sowie mit Regelungen zur Freistellung von Versetzungs- oder Rotationskonzepten, wenn diese in der jeweiligen Einrichtung üblich sind.
  2. Fragebögen oder Interviews mit dem Personal zeigen, dass es die Richtlinien kennt und bestätigen kann, dass sie die oben genannten Punkte berücksichtigt; das Personal kann auch Informationen zu den Bedingungen der Arbeitssicherheit und zu allgemeinen Fragen der Arbeitsumgebung geben (The International Childbirth Initiative ICI 2020/Übersetzung der Autorin).

Die Initiative gibt mit diesem Schritt der Überzeugung Ausdruck, dass gute Betreuung nur von einem Team geleistet werden kann, das beständig ist und sich am Arbeitsplatz gut aufgehoben fühlt. Auch ein Ausgleich für die unvermeidbar überfordernde Belastung zu Spitzenzeiten muss gegeben sein. Gutes Personal muss gepflegt werden und sich wohl fühlen, damit es dauerhaft anspruchsvolle Arbeit leisten kann. Wie solche Maßnahmen genau aussehen, ist den einzelnen Standorten überlassen. Denkbar sind Supervisionen, interdisziplinäre kollegiale Fallbesprechungen, psychologischer Dienst oder auch Sonderurlaub nach belastenden Ereignissen. In jedem Fall müssen die Bemühungen überprüfbar beim Personal ankommen.

Hilfe bei der Umsetzung

Das Team der ICI unterstützt weltweit interessierte Kliniken oder Geburtshäuser sowohl bei der Umsetzung als auch bei der begleitenden Evaluierung der 12 Schritte. Denn der positive, evidenzbasierte Ansatz des Konzeptes soll auch prospektiv belegbar sein. Die Umsetzung wird daher durch ein Monitoring und eine Evaluation der Praxis begleitet. Dabei geht es nicht um eine streng vorgegebene, unflexible Umsetzung des Konzeptes.

Michelle Skaer Therrien, die geschäftsführende Direktorin der ICI, erklärt die Voraussetzung für eine offizielle Teilnahme eher als eine Frage der inneren Haltung und Motivation: »ICI verlangt nicht, dass eine Einrichtung alle 12 Schritte innerhalb eines vorher festgelegten Zeitrahmens erreicht. Vielmehr soll sich das Team verpflichten, seine Qualität regelmäßig anhand der 12 Schritte zu besprechen, sich Verbesserungsziele zu setzen, offen für den Erfahrungsaustausch mit anderen Einrichtungen zu sein und regelmäßig Feedback von Frauen und Familien anzunehmen. Ebenso gibt es keinen festen Endpunkt für den Prozess, sondern das Ziel der ICI ist, dass eine Einrichtung eine Kultur der offenen Kommunikation, der ständigen Selbstreflexion und der Bereitschaft, als Team zu wachsen, institutionalisiert.« (Übersetzung der Autorin)

Grundsätzlich müssen sich teilnehmende Einrichtungen zu zwei konkreten Maßnahmen verpflichten. Die erste Maßnahme ist die Etablierung einer multidisziplinären Arbeitsgruppe, in der alle an der MutterBaby-Familien-Betreuung beteiligten Fachrichtungen vertreten sind. Je nach Einrichtung sind das unterschiedliche Berufsgruppen: Hebammen, Gynäkolog:innen, Anästhesist:innen, Kinderärzt:innen, aber auch eine Vertretung des Pflegepersonals auf der Station, die Pflegedienstleitung und weitere Beteiligte, beispielsweise psychologische oder soziale Dienste. Zudem benötigen die Eltern, an die sich die Betreuung ja richtet, genau wie die professionellen Fachvertreter:innen eine Stimme in der Arbeitsgruppe. Diese Gruppe sondiert die 12 Schritte und legt einen ersten Schwerpunkt fest. »Wir empfehlen, ein bis zwei Schritte zu wählen, obwohl manche Einrichtungen in ihrem ersten Aktionsplan auch drei Schritte wählen«, so Michelle Skaer Therrien. »Die meisten Teams stellen fest, dass es zumindest ein paar Schritte gibt, bei denen sie bereits mit ihrer Leistung zufrieden sind.«

Die zweite Maßnahme ist die Etablierung eines Feedbackinstrumentes. Dafür hat die ICI Fragebögen entwickelt, die von den Frauen und ihren Begleitungen ausgefüllt werden. Dieses elektronische Instrument stellt die ICI kostenlos zur Verfügung. »Anhand dieser Fragebögen«, erklärt Therrien, »bekommt die Arbeitsgruppe die Rückmeldungen einiger Patientinnen und Familien und kann damit die Arbeit des Teams und den Fortschritt bewerten.«

Bislang gibt es registrierte Einrichtungen in den USA, Kanada, Brasilien, der Türkei, Indonesien und den Philippinen und seit 2021 auch in Chile, Kolumbien, Indien, Papua-Neuguinea, Trinidad und Tobago, auf den Fiji Inseln und in der Mongolei. Einrichtungen in weiteren Ländern befinden sich im Bewerbungsprozess, unter anderem in Österreich, der Schweiz und weiteren europäischen Ländern. Die geschäftsführende Direktorin der ICI bestätigt Kontakte mit deutschen Einrichtungen und nimmt weitere Bewerbungen gerne über das Kontaktformular auf der Homepage entgegen > https://icichildbirth.org/join-the-initiative/.

Globale Sichtbarkeit

Die 12 Schritte sind das Resultat einer langen Reihe von Initiativen zur Verbesserung der Geburtskultur, die alle auf menschenrechtlichen und evidenzbasierten Ansätzen fußen. So gab es seit 2008 die »10 Schritte« der US-amerikanischen Initiative International MotherBaby Childbirth Organization (IMBCO). 2014 publizierte der internationale Gynäkolog:innenverband (Fédération Internationale de Gynécologie et d‘Obstétrique, kurz: FIGO) die Leitlinie »FIGO Guidelines: Mother-Baby Friendly Birthing Facilities«, also die Leitlinie für Mutter-Baby-freundliche Geburtseinrichtungen in Analogie zu der bekannteren »Babyfreundlich«-Initiative von WHO und UNICEF (BFHI) (FIGO 2015). Diese Mutter-Baby-freundlich Leitlinie entstand aus der Zusammenarbeit der Gynäkolog:innen mit der Weltgesundheitsorganisation (WHO), der internationalen Hebammenkonförderation (ICM), der internationalen Kinderärzt:innenvereinigung (IPA) und der White Ribbon Alliance (WRA), einer globalen Organisation mit langjährigen Erfahrung zur menschenrechtlichen Betreuung rund um Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett. So ist die White Ribbon Alliance bekannt durch die »Respectful Maternity Care Charta«, die seit 2019 auch die Rechte des Neugeborenen benennt (Global Respectful Maternity Care Council 2019).

Eine Analyse der »10 Schritte« und der »Mutter-Baby-freundlich-Leitlinie« ergab so viele Gemeinsamkeiten, dass seit 2018 zusammen unter dem Dach der International Childbirth Initiative (ICI) gearbeitet wurde. Die aus dieser neuen Initiative resultierenden »12 Schritte« wurden 2019 im International Journal of Gynecology and Obstetrics als »FIGO Statement« publiziert und somit in einem Fachjournal mit großer Reichweite international sichtbar gemacht (Lalonde et al. 2019).

Dieser interdisziplinäre, internationale Rückhalt und die globale Sichtbarkeit in einem anerkannten Fachjournal sind einzigartig. Inzwischen gehören der Initiative über 30 unterstützende Organisationen und rund 70 durchführende Partner weltweit an – und sie wächst weiter. Die Kraft dieses weithin sichtbaren, interdisziplinären, gemeinsamen Schulterschlusses für respektvolle Geburtshilfe, basierend auf dem Modell der hebammengeleiteten Geburtshilfe, gibt große Hoffnung für eine geburtshilfliche Kultur voller gegenseitigem Respekt und auf Augenhöhe.

Zitiervorlage
Hartmann, K. (2022). International Childbirth Initiative: 12 Schritte zum Besseren. Deutsche Hebammen Zeitschrift, 74 (3), 48–52.
Literatur
FIGO Guidelines: Mother-baby friendly birthing facilities, International Journal of Gynecology and Obstetrics 2015. 128: 95–99. doi: https://doi.org/10.1016/j.ijgo.2014.10.013

Global Respectful Maternity Care Council: Respectful Maternity Care Charter: Universal Rights of Women and Newborns. 2019. https://www.whiteribbonalliance.org/respectful-maternity-care-charter/

Lalonde et al.: Figo Statement: The International Childbirth Initiative: 12 steps to safe and respectful MotherBaby-Family maternity care. International Journal of Gynecology and Obstetrics 2019. 146: 65–73. doi: https://doi.org/10.1002/ ijgo.12844

The International Childbirth Initiative (ICI): 12 Steps to Safe and Respectful MotherBaby-Family Maternity Care. 2020. https://icichildbirth.org/wp-content/uploads/2021/04/ICI_International-Childbirth_2021.4.pdf

The White Ribbon Alliance: Respektvolle Geburt: Die universellen Rechte für Schwangere und Gebärende Frauen. 2011. dt. Übersetzung durch den Deutschen Hebammenverband. https://www.hebammenverband.de/index.php? eID=tx_securedownloads&p=2719&u=0&g=0&t=164543 5685&hash=8f905d23ebcbaeb977c57e6edf285e072727 df46&file=/fileadmin/user_upload/pdf/Stellungnahmen/International/HF-8–14-U__bersetzung_Repectful_Maternity_Care.pdf

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