Die Nanas der Künstlerin Niki de Saint Phalle sind Wahrzeichen von Hannover, wo die Geburtshilfetagung „Kontroversen und Kasuistiken“ stattfand. Foto: © imago/imagebroker

Auch die zweite geburtshilfliche Tagung mit dem besonderen Konzept aus „Kontroversen und Kasuistiken“ bot eine geballte Ladung fachlicher Anregungen: Pro- und Contra-Stimmen diskutierten unterschiedliche Standpunkte zu geburtshilflichen Vorgehensweisen und spannende Fälle wurden vorgestellt.

Die Tagung unter der Schirmherrschaft der Deutschen Gesellschaft für Pränatal- und Geburtsmedizin (DGPGM) begann mit einer Entschuldigung zur Begrüßung: Leider habe man im diesjährigen Programm die Hebammen als Referentinnen versehentlich vergessen.

Zum Thema „Geburtshilfe mal anders – Kontroversen und Kasuistiken” hätte deren Sicht sicher Inspiration und Diskussionsstoff geboten und möglicherweise dem gegenseitigen fachlichen Verständnis und der Zusammenarbeit beider Berufsgruppen gut getan. Bis auf diesen bemerkenswerten Wermutstropfen waren es dennoch zwei Tage voll mit fachlichem Input.

Die Tagung fand am 2. und 3. März im traditionsreichen Friederikenstift in Hannover statt: Ursprünglich eine eigenständige diakonische Einrichtung seit der Gründung im Jahr 1841, ist es seit Anfang 2016 Teil des neuen diakonischen Konzerns Diakovere gGmbH.

Zu den „etwas anderen” Fortbildungstagen hatte nach dem erfolgreichen Auftakt im vergangenen Jahr erneut Prof. Dr. Ralf L. Schild, Chefarzt der beiden hannoverschen Frauenkliniken des Henriettenstifts und des Friederikenstifts von Diakovere, eingeladen, gemeinsam mit Prof. Dr. Werner Rath, dem langjährigen ehemaligen Klinikdirektor der Universitätsfrauenklinik Aachen. Die beide Geburtshelfer führten abwechselnd durch die Veranstaltung, zu der an die 180 TeilnehmerInnen vor allem aus dem klinischen Bereich gekommen waren – unter ihnen nur etwa 40 Hebammen.

Wandel der Pränataldiagnostik?

„Kann die nicht-invasive Pränataldiagnostik das Ersttrimesterscreening ersetzen?” Ja, fand Dr. Poupak Javaher, Fachärztin für Humangenetik aus Hannover. Nicht-invasive pränatale Diagnostik (NIPD) sind Verfahren, bei denen durch Bluttests mögliche Abweichungen der Chromosomen des ungeborenen Kindes im mütterlichen Blut nachgewiesen werden können. Dazu zählen der Harmony-Test (299 Euro), der PraenaTest (349 Euro) oder der Prenatalis-Test (554 Euro). Sie trügen dem „persönlichen Sicherheitsbedürfnis” von Müttern Rechnung. Seit 2012 habe ein Paradigmenwechsel in der Pränataldiagnostik stattgefunden. Ein Konsensus-Papier aus Empfehlungen der Fachgesellschaften der drei Länder Deutschland, Österreich und der Schweiz habe im Oktober 2015 das primäre Screening zur Analyse der zellfreien kindlichen DNA-Bruchstücke im mütterlichen Blut für die fetale Trisomie 21 bei Schwangerschaften jeden Alters und jeder Risikogruppe empfohlen. Bei der dazu gehörigen komplexen Beratung nach dem Gendiagnostikgesetz sah die Humangenetikerin potenzielle Schwachpunkte, ob hier die geforderte Qualität immer eingehalten würde.

Ein Bild zum Abschluss des Vortrags machte nachdenklich. Drei Jugendliche – aus einer „sehr netten syrischen Familie”, wie betont wurde – waren dort mit ihren erblich bedingten Skelettanomalien zu sehen. Eine vierte Schwangerschaft ihrer Mutter sollte humangenetisch vorbereitet werden. Trotz der medizinischen Auffälligkeiten wirkten die exponierten, sparsam bekleideten Jungen im Untersuchungszimmer fröhlich und munter. Die bescheidene fotografische Qualität des spontanen Schnappschusses ließ die skurrile Situation erahnen, wie medizinisches Anschauungsmaterial wohl meist entsteht, das traditionell das Bild der MedizinerInnen von Erkrankungen und Abweichungen vom „normalen” Bild des Menschen aus Lehrbüchern prägt – und möglicherweise auch ihre Ängste. Warum wird hier nicht ebenso professionell am Bildmaterial gearbeitet wie an medizinischen Fragen? Nebenbei: Die drei Jungen wären möglicherweise nicht unter uns, wäre das Blut der Mutter in ihrem vorgeburtlichen Dasein getestet worden.

„Nein”, vertrat dagegen Prof. Dr. Schild seinen Standpunkt, die nicht-invasive Pränataldiagnostik könne keine Aussagen über konkrete Anomalien des Feten treffen, dazu bedürfe es des qualifizierten Ultraschalls. Er empfahl die Zusammenarbeit von Pränatalmedizin und Humangenetik. Einen auffälligen Befund bei NIPD sehe er nicht automatisch als Grund für einen Schwangerschaftsabbruch. Immerhin seien 0,1 Prozent der Tests falsch positiv. Ein Problem bei der Diagnostik seien auch Mehrlinge oder eine Mosaikbildung des Plazentagewebes.

Ob ein Abbruch nur aufgrund von NIPD und Ultraschall möglich sein solle, wird aus dem Publikum in der anschließenden Diskussion gefragt. Zuvor wurde ein Fallbeispiel geschildert, in dem bei einem Ungeborenen durch den Test eine Trisomie 21, im Ultraschall jedoch keinerlei Fehlbildungen oder Auffälligkeiten diagnostiziert worden waren. Die Mutter hatte die Schwangerschaft nicht fortsetzen wollen – der Arzt, Dr. Sven Seeger, Chefarzt aus Halle, hatte einen Konflikt zu den Drei-Länder-Empfehlungen gesehen, wonach ein auffälliger Testbefund immer durch einen invasiven Eingriff wie Chorionzottenbiopsie oder Amniozentese abgeklärt werden müsse. Mit Blick auf die Gesetzeslage entgegnete Schild: „Wir können die Frauen ja nicht zwingen, wenn die Belastungen zu groß sind.”

Fetale Mikroblutanalyse?

„Pathologisches CTG: Fetale Mikroblutanalyse – ja oder nein?” folgte als nächstes. Für „Ja” plädierte uneingeschränkt Prof. Dr. Maritta Kühnert, Leitende Oberärztin der Geburtshilfe des Universitätsklinikums Marburg: Durch frühzeitiges Erkennen von Störungen der Sauerstoffversorgung des Feten mittels Mikroblutuntersuchung (MBU), könne durch gezielte Geburtsbeendigung Schaden vom Kind abgewendet werden. Die Hälfte der Kaiserschnitte mache man ohne Grund, weil ein pathologisches CTG fehlinterpretiert worden sei. Bei einer Bradykardie des Ungeborenen unter 110 Schlägen pro Minute länger als drei Minuten, würde in ihrem Haus sofort eine MBU durchgeführt, ebenso nach sechs tiefen frühen Dezelerationen über 60 und auch bei variablen und späten Dezelerationen. Eine Tachykardie über 160 Schläge pro Minute sei dagegen keine Indikation, ebenso wenig wie grünes Fruchtwasser bei unauffälligem CTG und auch keine, wenn ein Notkaiserschnitt eindeutig indiziert ist.

Für „Nein” stand Prof. Dr. Klaus Vetter aus Berlin, der den invasiven Eingriff bis auf wenige gezielte Einzelfälle nicht für sinnvoll hält. In seinem spannenden Vortrag holte Vetter weit aus zu einem Rückblick in die Entwicklungsgeschichte der MBU, die er in seinem Berufsleben von Anfang an miterlebt hat. Als Nachfolger des Geburtsmediziners Prof. Dr. Erich Saling, dem Erfinder der MBU und zahlreicher weiterer Entwicklungen, die heute aus der Geburtshilfe verschwunden sind, war Vetter von 1991 bis 2012 Chefarzt der Klinik für Geburtsmedizin am Vivantes Klinikum Neukölln gewesen. Diese Klinik hatte im Zentrum technischer und geburtsmedizinischer Innovationen gestanden. Wer, wenn nicht er, hätte die MBU mit kritischem Blick entzaubern können?

Die biologischen Werte, die der MBU zugrunde gelegt würden, seien nie systematisch erhoben worden, problematisierte Vetter den unkritischen Einsatz. Damals hätten alle versucht, Normwerte zu erzeugen – idealisierte Werte, auch mit Rechenfehlern, die nie hinterfragt worden seien. „Trotzdem hat die MBU funktioniert für die Kliniker”, gab er zu – sie hätten daran geglaubt. Er selbst habe allerdings auch noch Zeiten erlebt, wo ein Chefarzt bei einem auffälligen CTG gesagt habe: „Stellen Sie es ab, früher haben wir das auch nicht gesehen.”

Die folgende lebendige Diskussion zeigte, dass die Mehrzahl der TeilnehmerInnen auf die MBU setzt. „Wie muss man die Mutter aufklären?”, war eine Frage, gerade im Hinblick auf die Körperverletzung des Kindes. „Ein Muss”, empfahl Prof. Rath, der zugab, auch ihm sei die MBU „immer unsympathisch” gewesen. Die kommerziellen Sets, die heute gebräuchlich seien, hätten die Blutentnahme erleichtert.

Eine Chefärztin aus dem Publikum: „Wenn man es gut begründet, ist keine Frau dagegen.” Rath gab zu bedenken, dass die Empfehlungen zur MBU allenfalls eminenz-, nicht evidenzbasiert seien. „Es fehlt an wissenschaftlicher Forschung zu Indikationen und Wirksamkeit”, unterstützte ihn Vetter. Prof. Dr. Axel Feige, ehemaliger Chefarzt aus Nürnberg, relativierte die Gefahren unbeabsichtigter ernster Verletzungen des Kindes: „Wer hat diese Komplikationen gesehen? Ich nicht.”

Als ein Einwand aus dem Publikum kommt, die deutsche Rechtsprechung mache heute den Einsatz der MBU erforderlich, erwiderte Vetter: „Die Rechtsprechung sind nicht die zehn Gebote!” Er erinnerte an den renommierten, 2008 verstorbenen Geburtshelfer Prof. Dr. Fritz Beller, der am Ende seines Berufslebens große Fehler in seiner Gutachterlaufbahn eingeräumt hatte – nachdem er seine Sichtweise zu den vermeintlichen Geburtsschäden durch Sauerstoffmangel geändert hatte. „Einen Zwang zur MBU gibt es nicht, bekräftigte Vetter: „Wir sind die Gutachter!”

Dr. Babett Ramsauer, Leitende Oberärztin des Vivantes Klinikums Berlin, kommentierte eine Empfehlung aus dem Publikum, die MBU sei wertvoll für unerfahrene AssistentInnen: „Bei uns hören sie bald damit auf, weil sie lernen, die CTGs und die Geburtsverläufe besser zu beurteilen.” Vetter pflichtete ihr bei: „Hammacher, der Erfinder des CTGs, lebte in dem System und wusste immer, was mit dem Kind passiert. Da wo man wirklich schwimmt, kann man die MBU anwenden. Wir sollten die jungen Leute nicht allein lassen, damit sie die Beurteilung der CTGs lernen und nicht so viele Kinder verletzen.”

Einmal Sectio – immer Sectio?

Zur „Geburtsleitung nach vorangegangener Sectio” stellten Prof. Dr. Peter Husslein, Chefarzt der Universitätsklinik für Frauenheilkunde aus Wien, und Prof. Dr. Birgit Seelbach-Göbel, Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe und Chefärztin an der Universität Regensburg, ihre unterschiedlichen Standpunkte vor. Der „Sectio-Papst” sprach sich erwartungsgemäß für die Resectio aus, Seelbach-Göbel für Abwarten und gegebenenfalls Einleiten.

Weiteren Diskussionsstoff boten Themen wie biochemische Tests bei drohender Frühgeburt und bei Präeklampsie, die sonografische Beurteilung der Sectionarbe, die Methoden der Geburtseinleitung – nur Prostaglandine/Misoprostol versus mechanische Methoden wie Ballon beziehungsweise beides – oder Zeitpunkt und Häufigkeit der Lungenreifeinduktion.

Lebererkrankung bei Schwangeren

Die Fallbeispiele, die am zweiten Tag vorgestellt und diskutiert wurden, hatten es in sich. Einen Fall mit „akuter Lebererkrankung in der Schwangerschaft”, bei dem ein Ungeborenes in der 37. Schwangerschaftswoche scheinbar überraschend gestorben war, präsentierte PD Dr. Holger Maul, Chefarzt des Hamburger Marienkrankenhauses. Eine Schwangere hatte sich am Tag vor Heiligabend vorgestellt mit Juckreiz am ganzen Körper und Kratzspuren an den Armen und am Bauch. Nach einem „durchgehend normalen CTG” und auffälligen, aber scheinbar undramatischen Laborwerten sei die Frau mit Verdacht auf intrahepatische Cholestase, einem Gallenstau in der Leber, stationär zur Beobachtung aufgenommen worden mit täglichen Laboruntersuchungen und Kontroll-CTGs. Sechs Tage später sei das Kind plötzlich gestorben. Erst im Nachhinein seien die Zusammenhänge verstanden worden. Ein zentrales Problem sei dabei die Ermittlung von Laborbefunden über die Feiertage gewesen. Die Untersuchung der Gallensäuren hätte nicht im hauseigenen Labor erledigt werden können, sondern extern durchgeführt werden müssen. Erst am 3. Januar sei der Befund der Proben vom 23. Dezember auf Nachfrage zugegangen und bot die fatale Erklärung für den plötzlichen Tod des Kindes: Die dramatische Veränderung der Gallensäurewerte wurde viel zu spät erkannt.

Maul erläuterte detailliert die physiologischen Veränderungen der Leber in der Schwangerschaft und worauf bei einer Erkrankung zu achten ist. „Der intrauterine Fruchttod wäre durch frühzeitige Einleitung zu verhindern gewesen. Der Fall spiegelt alle Probleme wider, die wir mit der Diagnostik und der Entscheidungsfindung haben”, schloss Maul selbstkritisch. Unterdessen würden im hauseigenen Labor auch solche weniger häufigen Untersuchungen durchgeführt und seien damit kurzfristig verfügbar.

Außergewöhnliche Fälle

Zum „Krampfanfall unter der Geburt” stellte Prof. Dr. Rath ein Fallbeispiel vor. Eine „Lebensbedrohliche postpartale Blutung” erläuterte Prof. Dr. Markus Schmidt aus Duisburg. Die Psychiaterin Dr. Valenka Dorsch aus Bonn sprach über schwere psychische Störungen nach der Geburt, Dr. Christine Morfeld aus Hannover über einen Fall von „Coma diabeticum”. „Schwere Geburtskomplikation: Der juristische Fall” thematisierte Prof. Dr. Axel Feige aus Nürnberg, „Geburtsstillstand im Beckeneingang” Dr. Sven Seeger aus Halle an der Saale und einen Fall von „Peripartaler Herzerkrankung der Mutter” schilderte Dr. Klaus Altmann aus Hannover.

Die eigene Praxis überprüfen

Nach dem Hochstart im vergangenen Jahr war auch die diesjährige Tagung wieder eine spannende Gelegenheit, die eigene Praxis gedanklich durchzulüften und sich von dem einen oder anderen alten Zopf zu trennen oder die Gepflogenheiten von Kliniken in der Zusammenarbeit besser zu verstehen. Interessant zu erleben, dass es durchaus mehrere „Wahrheiten” gab, die renommierte geburtshilfliche ExpertInnen respektvoll nebeneinander stehen lassen konnten – bei aller leidenschaftlichen Diskussion. Wenn bei der nächsten Tagung in Hannover am 1. und 2. März 2018 nicht nur Beispiele aus der Geburtsmedizin, sondern auch aus der Hebammengeburtshilfe vorgestellt würden, dürfte das den Blick auf die physiologisch(er)e Geburt lenken. Von diesem Fokus dürften dann auch MedizinerInnen profitieren.

Zitiervorlage
Baumgarten K: Geburtshilfetagung “Kontroversen und Kasuistiken”: Zur Diskussion gestellt. DEUTSCHE HEBAMMEN ZEITSCHRIFT 2017. 69 (5): 72–74
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